In den Niederlanden hat ein Gericht erstmalig ausdrücklich befunden, dass auch Privatunternehmen zum Klimaschutz verpflichtet sind. Kontext und Analyse eines durchwachsenen, aber hochinteressanten Urteils.
„Ein historischer Wendepunkt“, zitiert der Guardian Roger Cox, den Anwalt von Milieudefensie, der niederländischen Friends-of-the-Earth-Gruppe (in Luxemburg: Mouvement écologique). Am 26. Mai hat ein Gericht in Den Haag zugunsten der Umweltaktivist*innen und gegen die Firma Shell entschieden. Es ist in der Tat erstmalig, dass ein Gericht einen Ölkonzern zum Einhalten eines zwischenstaatlichen Klimaabkommens verpflichtet und ihm auch noch vorschreibt, bis 2030 seine globalen CO2-Emissionen um 45 Prozent zu senken. Unter juristischen Gesichtspunkten hat das Gericht ohne Zweifel Geschichte geschrieben.
Was das Urteil konkret für den Klimaschutz bringt, steht auf einem anderen Blatt. Shell hat angekündigt, in Appell zu gehen – eine Annullierung des Urteils ist nicht auszuschließen, eine Verzögerung seiner Anwendung von bis zu zwei Jahren wäre sicher. Cox geht davon aus, dass die Argumentation des Gerichts sich auf andere Unternehmen mit hohem CO2-Ausstoß übertragen lässt. Immerhin ist es das erste Mal, dass eine so große Privatfirma aufgrund eines Klimaabkommens verurteilt wird, das zwischen Staaten abgeschlossen wurde. Ob diese Jurisprudenz tatsächlich weltweit übernommen wird, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Bisher sind die Ergebnisse von Klimaklagen von Land zu Land und von Prozess zu Prozess sehr unterschiedlich (online-woxx: Les droits de la génération climat).
Reichtum verpflichtet … zum Klimaschutz
Allerdings ist die Verurteilung von Shell insofern als Musterfall geeignet, weil der Konzern zwar als einer der größten, aber keineswegs verbohrtesten Umweltverschmutzer gilt. Der Economist hebt hervor, dass er schon vor dem Urteil, im Unterschied zum Beispiel zu ExxonMobil, ein recht umfassendes CO2-Reduktionsprogramm beschlossen hatte. Juristisch ist ExxonMobil bisher in den USA dennoch weitgehend ungeschoren davongekommen, wurde aber von den eigenen Aktionär*innen am Tag des Shell-Urteils gezwungen, mehrere klimabewusste Mitglieder*innen in seinen Verwaltungsrat aufnehmen (demnächst auf online-woxx).
Ob der Versuch, die Erderwärmung per Gerichtsurteil „verbieten zu lassen“ wirklich ein Königsweg für die Klimabewegung ist, darüber lässt sich streiten. Die woxx hat bereits die Grenzen der Methode (woxx 1620: Staat und Klimawandel: Schuldig!) sowie die grundsätzliche Frage der Systemkonformität (woxx 1635: Faut que ça change !) kommentiert. Das niederländische Urteil ist bemerkenswert, folgt es doch dem Prinzip, dass Reichtum – in diesem Fall die ökonomische Macht des Shell-Konzerns – zu verantwortlichem Handeln verpflichtet. Keine neue Idee: Auch die katholische Soziallehre setzt auf einen solchen Bewusstseinswandel. So sollen die Reichen zwar die Macht behalten, sich aber „besser benehmen“ – was es ermöglicht, politische Ideen wie „Revolution“ und „Emanzipation“ für überflüssig zu erklären.
Esso-Revisionsurteil: 100.000 Euro für Greenpeace?
Langjährige Klimaaktivist*innen werden sich über einen Aspekt des Urteils freuen: Das Gericht hat berücksichtigt, dass Shell über einen langen Zeitraum um die Klimagefahren wusste und wenig dagegen unternahm. Das erinnert unweigerlich an das Luxemburger Esso-Urteil: 2002 hatte Greenpeace weltweit die Tankstellen des ExxonMobil-Konzerns blockiert, war daraufhin zu Schadenersatz verklagt worden. 2010 hatte ExxonMobil in letzter Instanz gewonnen – kein Wunder bei einer Justiz, die im Verdacht stand und steht, Establishment-hörig zu sein.
Wie viele Klimaaktivist*innen hatte auch die woxx seinerzeit argumentiert, die Greenpeace-Aktion sei trotz des geschäftlichen Schadens zulässig, weil sie einem höheren Interesse diene: die öffentliche Meinung und die Entscheider*innen auf die Dringlichkeit der Klimaproblematik aufmerksam zu machen (woxx 675: Abus de liberté). Denkt man die Logik der niederländischen Urteilsbegründung zu Ende, dann kann Greenpeace Luxemburg demnächst eine Revision des Esso-Urteils beantragen und die bezahlte Entschädigung von 100.000 Euro zurückfordern.