Im Gedichtband „wie viele faden tief“ offenbart die Lyrikerin Ulrike Bail die Poesie der Nähkunst. Ein kleines Buch, in dem Großes steckt.
„Leben und schreiben – das geht irgendwie automatisch“, sagte die Lyrikerin Ulrike Bail letztes Jahr in einer Reportage des Saarländischen Rundfunks (SR) zu ihrer Neuerscheinung „wie viele faden tief“. Ihr Satz ließe sich ergänzen: Leben und schreiben und nähen – das geht irgendwie automatisch. Vielleicht nicht in der Praxis, dafür aber zwischen Buchdeckeln: Im Gedichtband „wie viele faden tief“, 2020 im Conte Verlag erschienen, legt Bail die Poesie der Nähkunst offen.
In der SR-Reportage verrät die Autorin: „Was mich fasziniert an der Sprache des Nähens ist, dass sie unglaublich poetisch ist.“ Im dem mal rhythmischen, mal unregelmäßigen Takt einer Nähmaschine reiht Bail Verse aneinander, die sich einem nicht immer nach der ersten Lektüre erschließen. Umso konkreter und schmerzhafter sind ihre Gedichte, die sich auf Momente der Gewalt und auf Politik beziehen. Bail verweist in „Nähmaschinen“ auf Oradour-sur-Glane, eine Gemeinde nordöstlich von Bordeaux. Der Ort wurde während des Zweiten Weltkriegs von der Waffen-SS dem Erdboden gleich gemacht. Bail erzählt in der SR-Reportage von ihrem Besuch in Oradour-sur-Glane, erinnert sich an die alten Nähmaschinen, die auf den Ruinen verrosten. Eine Beobachtung, die Bail berührte und ihr als Inspiration für den Gedichtband diente. Doch auch in „Saum“ verschmelzen Politik und Poesie hinter den Zeilen, wenn es heißt: „auf schmugglerpfaden hoch im gebirge/säumt mein schneckentier den pass/heimatländer zu beiden seiten“.
Bail versteht es, mit wenigen Versen Zeichen zu setzen, ohne Missstände explizit zu benennen. Das handhabt sie nicht nur in „wie viele faden tief“ so. Im Gespräch mit der woxx sagte sie im Dezember 2020: „Es müssen keine großen Worte sein, damit ein Text Stellung bezieht. Eines meiner Gedichte thematisiert die Bushaltestelle Place de l’Europe und mit wenigen Andeutungen die Asylpolitik Europas. So wird ein kleines Gedicht hochpolitisch.“ Sie ergänzt in der SR-Reportage: „Nur ein plakatives, politisches Gedicht wäre genauso wenig in meinem Sinne, wie wenn ich nur von meinen Gefühlen erzählen würde.“
Ihr Hang zur Vielschichtigkeit beschränkt sich in „wie viele Faden tief“ aber nicht auf die Inhalte ihrer Gedichte. Das Gesamtwerk und das Konzept verleiten dazu, Begriffe nachzuschlagen, zurückzublättern, sich Verse laut vorzulesen und das Gedichtband am Ende nochmal mit neuen Randinformationen durchzugehen. Einige der Titel verweisen auf Stichmuster – wie der Heftstich oder der Muschelkantenstich – , andere Überschriften auf Nähzubehör. Am Ende des Bandes sind Bilder von Collagen abgedruckt, die Bail während der Arbeit an den Gedichten erstellt hat. Sie tragen die Namen der Gedichte, auf die sie sich beziehen. Die visuelle Aufarbeitung der Sprache ermöglicht weitere Lesarten. Damit gibt es auf Bails 102 Seiten mehr zu entdecken als in manchen tausend Seiten langen Schmökern.
„wie viele faden tief“, Conte Verlag:2020.