Wahlen in den Niederlanden
: Macht der Gewohnheit


Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 22. November in den Niederlanden drängen neue Akteure an die Macht und setzen auch auf sozialpolitische Themen. Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass der politische Status Quo nur schwer zu brechen sein wird.

Zwei der Hauptkonkurrenten an den Wahlurnen: Frans Timmermans (links) und Pieter Omtzigt (rechts) auf einer Wahlkampfveranstaltung in Arnhem. 
Der ehemalige EU-Kommissar Timmermans tritt als Kandidat für ein Wahlbündnis aus Arbeiterpartei (PvdA) und GroenLinks (GL) an; Omtzigt für 
die neu gegründete Partei 
Nieuw Sociaal Contract (NSC). (Foto: EPA-EFE/ROBIN UTRECHT)

Lange Zeit wurden die Niederlande in den angrenzenden Ländern als ein fröhliches, harmonisches Paradies betrachtet. Dann jedoch tauchten Risse auf in diesem Bild: Zornige Protestparteien eroberten die politische Bühne des kleinen Landes, ihre Ideen spalteten die Bevölkerung, bisweilen nahmen die Konflikte so harsche Züge an, dass man in den umliegenden Ländern schon einen Umsturz zu fürchten begann.

Standen Parlamentswahlen an, geschah jedoch regelmäßig etwas merkwürdiges: Am Ende lag die gleiche Partei vorne, die schon die vorherigen Wahlen gewonnen hatte, und die vorletzte und diejenige davor. Eine neue Regierung ließ sich vom König vereidigen, und einmal mehr stand an deren Spitze die VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie).

Dieses Muster wiederholt sich in der niederländischen Politik seit inzwischen 20 Jahren. In regelmäßigen Abständen treten neue Akteure auf, die das politische Establishment herausfordern, sich absetzen wollen von „Den Haag“. Ihr Zuspruch wächst, getragen vom Momentum der jeweiligen Proteststimmung, so schnell an, dass es scheint, als könnten sie die gefestigte Ordnung tatsächlich über den Haufen werfen. Dann jedoch verliert sich die anfängliche Dynamik in internen Querelen wie bei der rechtspopulistischen „Lijst Pim Fortuyn“, man übertreibt es beim Versuch, Politik auf Kosten gesellschaftlicher Minderheiten zu machen (wie die Partij voor de Vrijheid, PVV) oder auch beides (Forum voor Democratie, FVD). Am Ende konsolidiert sich die Dominanz der marktliberalen VVD, die seit 2010 regiert.

Nicht anders stellt sich die Lage vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 22. November dar. Die Rolle des zornigen Herausforderers spielt dieses Mal eine konservativ-soziale Partei namens „Nieuw Sociaal Contract“ (NSC), die erst Mitte August gegründet wurde. Streitig machen könne ihr den Wahlsieg laut Umfragen nur die VVD, die demnach wie die NSC zwischen 25 und 29 der insgesamt 150 Sitze erlangen wird, sowie ein weiterer „neuer“ Akteur, der zwischen 22 und 26 Sitze bekommen könnte: Die sozialdemokratische „Partij van de Arbeid“ (PvdA) und „GroenLinks“ (GL) treten erstmals gemeinsam auf einer Liste an.

Bis zu ihrer jetzigen Zusammenarbeit, die durchaus in eine Fusion münden könnte, hatte keine der beiden Oppositionsparteien Aussicht auf einen Wahlsieg. Dass diese nun besteht, liegt auch an der Euphorie, die in weiten Teilen der roten wie der grünen Basis herrscht. Die gemeinsame Liste repräsentiert bei diesen Wahlen offenbar das progressive Lager – so wie die linksliberalen „Democraten66“ (D66) dies bei den Wahlen 2021, GL im Jahr 2017 und die PvdA im Jahr 2012 taten.

Unangefochtener Spitzenkandidat des Bündnisses ist der ehemalige EU-Kommissar für Klimaschutz, Frans Timmermans. Das liegt nicht etwa daran, dass sein politisches Kaliber mögliche Mitbewerber abgeschreckt hätte. Vielmehr verkörpert er geradezu den seit Jahren diskutierten Schritt einer gemeinsamen linksliberalen Liste: Die klassische Sozialdemokratie hat er in der südniederländischen Bergbauregion Limburg in sich aufgesogen, wo sein Großvater unter Tage arbeitete. Später wurde er Diplomat und Außenminister und ging nach Brüssel, wo er als „Mr. Green Deal“ oberster Klimaschützer der EU wurde. Kein anderer Sozialdemokrat in den Niederlanden kann so glaubwürdig grüne Programmpunkte vertreten.

Als Timmermans sich Ende August in Den Haag als Kandidat präsentierte, spielte er diese durch ihn repräsentierte Synthese auch aus. Er beschwor Umverteilung, versprach eine aktive Sozialpolitik zugunsten jener, die trotz Arbeit unterhalb der Armutsgrenze leben oder nur prekär beschäftigt sind, und zugleich eine sozial gerechte Klimapolitik. Dabei wusste er, dass ihm in den Niederlanden wie schon in Brüssel der Unmut jener populistischen Rechten entgegenschlagen wird, für die Klimaschutz Schikane ist, um den vermeintlichen „normalen“ Bürgern Verbote aufzuzwingen.

Aller Euphorie zum Trotz ist kaum davon auszugehen, dass PvdA-GL weit über die derzeitigen Prognosen hinaus wachsen wird. Das linke Spektrum ist nun einmal eingeschränkt in einer Gesellschaft, in der seit 20 Jahren rechtes Denken und Wahlverhalten dominieren. Den entsprechenden Gruppierungen und ihren Medien gilt Timmermans als Hassfigur, auch wegen seiner EU-Karriere. Das macht einen Zustrom von Wechselwählern nach Links unwahrscheinlich. Im Übrigen ist die Auswahl an progressiven Koalitionspartnern stark eingeschränkt, was die rot-grünen Regierungs-Perspektiven stark limitiert.

Der konservative und von der katholischen Soziallehre geprägte NSC ist auch für Wähler anderer Parteien von Rechtspopulisten bis hin zu Sozialdemokraten eine Option.

Gänzlich anders sind da die Bedingungen des „Nieuw Sociaal Contract“, der in den Prognosen konstant leicht vor der linken Verbindung liegt. Der Aufstieg des NSC ist selbst in den Niederlanden mit ihrer Geschichte schnell aufsteigender Protestbewegungen einzigartig: Eben erst gegründet, setzte sich die Partei in der zweiten August-Hälfte direkt an die Spitze der Umfragen. Das liegt gänzlich an Pieter Omtzigt, Galionsfigur und Gründer der Partei. Auf diesen Schritt des einstigen christdemokratischen Dissidenten hatten viele Unzufriedene lange gehofft. Seit er die Partei ins Leben rief, umgibt ihn eine beinahe messianische Aura.

Der 49-Jährige gilt in vielerlei Hinsicht als Gegenentwurf zum scheidenden VVD-Premierminister Mark Rutte. Ihm wird die Aura eines glatten Manager-Typen bescheinigt. Weil er mehrere Politskandale überlebt hat, wird er auch „Teflon-Mark“ genannt. Im Kontrast hierzu betrachten viele Omtzigt als integren, stets engagierten Menschen und geborenen Volksvertreter, der nicht etwa die Macht, sondern deren Kontrolle personifiziert.

Während Rutte für viele Niederländer also die Skandale seiner Regierungszeit symbolisiert, die für das schwindende Vertrauen in Politik und Parteien verantwortlich sind, scheint Omtzigt eine glaubhaftere Version eines Politikers darzustellen. Einer, der beispielsweise den Tausenden Opfern des „Kinderzuschlag-Skandals“ beisteht, die, vom Finanzamt fälschlicherweise des Sozialbetrugs bezichtigt, mit horrenden Rückzahlungen in den Ruin getrieben wurden.

Omtzigt gilt dabei nicht nur als Herausforderer, sondern auch selbst als Opfer dieses Systems, auch wenn er seit fast 20 Jahren im Parlament sitzt. Innerhalb seiner früheren Partei „Christen-Democratisch Appèl“ (CDA) wurde er gemobbt und auf dubiose Weise um den Status des Spitzenkandidaten für die Wahlen 2021 gebracht. Als diese vorbei waren, wollte die sich neu formierende Koalition den Kritiker aus den eigenen Reihen fortloben.

Verschiedene aus Gesprächsaufzeichnungen geleakte Zitate sind hierbei längst zu geflügelten Worten geworden – wie etwa „zum Minister machen“ oder „Posten anderswo“. Für Ruttes Glaubwürdigkeit waren sie fatal, während sie das Bild des unbestechlichen Volksvertreters Omtzigt aus der Provinzstadt Enschede festigten, dem in Den Haag übel mitgespielt wurde.

Mit der Gründung des NSC erreichte Omtzigt den bisherigen Höchststand seiner Popularität, wobei das Wahlprogramm der Partei noch wochenlang auf sich warten ließ. Im Zentrum stehen gute Regierungsführung, Migrationsbegrenzung und „Existenzsicherheit“. Diese umfasst unter anderem garantierten Zugang zu geeignetem Wohnraum und zu gesunder Nahrung. Vermeintlich biedere Themen für einen derart spektakulären politischen Senkrechtstart; doch gerade das zeigt, wie mehrere Jahrzehnte eines knallharten Neoliberalismus viele Niederländer für eine andere Politik empfänglich machen.

Dass der NSC diese Themen in den Fokus rückt, hat zum einen handfeste Gründe: Es fehlen 300.000 Wohnungen; die vorhandenen sind für immer mehr Menschen unbezahlbar, rund 220.000 Bürger gelten als „working poor“, und letzten Winter waren 100.000 Personen auf Lebensmittel von Tafeln angewiesen. Der konservative und von der katholischen Soziallehre geprägte NSC ist auch für Wähler anderer Parteien von Rechtspopulisten bis hin zu Sozialdemokraten eine Option. Zugleich ist er ein typisch niederländisches Phänomen, weil er die sozioökonomischen Verwerfungen des Neoliberalismus anprangert, ohne daraus eine nach links tendierende Politik zu machen.

Das verbindet die Partei mit der „BoerBurgerBeweging“ (BBB), die aus den Agrarprotesten kurz vor und nach der Corona-Pandemie hervorgegangen war. Seit 2021 ist die BBB mit einem Sitz im Parlament vertreten: Caroline van der Plas, ebenfalls eine ehemalige Christdemokratin, profitiert wie Omtzigt von einem Rebellenimage, wobei die Lederjacken-Trägerin mehr Charisma ausstrahlt. Die selbst erklärte „Partei von und für die Peripherie“ gewann im März in jeder einzelnen der 12 Provinzen, die organisatorisch in etwa den Bundesländern in Deutschland entsprechen. Umfragen bescheinigten ihr damals noch höhere Werte als dem NSC heute.

Groß geworden ist die BBB 2022 durch die seit Jahren anhaltende Stickstoffkrise. Regierungsmaßnahmen bis hin zu angedrohten Enteignungen, um die von der Landwirtschaft produzierten Emissionen zu reduzieren, brachten weite Teile der Bauernschaft sowie der ländlichen Bevölkerung gegen „Den Haag“ auf. Andere Gruppen schlossen sich aus den unterschiedlichsten Gründen an: Unmut über die Kinderzuschlag-Affäre, die Dominanz des politischen und wirtschaftlichen Zentrums im Westen des Landes gegenüber der Provinz, hohe Lebenshaltungskosten oder auch Asylbewerberheime in der Nachbarschaft.

„Ein bisschen rechts von der Mitte, im sozialen Bereich eher links“, so bezeichnet van der Plas selbst ihre Partei, die kulturell konservativ ist, Zuwanderung begrenzen, Gemeinschaftssinn und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern will. NSC und BBB halten sich elektoral gegenseitig in Schach: Eine Panne oder ein Skandal der einen Seite wird die andere begünstigen. Auch die Frage, welche Debatten die entscheidende Phase des Wahlkampfs prägen werden, kann die Kräfteverhältnisse verändern. Drehen diese sich eher um Existenzsicherheit, kommt das Omtzigt zu Gute. Wenn es um die Stickstoffkrise und unpopuläre Umwelt- und Klimamaßnahmen oder die vermeintlich abgehängte und vernachlässigte Peripherie geht, ist van der Plas im Vorteil.

Vergleicht man die Konstellation in der Frühphase des Wahlkampfs mit jener nach den Provinzwahlen, erscheint es als geradezu grotesk, dass die BBB inzwischen wieder deutlich hinter der VVD liegt. Die Behäbigkeit, mit der die Regierungspartei nach jeder Wahl wieder an die Macht zurückkehrt, egal ob nach der Euro- und Finanzkrise, der Pandemie mit ihren schweren Ausschreitungen oder den Bauernprotesten 2022, steht für einen bedeutenden Teil des Elektorats. Dieser ist bürgerlich-rechts und marktliberal und er vereint viele Unternehmer, vermögende und gutverdienende Menschen, die der Partei so ergeben sind wie dem politischen Status Quo verhaftet.

So dürfte die VVD nach dem Ende der Ära Rutte zwar durchaus Sitze verlieren, hat aber noch immer gute Chancen auf einen Wahlsieg. Unter der bisherigen Justizministerin Dilan Yeşilgöz als Spitzenkandidatin setzt man vor allem auf eine starke Beschränkung der Zuwanderung. Und auch die Tür in Richtung einer Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen PVV hält man, anders als bei den letzten Wahlen offen. Die PVV liegt in den Umfragen an vierter Stelle und präsentiert sich mit etwas moderaterer Rhetorik als gewohnt. Parteichef Geert Wilders hat sein Interesse an einer Koalition mit der VVD bereits bekundet. Und auf eine Koalition mit einer starken VVD, das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, läuft es in diesem Land meistens hinaus.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.

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