Mithu Sanyal, bedeutende Feministin und Kulturwissenschaftlerin, ist morgen für eine Konferenz und am Samstag für einen Konsens-Workshop zu Besuch in Luxemburg. Mit der woxx sprach sie im Vorfeld über inklusive Feminismen, Männer und das „Nein“.
woxx: Frau Sanyal, Sie reiben sich in Ihrer Kolumne in der „taz“ des Öfteren an Aufspaltungen im Feminismus – deshalb gleich zu Beginn eine Grundsatzfrage: Wie inklusiv sind die aktuellen Feminismen?
Mithu Sanyal: (lacht) Die Tatsache, dass wir diese Inklusionsdebatte führen, zeigt, dass wir nicht alle einer Meinung sind – und das ist wichtig und schön. Wenn wir davon ausgehen, dass die Feminismen derzeit zu den stärksten Bewegungen für soziale Gerechtigkeit gehören, schließt das für mich mit ein, dass sie mehrere Personengruppen umfassen. Auch Männer.
In Luxemburg kommt sexualisierte oder häusliche Gewalt gegen Männer oft nur dann zur Sprache, wenn Frauen im Mittelpunkt von Kampagnen gegen entsprechende Gewaltformen stehen. Es sind meist konservative Parteien und Anti-Gender-Fraktionen, die die Inklusion der Männer in die Debatte einfordern …
Es ist natürlich nicht Sinn der Sache, Probleme gegeneinander aufzuwiegen. Es kristallisiert sich dadurch allerdings heraus, wie wenig Raum für solche Debatten in der Öffentlichkeit besteht. Mir geht es um die strukturelle Einbindung von Männern in den Diskurs über sexualisierte Gewalt – und nicht um eine Hierarchisierung. In meinen Augen dürfen wir den Gegengruppen, sei es den politischen oder den sozialen, nicht mit Gegengewalt begegnen. Welche Form von Politik geht daraus hervor? Wohin führt das? Was macht das mit unserem Denken, wenn wir nach denselben feindseligen Schemata agieren?
Wie sollten wir dann den Täter*innen sexualisierter Gewalt begegnen?
Täter*innen werden oft entmenschlicht. Ihre Tat ist identitätsstiftend. Sie sind plötzlich Täter*in auf allen Ebenen. Es ist naiv, sich im schwarz/weiß-Muster mit Täter*innen auseinanderzusetzen. Wenn wir den Menschen ausschließlich als Täter*in wahrnehmen, dann behindern wir ihn auch darin, in sein Inneres vorzudringen, wo Veränderungen möglich sind. In Deutschland ist das Therapieangebot für Täter*innen unzureichend und die Arbeit mit Täter*innen wird stigmatisiert. Das ist tragisch, weil es Teil der Präventionsarbeit ist. In vielen Fällen werden die Täter*innen nicht verurteilt, weil es oft an Zeug*innen fehlt. Die Einigung auf eine Therapie, die eine Alternative darstellen würde, wird in Deutschland viel zu selten genutzt. Dabei zeigen Studien aus Schweden, dass die Rückfallquote bei Sexualstrafttäter*innen, die eine Therapie besucht haben, gering ist.
Ist unser Bild von Sexualstraftäter*innen zu einseitig?
Sagen wir es mal so: Es gibt durchaus Psychopathen, die gezielt hinausgehen, um Menschen Schaden zuzufügen. Klar. Aber es gibt eben auch Täter*innen, die große Entmächtigungsprozesse durchlaufen haben, die selber Opfer gesellschaftlicher Strukturen sind, und wenn ihnen keine gesellschaftliche Heilung ermöglicht wird, dann verschärfen wir diese Strukturen mehr als sie zu verbessern. Wir tragen als Gesellschaft die Mitverantwortung.
Wie hat sich das Sprechen über sexualisierte Gewalt verändert?
Vergewaltigungen standen lange unter dem Schutz der Ehe und der Familie. Vergewaltigungen in der Ehe wurden in Deutschland bis 1997 nicht strafrechtlich verfolgt. Das deutsche Sexualstrafrecht steht inzwischen – und darüber freue ich mich sehr – unter dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Das führt zu einem veränderten, gesellschaftlichen Bewusstsein. Doch das Schema, dass der Mann der Täter und die Frau das Opfer ist, das besteht fort.
Wo kommt das, aus kulturhistorischer Perspektive betrachtet , her?
Das hat historische Gründe. Der Frau konnte ihre Ehre durch Sex genommen werden, sei es durch Verschlamptheit, sei es durch den Raub ihrer Unschuld durch „Notzucht“ oder außerehelichem Sex. Die Ehre der Männer lag in der Öffentlichkeit, zum Beispiel auf dem Schlachtfeld. Damit gingen bestimmte Rechte einher. Wir operieren heute so als würden wir verstehen, woher die Strukturen kommen, dabei wissen das nur die wenigsten.
Das heißt, dadurch, dass Männer ihre Ehre nicht durch Sex verlieren konnten, werden sie als Opfer aus der Debatte ausgeschlossen?
Die Sexualität von Männern wird dämonisiert. Für Frauen gilt Sex mit Männern hingegen immer auch als potentiell gefährlicher Akt. Dabei zeigen Studien des „Centers for Disease Control and Prevention“ (CDC) , dass wenn man zu Vergewaltigung zählt, dass jemand gezwungen wird jemand anderen zu penetrieren, die Zahlen der männlichen und weiblichen Opfer nicht weit auseinanderliegen. In Bezug auf Männer sind die Täter oft weiblich.
Letzteres ist mir neu. Darüber wird wenig gesprochen, oder?
Es gibt Personengruppen, die in der Debatte nahezu unsichtbar sind. Ich analysiere regelmäßig die Massenmedien und stelle fest, dass trans Personen sowie Intersex Menschen selten bis gar nicht in der Debatte über die Opfer sexualisierter Gewalt vertreten sind. Trans Frauen werden in verschiedenen feministischen Szenen sogar als gefährlich eingestuft und das ist eine tragische Umkehrung des Diskurses. Es gibt schockierende Bewegungen gegen trans Frauen, aber über die wird kaum gesprochen. Menschen, die beleibter oder schwarz sind, wird in der Regel weniger geglaubt, wenn sie sexualisierte Gewalt melden – und auch Männern wird weniger geglaubt.
… und Frauen tauchen in der Öffentlichkeit selten als Täterinnen auf?
Das weibliche „Tätertum“ wird selten wahrgenommen – und wenn, dann werden die Frauen, wie zum Beispiel die KZ-Wärterinnen, zur Unkenntlichkeit entmenschlicht. Sie sind Monster. Seit dem 19. Jahrhundert besteht die Vorstellung, dass die Potenz der Männer sie grundsätzlich zu Sexualverbrechen treibt. Und wir wiederholen dieses Denkmuster mit jedem undifferenzierten und pauschalisierenden Medienbericht. Ich erhalte viele Zuschriften von Männern, die vergewaltigt und nicht ernst genommen wurden. Es besteht ein geringes Anzeigeverhältnis, wenn dann eher wegen sexueller Belästigung. Wir sind dabei sexualisierte Gewalt zu biologisieren und das ist nicht hilfreich. Es verschlimmert die Umstände.
Bei Ihrem Besuch in Luxemburg sprechen Sie nicht nur über sexualisierte Gewalt. Sie bieten auch einen Workshop zu Konsens an. Bedeutet Konsens „Ja heißt Ja“ oder „Nein heißt Nein“?
Wir leben in einer Kompromissstruktur, in einer Demokratie – aber im sexuellen Kontext verlangen wir einander Konsens ab. Das haben wir oft gar nicht gelernt: Konsens. Das „Ja heißt Ja“-Prinzip ist schwer umzusetzen. Das zeigt sich auch bei den MeToo-Fällen. Ein „Ja“ fällt nicht immer aus Überzeugung und bedeutet nicht immer Konsens. Juristisch gesehen sind solche Fälle dann schwer zu handhaben. „Ja“ setzt voraus, dass wir miteinander kommunizieren können. Das ist nicht selbstverständlich.
Also lieber „Nein“ sagen?
Hätte ich im Zweifelsfall immer „Nein“ gesagt, dann hätte ich viele sexuelle Erfahrungen, die ich nicht missen wollen würde, nie gemacht. Natürlich gehört es zur sexuellen Selbstbestimmung dazu, auch „Nein“ zu sagen. Es fällt aber leichter zu sagen, was man nicht will, wenn man erkennt, was man will. Das gilt sowohl für Männer als auch für Frauen.
Zur Person
Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und freie Journalistin. Sie forscht und schreibt hauptsächlich in den Bereichen Genderstudies und angewandte Sexualpädagogik. In ihrem Buch „Vergewaltigung“ (2016 erschienen bei Nautilus Flugschrift) zeichnet sie nach, wie die Gesellschaft über Vergewaltigung spricht und wie sich das auf die Realität sexualisierter Gewalt auswirkt. Das Buch wurde mit dem Preis „Geisteswissenschaften international“ ausgezeichnet. 2017 wurde Sanyal scharf für ihren Beitrag „Du Opfer!“ in der „taz“ kritisiert. Darin besprach sie unter anderem den Vorschlag, dass sich Opfer sexualisierter Gewalt selbst als „Erlebende“ bezeichnen können sollten.
Die Konferenz „Tackle the roots – Strukturelle Gewalt verstehen, erkennen, beenden“ findet am Freitag, dem 13. Dezember (19 bis 21 Uhr) im Centre Altrimenti (5, rue avenue Marie-Thérèse, Luxembourg) statt. Die Konferenz ist auf Deutsch, mit französischer und englischer Simultanübersetzung. Eine Anmeldung via bureau@cid-fg.lu oder 24 10 95-40 bis zum 12. Dezember ist erwünscht. Der Konsens-Workshop am 14. Dezember findet im CID | Fraen an Gender (14, rue Beck, Luxembourg) (11 bis 17 Uhr) statt. Die Plätze sind limitiert. Um Anmeldung bis zum Freitag, via Mail oder Telefon, wird gebeten. Der Eintritt zu beiden Veranstaltungen ist frei.