Wenn am 3. Mai die junge bulgarische Gruppe Oratnitza in Luxemburg auftritt, kann man eine hochinteressante musikalische Mischung aus uralter Balkantradition und Moderne entdecken.
Die Kerntruppe von Oratnitza besteht aus Hristiyan Georgiev (Gesang, bulgarische Kaval-Flöte, Melodika, Keyboard), Georgi Marinov (Didgeridoos, Dudelsack), Petar Yordanov (Cajon, Tupan-Trommel) und Ivan Gospodinov (Gesang). Die Gruppe wurde 2009 als Quartett gegründet und hat nach 2012 und 2016 jetzt ihre dritte Platte „Alter Ethno“ (Fusion Embassy Label) herausgebracht, auf der sie wieder bulgarische Roots in eine zeitgemäße Form gebracht hat. Sie nennt das „Bulgarian Ethnobass“. Neben einigen Gastmusikern mit Beatboxing und Saxophon präsentieren sie auf der aktuellen CD auch ihre beiden neuen ständigen Bandmitglieder. Diyana Vassileva und Asya Pincheva fügen den berühmten Klang der bulgarischen Frauenstimmen hinzu.
Chorliebhaber*innen ist bulgarische Musik schon 1975 durch Frauengesang unter dem Namen „Le Mystère des voix bulgares“ auf einer Plattenaufnahme des Schweizers Marcel Cellier bekannt geworden. Eine Wiederveröffentlichung 1986 begeisterte dann auch frühe Weltmusikenthusiast*innen. Große Teile Bulgariens gehören zur historischen Region Thrakien, die auch den Nordosten Griechenlands und den Westen der Türkei umfasst. Deshalb weist die Musik der ganzen Region Ähnlichkeiten auf. Die Ursprünge gehen zurück auf die byzantinische Musik, die sich wiederum aus griechischen, syrischen und hebräischen Wurzeln speiste. Für Westeuropäer*innen klingt bulgarische Musik orientalisch, weil die besondere Form ornamentierter Polyphonie des Gesangs im Westen nicht (mehr) gebräuchlich ist. Die ungeraden Rhythmen, die in Bulgarien und anderen Ländern der Region üblich sind, sind im Westen auch auf Druck der römisch-katholischen Kirche verdrängt worden. Weitere Merkmale sind die Abwesenheit von Harmonieinstrumenten und die Verwendung eines durchgehenden Borduntons, der oft vom Dudelsack erzeugt wird. Nicht zuletzt die in die Musik Westeuropas eingeführte „wohltemperierte“ Stimmung von Tasteninstrumenten und bundierten Saiteninstrumenten hat hier zu einer „Begradigung“ der Melodik geführt, die Zwischentöne nicht zulässt. In der traditionellen Musik Bulgariens hat sich diese melodische Vielfalt jedoch erhalten.
Im Interview erklärt Bandmitglied Hristiyan Georgiev, dass Oratnitza zunächst nur gegründet wurde, um Spaß zu haben. Niemand von den Gründungsmitgliedern habe eine musikalische Ausbildung erfahren. Sie waren aber fasziniert von der Schönheit der alten traditionellen Melodien und spielten sie nach ihrer eigenen Fasson, ohne Rücksicht auf institutionalisierte Aufführungsregeln. Die von offizieller Seite geförderten orchestralen Arrangements und Interpretationen machten nach Ansicht der Band aus der bulgarischen Rootsmusik ein standardisiertes, quasi heiliges Nationalerbe, das sich weit von den Wurzeln entfernt habe. „Wir mögen es, Leute zu provozieren, indem wir das in ganz neuer Form zu Gehör bringen“, sagt Georgiev, „und wir sind glücklich, dass uns Hörer erzählen, dass sie durch uns begonnen haben, Folklore zu hören.“ Die bulgarischen Frauenchöre hätten die Bandmitglieder immer begeistert, aber für die Gründung der Band keine wesentliche Rolle gespielt, sagt Georgiev. Jetzt aber habe man zwei professionelle Sängerinnen gefunden, die zur Musik der Gruppe sehr gut passten. Diyana Vassileva entstammt dem immer noch existierenden legendären Chor „Le Mystère des voix bulgares“ und Asya Pincheva hat in „Cosmic Voices from Bulgaria“ gesungen. Ganz ungewöhnlich ist der Einsatz des australischen Didgeridoos, das nach Ansicht Georgievs aber bestens geeignet ist, den traditionellen Bordunton in der bulgarischen Musik auf eine ganz andere Weise zu erzeugen als üblich. Das kann man beim Konzert erwarten: faszinierende – manchmal angejazzte – Rootsklänge zwischen Akustik und Elektronik, vertrackte und teils heftige Beats und großartiger bulgarischer Gesang von einer Band, die uralte Traditionen hochaktuell klingen lässt. Also ganz so, wie es der Titel der aktuellen CD verspricht: „Alter Ethno“ – die andere Form bulgarischer Roots.