DEBATTE UM ABTREIBUNG: Tea-Party im EU-Parlament

In der letzten Sitzung des Europaparlaments des Jahres 2013 kam es nach einem Coup der Konservativen zum Triumph für den rechten Flügel. Die Debatte um den Bericht über das Recht auf Abtreibung und den Sexualunterricht in der Schule könnte ein Vorgeschmack auf das Erstarken der Rechten auf europäischer Ebene sein.

Kampf der Abtreibung und der Sexualerziehung: Protestkundgebung von „Lebensschützern“ vor dem EU-Parlament in Straßburg.

„Das Parlament hat heute gezeigt, dass es in manchen Situationen das Vertrauen der Bürger nicht verdient.“ Die sichtlich verärgerte EU-Parlamentarierin Edite Estrela musste erst einmal die lautstarken Buhrufe zahlreicher Kollegen abwarten, ehe sie am 22.?Oktober im stimmungsvoll aufgeheizten Straßburger „Hémicycle“ das Wort ergreifen konnte. Soeben war etwas geschehen, was im Europaparlament äußerst selten vorkommt. Eigentlich sollte das Plenum an diesem Tag über den Bericht „Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte“ abstimmen. Stattdessen wurde er nach einer hitzigen Verfahrensdebatte und einigen Anträgen zur Geschäftsordnung in die zuständige Parlamentskommission zurückverwiesen.

Dabei hatte sich in diesem Gremium eine deutliche Mehrheit der Abgeordneten für den Text ausgesprochen, weshalb er im Oktober ordnungsgemäß auf die Tagesordnung des Plenums gekommen war. „Diese Abstimmung sollte respektiert werden“, forderte Estrela und sprach von einem mangelnden Respekt für das Abgeordnetenmandat. Doch die portugiesische Sozialdemokratin kam an diesem Tag nicht gegen die lautstarken Proteste des ultrarechten Flügels an. Angeführt wurde er von dem Briten Ashley Fox (Conservative Party) und dem Franzosen Bruno Gollnisch (Front National). Bei ihrem Antrag auf Rückverweis des Estrela-Berichts in den Ausschuss für Gleichstellungsfragen bekamen sie am Ende Unterstützung von der größten Fraktion im Parlament, der Europäischen Volkspartei (EVP). „Wir müssen auch mit dem Minderheitenrecht dieses Hauses ordentlich umgehen“, rief der deutsche Christdemokrat Elmar Brok vor der Abstimmung in die Runde und erntete lang anhaltenden Beifall. Somit gelang der Coup der Konservativen: Der Antrag wurde mit 351 und 319 Gegenstimmen angenommen.

Einen guten Monat später schlug die gespielte Entrüstung in den rechten Reihen in unverhüllte Freude um: Soeben war der Bericht, dem der Ausschuss einige Tage zuvor ein zweites Mal zugestimmt hatte, mit einer knappen Mehrheit von sieben Stimmen im Parlament vom Tisch gefegt worden. Drei davon kamen von den Luxemburger CSV-Abgeordneten. Astrid Lulling, Georges Bach und Frank Engel hatten für den alternativen Text gestimmt, den die EVP zusammen mit der Fraktion der Konservativen vorgelegt hatte. Darin beschränkt sich das Parlament grob zusammengefasst darauf, festzustellen, dass es in diesen Fragen gar nicht zuständig ist.

Diese Argumentation dominierte auch in der intensiven Lobbyarbeit, die in den Wochen zuvor von vorwiegend religösen Gruppen und sogenannten Lebensschützern betrieben worden war. Cornelia Ernst, deutsche Abgeordnete der Partei „Die Linke“ sprach von rund 500 E-Mails pro Tag, in denen eine abstruse Interpretation des Estrela-Berichts verbreitet wurde. Das, was im Plenum stattfand, bezeichnet Ernst als „europäische Tea Party“.

Kulturkampf im Plenum

Tatsächlich hatten sich am 10. Dezember im Plenum des Parlaments Szenen eines regelrechten Kulturkampfes abgespielt. Edite Estrela sprach von „Heuchelei“ und davon, dass man sich schämen müsse, dass das Parlament im Jahr 2013 eine solch konservative Haltung einnehme. „Ich bin mir sicher, die Wähler werden sich nächstes Jahr an diese Abstimmung erinnern“, so Estrela. Diese Perspektive löste im rechten Flügel neuen Jubel aus. Zwar ehrten Grüne, Linke und Sozialdemokraten Estrelas kämpferische Worte mit einer „standing ovation“. Rückgängig machen konnten sie die Abstimmung aber nicht.

Der ursprüngliche, nun abgelehnte Text war ein sogenannter Initiativbericht des Parlaments, ein Schreiben also, das nicht wie andere Berichte als Grundlage für europäische Gesetze dienen kann. Es gibt lediglich die Meinung des Parlaments wieder, mit entsprechenden Empfehlungen an die nationalen Regierungen. Die Gesetzgebung in diesem Bereich bleibt hingegen den Nationalstaaten alleine überlassen.

Ganz anders war dies in den Protestschreiben der Gegenlobby dargestellt worden. Der Estrela-Bericht wolle die „Tötung ungeborener Kinder als Menschenrecht“ festschreiben und verlange eine „Zwangsschulsexualerziehung, in deren Rahmen die Kinder zur Homosexualität erzogen werden sollen“, schrieb etwa „Katholisches.info“, das „Magazin für Kirche und Kultur“. Ziel sei es, alle EU-Mitgliedstaaten dazu zu zwingen, „Abtreibung und Homosexualität zu sponsern“.

Etwa hundert Lobbyisten waren am Tag der ersten Abstimmung nach Straßburg gereist und hatten sich mit Transparenten vor dem Parlamentsgebäude postiert. Darauf stand zum Beispiel „Tabufreier interaktiver Sex-Unterricht? Nein!“ Für Pressefotos wurden Kinder vor dem Ensemble gruppiert. Die Verabschiedung einer Entschließung wie dem Estrela-Bericht würde „massiv gegen das Elternrecht verstoßen“ und einer „wertfreien und enthemmten Sexualerziehung Tür und Tor öffnen“, so Hedwig von Beverfoede, die Koordinatorin der europäischen Bürgerinitiative „Einer von uns“.

In der Debatte im Parlament, die am Tag zuvor stattgefunden hatte, war Ähnliches geäußert worden. Dieser Bericht beeinträchtige die Souveränität der Mitgliedstaaten, regte sich dort der polnische Konservative Marek Migalski auf. Als Polen der EU beigetreten sei, habe man dem Land versichert, es dürfe über moralische Werte und Fragen der Abtreibung selbst entscheiden. Zudem drehe der Bericht alles um. „Die Sicht des Kindes, das getötet wird, wird nicht gesehen“, so der Politologe Migalski, der vor drei Jahren die Partei „Polen ist das Wichtigste“ mit gründete.

„Erziehung zur Homosexualität“

Tatsächlich beschränkt sich der Bericht auf die Empfehlung, „aus Erwägung der Menschenrechte und der öffentlichen Gesundheit“ allen Frauen in der Europäischen Union einen legalen Zugang zu „hochwertigen Diensten im Bereich des Schwangerschaftsabbruches“ zu gewährleisten. Zudem werden die Länder aufgefordert, sicherzustellen, dass medizinische Fachkräfte im Falle von Abtreibungen nicht strafrechtlich verfolgt werden. „Hier werden die Freiheit und die Rechte von Bürgerinnen beschnitten, die nicht damit einverstanden sind, Leben auszulöschen“, kommentierte in der Debatte der kroatische Christdemokrat Davor Ivo Stier diese Empfehlung.

Auch so manche Passage im Text über Sexualerziehung stieß auf Kritik. Die Betonung im Bericht, dass Sexualunterricht nicht diskriminierende Informationen beinhalten und eine positive Sichtweise von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Intersexuellen und Transgender-Personen vermitteln müsse, rief den italienischen Rechtsextremen Claudio Morganti (Lega Nord) auf den Plan. Er regte sich über eine derart „positive Aussprache für Schwule und Lesben“ auf und meinte, dass es in der Natur um die Vereinigung von Mann und Frau gehe und dies „nicht umkehrbar“ sei. Woraufhin er von der Grünen Ulrike Lunacek aufgefordert wurde, die Aussage, Homosexuelle seien anormal, zurückzunehmen. „Solche Aussagen sollte man in diesem Parlament nicht zu hören bekommen“, sagte die Österreicherin und stellte Morgantini in der Debatte die Frage: „Hatten Sie jemals Sex, ohne das Ziel zu verfolgen, sich fortpflanzen zu wollen?“ Dies jedoch ging dem Vorsitzenden Rainer Wieland (CDU) im Gegensatz zu den vorangegangenen Äußerungen zu weit. Solche Fragen müssten im Parlament nicht beantwortet werden, stellte der Schwabe klar.

Dass am Ende Rechtsextreme und EVP gemeinsam dafür sorgten, dass dieser Bericht nicht verabschiedet wurde, ließe nicht den Schluss zu, dass man gänzlich einer Meinung sei, sagte nach der Abstimmung Astrid Lulling. Die frühere Präsidentin des Conseil National des Femmes gibt an, durchaus mit so manchen Punkten des Estrela-Berichts einverstanden zu sein. „Der Bericht übertreibt jedoch, diese Maßnahmen könnten niemals umgesetzt werden“, so Lulling. Wie Bach und Engel verweist sie auf die Subsidiarität. Brüssel dürfe in diesem Bereich „keinem Mitgliedsland Vorschriften machen“, so die Überzeugung. Dass die europäischen Verträge dies gar nicht zulassen, weiß auch die Berichterstatterin. Edite Estrela ging es unter anderem darum, betroffenen Frauen das Reisen ins europäische Ausland auf der Suche nach einer legalen Abtreibung zu ersparen und ihnen eine angemessene gesundheitliche Leistung zu garantieren.

Es sei wichtig, dass dieser Text nicht verabschiedet wurde, betont unterdessen Astrid Lulling. „Man weiß nie, wer sich später auf einen solchen Bericht bezieht“, so Lulling. Das sei durchaus auch schon bei Initiativberichten passiert. In diesem Fall können sich fortan europäische Länder mit restriktiven Abtreibungsgesetzen wie etwa Malta auf das Votum im Parlament beziehen. Der Grüne Claude Turmes, der wie Robert Goebbels (LSAP) und Charles Goerens (DP) gegen den alternativen Text der EVP stimmte, geht davon aus, dass die Luxemburger Regierung dennoch an ihrem Kurs festhalten wird. Im blau-rot-grünen Koalitionsvertrag wurde bekanntlich festgehalten, das Abtreibungsgesetz so zu überarbeiten, dass die bislang vorgeschriebene zweite Beratung fakultativ wird.


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