WIKIPEDIA: Manipulierbares Lexikon?

Für Wissen in Form von dicken Lexika-Bänden gibt kaum noch einer Geld aus. Denn Wissen ist gratis im Netz abzurufen: bei Wikipedia. Rund 500 Millionen Besucher hat die Online-Enzyklopädie im Monat. Aber ist sie auch verlässlich?

An Wikipedia kommt so schnell keiner vorbei. Egal, welchen Begriff der Nutzer in die Suchmaschine eingibt, ob er Informationen über einen Fußballspieler oder die Relativitätstheorie sucht: Immer steht ganz oben in der Ergebnisliste ein Wikipedia-Link. Hinter dem so präsenten, inzwischen 13 Jahre alten Online-Lexikon steckt die Wikimedia Foundation. Die Non-Profit-Organisation mit Sitz in San Francisco will das gesammelte Wissen der Menschheit frei zugänglich machen. Momentan umfasst Wikipedia rund 30 Millionen Artikel, davon 1,6 Millionen deutschsprachige. Und es kommen immer neue dazu – im Sekundentakt. VerfasserInnen der Einträge sind Freiwillige aus aller Welt. Denn jeder darf an der Enzyklopädie mitschreiben, sofern er sich an die Regeln hält. Der Schreibstil soll neutral sein, Behauptungen sind mit unabhängigen Quellen zu belegen. Damit folgt Wikipedia der „Weisheit der Vielen“. Nach dieser Theorie kommen Massen „unter bestimmten Bedingungen“ zu klugen, also richtigen Ergebnissen. Aber wie sehr ist einem von Nutzern verfassten Lexikon zu trauen? René König vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe hält die Informationen grundsätzlich für „erstaunlich verlässlich“. Und der Erfolg gebe der „sehr offenen Arbeitsweise“ ja auch recht. Immerhin hätten etablierte Enzyklopädie-Herausgeber, etwa die des Brockhaus, vor Wikipedia mehr oder weniger kapituliert.

Wie sehr ist einem von Nutzern verfassten Lexikon zu trauen?

Allerdings stelle die Offenheit gleichermaßen die Stärke und die Schwäche des Lexikons dar, ergänzt König. So versuchten nicht selten interessierte Stellen, das „Wissen der Welt“ in ihrem Sinne zu manipulieren. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung beschreibt, wie Pharmaunternehmen oder Handelsketten unangenehme Fakten löschen oder verschleiern. Wikipedia vermag der Schönfärberei nicht Herr zu werden, fasst die Studie zusammen. Auch Schleichwerbung findet den Weg ins Lexikon. 2013 kam heraus, dass bezahlte Autoren, von einer Firma namens Wiki PR gesteuert, allzu lobende Texte über bestimmte Produkte in Umlauf gebracht hatten. Die Wikimedia Foundation schloss zwar deren Nutzerprofile, dennoch sei blindes Vertrauen gerade bei Wikipedia nicht angebracht, betont König, denn es könne im Regelfall jederzeit von jedem editiert werden. Leider fehle es weithin noch an Wissen über das spezielle Wikipedia-Format.

Dabei finden sich im Lexikon deutliche Hinweise auf mangelhafte Verlässlichkeit. Manche Seiten sind mit einem Ausrufezeichen markiert: „Die Neutralität dieses Artikels oder Abschnitts ist umstritten“. Wen die Hintergründe dazu interessieren, der kann in der Versionsgeschichte nachschauen. Dort steht, wer den Text wann verändert hat. Bei heiklen Themen passiert das sehr häufig. Der Beitrag zur Ukrainekrise etwa wird ständig bearbeitet, an einem Tag bis zu 30 mal. Auf den Diskussionsseiten – wie die Versionsgeschichte für jeden zugänglich – rechtfertigen die Autoren ihre Korrekturen. Im Fall der Ukrainekrise wird der Ton zum Teil ruppig – die Ansichten über Putins „Einflusspolitik“ gehen weit auseinander. Den Prozess des gegenseitigen Kontrollierens und Korrigierens betrachtet König aber als Vorteil: „Im Gegensatz zu herkömmlichen Enzyklopädien legt Wikipedia die Kontroversen um ein bestimmtes Thema offen. Die Konflikte sind prinzipiell für jeden nachvollziehbar.“ Nicht überraschen dürfte, dass vor allem politische und religiöse Themen – Jesus, Israel, Holocaust, Gott, Iran, Rasse, Krieg – die Gemüter erhitzen. Die Zankäpfel unterscheiden sich aber je nach Sprachausgabe. Auf spanischen Seiten sorgen der FC Barcelona und Augusto Pinochet für Meinungsverschiedenheiten, auf französischen wird viel über Islamophobie und Atomkraft gestritten, und deutschsprachige Autoren können sich nicht über Adolf Hitler und Homöopathie einigen.

Auch Schleichwerbung findet den Weg ins Lexikon.

Wie demokratisch ist Wikipedia? Drückt es die ganze Bandbreite von Meinungen aus? Die Community ist weit davon entfernt, gesellschaftlich repräsentativ zu sein, meint König. So machten weibliche Autoren nur eine kleine Minderheit aus. Eine Studie der University of Minnesota zeigt die Folgen auf: Beiträge von Frauen werden viel eher gelöscht als die von Männern. Die Offenheit schützt auch nicht vor der Dominanz kleiner Gruppen. Eine Studie der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid ergab: Nur 10 Prozent der Autoren sind für 90 Prozent der Bearbeitungen verantwortlich. Wikipedia ist das Werk von Vielen – aber ein harter Kern von Freiwilligen gibt offenbar den Ton an. Alternative Deutungen des Weltgeschehens, etwa zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, kommen zwar vor. Sie werden aber pauschal als „Verschwörungstheorien“ stigmatisiert und in eigens dafür angelegte Artikel ausgelagert. Teilweise sei das Lexikon erstaunlich konservativ und elitär, erklärt König. Was er aber nicht als Widerspruch zur offenen Organisation ansieht, sondern vielmehr als ihr Resultat: Gerade wegen der offenen Strukturen müsse sich Wikipedia vor abwegigen Positionen schützen und schließe diese mitunter rigoros aus. Selbst in der Wissenschaft breitet sich Wikipedia aus – begleitet von Zweifeln, ob ein von Freiwilligen geschriebenes Lexikon akademischen Ansprüchen genügt. An der Liverpool Hope University führen diese gemischten Gefühle zu einer paradoxen Situation, wie eine Umfrage offenlegte. 74 Prozent der Dozenten schlagen in der Wikipedia nach. Ihren Studenten wollen sie dies aber mehrheitlich nicht zugestehen: 58 Prozent der Lehrenden verbieten ihnen ausdrücklich die Nutzung des Online-Lexikons.


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