Mit dem Beziehungsdrama „21 Grams“ liefert Iñárittu einen weiteren Film, der unter die Haut geht. Nicht zuletzt, weil er die Top-Schauspieler Sean Penn und Benicio del Toro gemeinsam vor die Kamera brachte.
Eines vorweg: Die Tatsache, dass Filme wie „21 Grams“ oder „The Return“ mit den Sälen Vier und Fünf des Utopia Vorlieb nehmen müssen, überrascht nicht, bleibt aber dennoch unverständlich. Nicht nur fürs Publikum, sondern auch für die KritikerInnen. Oft müssen Rezensionen zu interessanten Filmen dazu mit dem Risiko geschrieben werden, dass diese gleich nach einer oder zwei Wochen wieder abgesetzt werden. Im Extremfall bedeutet dies: Die Arbeit ist für den Papierkorb.
Dabei ist etwa „21 Grams“ durchaus kein abgehobener experimenteller Streifen für Insider, sondern ein ansprechendes und zugleich anspruchsvolles Beziehungsdrama. Alejandro González Iñarittu hat nach seinem beeindruckenden „Amores perros“ hier ein weiteres Zeugnis seines Könnens geliefert. Wie in „Amores Perros“ treffen auch hier mehrere Personen durch einen unglücklichen Zufall zusammen – die verschiedenen Beziehungsgeschichten verweben sich erst allmählich zu einem Ganzen. Wie beim ersten Film ist der Stein, der alles ins Rollen bringt, ein unvorhersehbarer Autounfall. Die brutale Direktheit, mit der Iñarittu in seinem erfolgreichen Debüt die mexikanischen Realitäten darstellte, ist nun weniger offensichtlich, wird aber auch in „21 Grams“ als Stilmittel eingesetzt. Doch während der Regisseur damals die unterschiedlichen Lebensstandards und die soziale Ungerechtigkeit in Mexiko in den Vordergrund
stellte, konzentriert er sich diesmal auf einen moralischen Konflikt. Die Auseinandersetzung mit Begriffen wie Schuld und Sühne, Wiedergutmachung oder Trauer wirkt auf den ersten Blick fast altmodisch, wird durch die gekonnte Inszenierung und die hervorragenden SchauspielerInnen jedoch zu einer packenden Konfrontation.
Zunächst einmal muss das Publikum allerdings die vielen Puzzlestücke des Films zusammensetzen. Häppchenweise und ohne jede Rücksicht auf die Chronologie werden die Elemente drei unterschiedlicher Erzählstränge serviert. Da ist Jack Jordan (gespielt von Benicio Del Toro), der Ex-Häftling und Alkoholiker, der sein Heil in Jesus Gefunden, sein Auto zum Missionsvehikel umfunktioniert und seine Familie gleich mitbekehrt hat. Der Mathematiker Paul Rivers (Sean Penn), der sich in der letzten Phase einer tödlichen Herzkrankheit befindet und dessen Beziehung unter dem geradezu zwanghaften Kinderwunsch seiner Freundin leidet. Und schließlich Cristina Peck (Naomi Watts), die sich aus ihrer Drogenabhängigkeit in ein harmonisches Familienleben gerettet hat.
„You will suck guilt“, prophezeit Jack Jordan einem jugendlichen Halbstarken, den er davor bewahren will, in die Kriminalität abzurutschen. Ein Schicksal, das auch Jordan einst widerfuhr. Doch Jacks ostentative Religiosität verdeckt nur schlecht die aufgestaute Wut über das eigene Scheitern, die er mit sich herumträgt. Zugleich ist sie nach seinem Verständnis von Glauben die Sünde der Eitelkeit, welche die Katastrophe erst herbeiführt: Er wird, ohne es zu wollen, zum Mörder dreier Menschen. Während Jack ein weiteres Mal die Flucht vor sich selbst antritt, schickt sich Paul Rivers an, diese Schuld zu rächen. Doch zunächst einmal bekommt er ein neues Herz transplantiert. Auf der Suche nach dem anonymen Spender verliebt er sich, aber sein neues Leben ist nur ein künstliches, zeitlich begrenztes Provisorium.
Das chaotische Patchwork, das sich dem Publikum anfangs bietet, wird etappenweise entwirrt – die Spannung bleibt erhalten bis zum nicht so überzeugenden Schluss. Die langsame Kameraführung setzt einen Kontrapunkt zu den vielen Cuts und Flashbacks: Oft ruht die Kamera auf den Gesichtern, die selbst schon alles erzählen. Der sparsam dosierte, effektvolle Einsatz der Musik und die im Off gesprochenen Gedankengänge Pauls sowie das Einblenden von poetischen Landschaftsbildern machen aus den Bruchstücken eine Einheit.
Und ganz am Schluss erfahren wir: Das Gewicht der menschlichen Seele entspricht dem eines Kolibris, nämlich genau 21 Gramm, – und damit ist das Leid, das die Menschen niederdrückt, am Ende doch vergleichsweise klein.