Im Kino: Anatomie d’une chute

In Justine Triets Film entwickelt sich die Rekonstruktion eines Sturzes zur Rekonstruktion einer Beziehungs
dynamik. Das Ergebnis ist fesselnd und berührend.

Vor Gericht muss sich Sandra für ihre Qualitäten als Ehefrau verantworten. (Fotos © Les Films Pelléas – Les Films de Pierre)

Sandra (Sandra Hüller) und Marge (Jehnny Beth) sitzen sich in einem Wohnzimmer gegenüber. Erstere ist Schriftstellerin, letztere Studentin. Es ist ein Interview, aber ein durchaus entspanntes: Immer wieder nippt Sandra an ihrem Glas Wein und stellt mindestens genauso viele Fragen wie sie beantwortet.

Plötzlich ertönt in einem der oberen Stockwerke des Hauses laute Musik, eine Instrumentalversion von 50 Cents P.I.M.P. Sandra merkt beiläufig an, dass ihr Ehemann Samuel (Samuel Theis) beim Arbeiten gerne Musik höre, dann setzt sich das Interview ungehindert fort. Die Musik wird graduell lauter, es müssen die beiden Frauen immer lauter reden, um sich noch zu verstehen.

Sandras Reaktion scheint darauf hinzudeuten, dass sie nicht zum ersten Mal eine solche Situation erlebt. Zwar bricht sie das Interview irgendwann ab, doch scheint sie das mehr Marge zuliebe als um ihrer selbst Willen zu tun. Als diese weg ist, steigt Sandra seelenruhig die Treppen hoch.

Wer die Prämisse von „Anatomie d’une chute“ kennt – schon allein anhand des Titels und des Filmplakats kann man sich sie zusammenreimen – weiß, was als nächstes passiert: Samuel wird leblos unter dem Fenster seines Arbeitszimmers aufgefunden. War es Suizid? Ein Unfall? Oder doch ein Mord? Das einzige, das man mit Sicherheit weiß: Nur Sandra war zum Zeitpunkt des Vorfalls zu Hause.

Der Aufbau von „Anatomie d’une chute“ entspricht dem Verlauf eines klassischen Whodunit: Der potenzielle Ort des Verbrechens wird akribisch untersucht, Blutspuren analysiert, Sandra und der gemeinsame Sohn Daniel (Milo Machado-Graner) werden befragt, anschließend beginnt der Prozess mit Sandra als Angeklagter. Eindeutige Beweise dafür, dass es sich um einen Mord handelt, gibt es nicht, denn die Frage, ob die Platzwunde an Samuels Kopf vor oder während seines Falls in die Tiefe entstand, kann nicht abschließend geklärt werden. Und so richtet die Staatsanwaltschaft schon bald ihre Aufmerksamkeit auf die Suche nach einem möglichen Mordmotiv.

Der Gerichtsprozess bestätigt, was in der ersten Sequenz des Films bereits angedeutet wurde: Die Beziehung zwischen Sandra und Samuel war alles andere als harmonisch. Beide sind Schriftsteller*innen, wobei sie weitaus erfolgreicher ist, als er es jemals war – die Ursache konstanter Spannungen zwischen dem Ehepaar.

Wenig überraschend spielen auch Genderstereotype eine große Rolle in dem Film. Wenn Sandras Treue zu und Unterstützung für Samuel hinterfragt wird, scheint nicht so sehr das Mordmotiv, sondern vielmehr die Erfüllung von Weiblichkeitsidealen im Fokus zu stehen.

Ehe vor Gericht

Als Konsequenz werden die Zuschauer*innen unentwegt herausgefordert. Jedem scheinbareren Erkenntnisgewinn folgt dessen Infragestellung. Was objektiv oder subjektiv ist, Fakt oder Meinung, wird zunehmend unklarer. Wie dieser Prozess wohl verlaufen wäre, wenn das Geschlechtsverhältnis umgekehrt wäre, also sie die Verstorbene, er der potenzielle Täter? Was, wenn nicht sie, sondern er die erfolgreiche Karriere vorzuzeigen gehabt hätte? Der Film fordert die Zuschauer*innen auch deshalb heraus, weil er sie mit ihren eigenen Vorurteilen und Vorannahmen konfrontiert.

Der Titel von Justine Triets Films stellt sich als roter Hering heraus, was wir sehen ist vielmehr die „Anatomie d’une relation hétérosexuelle“ oder die „Anatomie d’une rupture amoureuse“. Damit erinnert er stark an das 2014 erschienenen Drama „Force majeure“. Darin nahm Filmemacher Ruben Östlund eine Schneelawine zum Anlass, um die Loyalität eines Vaters zu seiner Familie zu analysieren. „Anatomie d’une chute“ steht „Force majeur“ was handwerkliche Qualität und emotionale Intensität angeht, in nichts nach.

Dass es bei einer Beziehung, die vor Gericht steht, keine Gewinner*innen gibt, überrascht nicht. Das Erstaunliche an „Anatomie d’une chute“ ist, wie sich Triet die Erzählmittel des Gerichtsfilms für einen Film über Wahrnehmung und soziale Normen zu Nutze macht. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurde sie als dritte Frau überhaupt für den besten Film ausgezeichnet.

Im Cine Starlight, Sura, Orion, Prabbeli, Kulturhuef, Le Paris, Scala und Utopia. Alle Uhrzeiten finden Sie hier.

Bewertung der woxx : XXX


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