STABILITÄTSPAKT: Gewinner auf Zeit

Die wirtschaftlichen Musterschüler sind über die Aussetzung der Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich erbost – zu Recht. Luxemburgs Premier hält es mit den großen Nachbarn – auch zu Recht.

Keiner der Beteiligten werde den Ort des Geschehens so verlassen wie er ihn betreten hatte. Dies soll Jean-Claude Juncker vor der Sitzung der EU-Finanzminister in Brüssel am vergangenen Montag gesagt haben. Der luxemburgische Premierminister hat mit seiner vieldeutigen Prophezeiung Recht behalten: Am Ende des nächtlichen Pokers um die Einhaltung des Europäischen Stabilitätspakts gab es zwar Gewinner und Verlierer. Doch jeder hat mehr oder weniger starke Blessuren davon getragen.

Der Streit hat die Europäische Union gespalten. Zu den Siegern gehören auf den ersten Blick Deutschland und Frankreich. Dem deutschen Finanzminister Hans Eichel ist es gelungen, den Pakt auszuhebeln und das Defizitverfahren gegen Deutschland praktisch auszusetzen. Seine verlässlichste Stütze: Kollege Francis Mer aus Paris.

Auch Juncker wusste Eichel auf seiner Seite. Das deutsch-französische Paar hat unter anderem Luxemburg mit ins Boot ihrer „Entente Cordiale“ gezogen. Juncker war sich im Klaren darüber, welche Auswirkungen Sanktionen gegen die beiden großen Nachbarn auf Luxemburg haben würden. Angesichts schleppender Konjunktur und rasant steigender Arbeitslosigkeit im eigenen Land den beiden Großen die Daumenschrauben anziehen? Non, merci. „Ich habe keine Lust, die Deutschen und Franzosen zu ärgern“, so der Premierminister.

Wie sich die Zeiten ändern: Hatten doch die europäischen Staats- und Regierungschefs den Stabilitätspakt einst auf Drängen Deutschlands hin als Eintrittsticket zum Euro-Raum beschlossen, um undisziplinierte Haushaltsführung zu vermeiden, notorische Schuldenmacher wie Italien zu bestrafen und die künftige gemeinsame Währung vor der Inflation zu schützen. Einer der eifrigsten Verfechter des Züchtigungsinstruments: der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel. Mittlerweile hat Deutschland längst auf der Sünderbank Platz genommen – und bei der nächtlichen Kampfabstimmung in Brüssel einen Sieg eingefahren.

Zu den Verlierern zählen hingegen nicht nur Währungskommissar Pedro Solbes als „Hüter des Paktes“ und die gesamte EU-Kommission, sondern auch Länder wie die Niederlande, Finnland, Österreich und Spanien. Diese hatten dagegen gestimmt, Berlin und Paris zu schonen. Ihr Verdikt am Dienstagmorgen war eindeutig: „Dies ist ein schwerer Rückschlag für Europa“, urteilte Spaniens Ministerpräsident Aznar.

Die Wut derjenigen, die sich selbst harte Sparmaßnahmen auferlegten, ist verständlich: Deutschland und Frankreich dürfen auch 2004 die Defizitgrenze von drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandprodukts sprengen. Das kann als falsches Signal missverstanden werden. Warum soll man sich noch an Regeln halten, wenn es nicht einmal die beiden Vorreiterstaaten tun? Verträge sind schließlich dazu da, eingehalten zu werden. Sonst sind sie nicht einmal das Papier wert.

Andererseits sind sie auch nicht für die Ewigkeit. Das gilt vor allem für den Stabilitätspakt. Die einst festgelegte Dreiprozentgrenze ist letztlich nichts anderes als ein Kind ihrer Zeit und der damaligen wirtschaftlichen Situation. Sie entbehrt einer langfristigen ökonomischen Logik. Das weiß auch Europa-Veteran Juncker, der sich unter die Auguren begab: „Spätestens 2006 oder 2007, wenn sich der Staub ein wenig gelegt hat, werden wir an einer intelligenten Präzisierung des Paktes arbeiten müssen.“

Die Entscheidung von Brüssel verschafft den Defizitsündern zunächst einmal Luft, um dringend notwendige Reformen voranzutreiben und ihre Volkswirtschaften zu sanieren. Das Münchener Ifo-Institut meldet erste Zeichen eines Aufschwungs. Deshalb darf aber nicht ungehemmt über die Stränge geschlagen werden. Im kommenden Jahr müssen Eichel und Mer erneut Bericht erstatten. Bis dahin müssen Deutschland und Frankreich, die nicht zuletzt ihrer Rolle als Vorreiter Europas geschadet haben, das zu Bruch gegangene Porzellan kitten. Sonst erweist sich ihr Triumph letztlich als Pyrrhus-Sieg.


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