Um das Rentensystem zu retten, setzt die Regierung auf Automatismen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit und zur Senkung der Leistungen. Innerhalb der Linken wird über Alternativen nachgedacht.
Die Finanzkrise hat die Glaubwürdigkeit der neoliberalen Ideologie erschüttert, doch in einem Bereich hält sich der Glaube an das segensreiche Wirken der Finanzmärkte: bei den Pensionen. Die öffentlichen Rentensysteme hätten den Rand ihrer Leistungsfähigkeit erreicht, konnte man vor einigen Wochen im Luxemburger Wort lesen: „Dies gilt insbesondere für das auch in Luxemburg bestehende Umlageverfahren, bei dem die aktuell Erwerbstätigen die Renten der aktuellen Rentner zahlen. Bei immer mehr Rentnern und steigender Lebenserwartung durch bessere medizinische Versorgung ist dies nicht mehr finanzierbar.?
Weniger kategorisch klingt, was das Lëtzebuerger Land kürzlich über die anstehende Rentenreform schrieb: „Auch wenn das Umlageverfahren eine essenzielle Säule der Solidarität zwischen den Generationen darstellt, so sollte eine solche Reform unweigerlich die Entwicklung der zweiten und dritten Säule beschleunigen.“ Gemeint sind die Betriebs- und die Zusatzrenten, welche über Pensionsfonds finanziert werden, „mit dem Ziel, ein optimales Pensionsniveau zu erreichen und dabei Vorteile aus der mittel- und langfristigen Entwicklung der Finanzmärkte zu ziehen.?
Wer sind die Leute, die mit diesen Kassandra-Rufen die Öffentlichkeit wachrütteln wollen? Zum einen handelt es sich um Professoren der Luxembourg School of Finance, die im Auftrag des Versicherungsmultis Axa arbeiten, und zum anderen um SteuerexpertInnen des Finanzberatungsunternehmens KPMG. Also um genau jene Akteure, die davon leben, Alternativen zum öffentlichen Rentensystem zu vermarkten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Der Pilot und die Haifische
Dass die Finanz-Lobby mit ihrem Zusatzpensionen-Bauchladen das Renten-Thema nutzen kann, hat handfeste Gründe: In den Nachbarländern verharren die Rentensysteme in einem Zustand der Dauerkrise, und die Reformversuche führen, wie jüngst in Frankreich, häufig zu harten Sozialkonflikten,. Anders als diese Länder verfügt Luxemburg über eine Rentenreserve von zehn Milliarden, dem Gegenwert von dreieinhalb Jahren Rentenauszahlungen. Doch diverse Prognosen über die Entwicklung des Systems in den kommenden Jahrzehnten zeigen, dass das heute erreichte Gleichgewicht ein instabiles ist. Früher oder später wird man auf die Reserve zurückgreifen müssen und dann irgendwann, wie in den Nachbarländern, Finanzierungsschwierigkeiten haben.
Das ist auch der Grund, weshalb der Minister für die Sozialversicherungen, Mars Di Bartolomeo, seit 2007 eine Rentenreform vorbereitet: „Wenn morgen aus den 300.000 Berufstätigen Pensionäre würden, dann bräuchten wir zweieinhalb oder drei mal so viele Berufstätige wie heute, um das jetzige Niveau der Rentenleistungen aufrechtzuerhalten. In 30, 40 Jahren bräuchten wir eine oder 1,3 Millionen Berufstätige“, versuchte er in einem Interview mit Radio 100,7 das Problem zu illustrieren. Um diese Menschenmassen ins Land zu bringen, müsste man schon heute mit dem Bau achtspuriger Autobahnen oder vierspuriger Eisenbahnlinien beginnen,. Der Minister bezeichnete das als „fast unmöglich“ und witzelte: “ Die Alternativen dazu wären, entweder die Beiträge anzuheben oder Ölquellen zu entdecken.“ Nach diesem Anflug von Fatalismus versicherte Di Bartolomeo aber, das Problem sei lösbar: Um eine „Rentenmauer“ handle es sich nur, wenn „wir weiter dauernd aufs Gaspedal drücken, die Hand vom Steuer lassen und ignorieren, dass es auch ein Bremspedal gibt.“
Indem er das Umlagesystem für finanzierbar erklärt. scheint der Minister der Finanzlobby eine Absage zu erteilen. Doch die bisher von ihm vorgelegten Details zur Reform könnten das System tief verändern und schwächen. An erster Stelle steht Di Bartolomeos Vorschlag, „aus arithmetischen Gründen“ die Lebensarbeitszeit zu verlängern (woxx 1061). Weil das zwar demnächst entschieden wird, aber erst in etlichen Jahren gelten soll, kann der Minister hoffen, eine solche „Reform“ ohne politischen Schaden durchzusetzen. Grundsätzlich sind im Regierungsprogramm von 2009 auch Beitragserhöhungen und alternative Finanzierungsquellen vorgesehen – mit dem Schönheitsfehler, dass den Arbeitgebern vor einem Monat im Rahmen der Bipartite zugesichert worden war, bis 2014 keine Erhöhung der Lohnnebenkosten vorzunehmen.
Bleiben schließlich die Leistungssenkungen – wobei sich die PolitikerInnen aller Couleur verständlicherweise scheuen, das Wort auszusprechen. Doch der Nachdruck, mit dem sie betonen, man werde auf keinen Fall die „kleinen Renten“ anrühren, lässt erkennen, dass das Niveau der übrigen Renten zur Disposition steht. Dazu passt auch, dass die steuerliche Förderung der Zusatzrenten für Besserverdienende von sämtlichen Parteien außer ADR, Déi Lénk und KP befürwortet wird. Diese staatliche Förderung der Kapitalisierung wiederum würde die Finanzlobby freuen – und von den BürgerInnen als Zeichen des Misstrauens gegenüber dem Umlageverfahren verstanden werden.
Abschied von den einfachen Lösungen
Ob das Umlageverfahren eine Kapitalisierung mit ungedeckten Schecks ist, wie es die neoliberale Analysen suggerieren, oder die Kapitalisierung ein verkapptes, aber unsoziales Umlageverfahren, wie linke Theoretiker es sehen, diese grundsätzliche Frage wird innerhalb der gemäßigten Linken – Sozialdemokratie und Grüne – ausgeblendet. Immerhin gibt es eine Art linken Konsens über das Festhalten am Umlageverfahren und über die Wichtigkeit von Umverteilungsmechanismen innerhalb des Rentensystems, zum Beispiel bei den garantierten Mindestrenten für GeringverdienerInnen.
Auf Seiten der Gewerkschaftsbewegung und der radikalen Linken ist die Bereitschaft, sich auf theoretischer Ebene mit der Rentenproblematik zu befassen, größer – und damit auch die Vielfalt der Standpunkte. Das belegt das Dossier zu diesem Thema in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Forum, das auf den Beiträgen (größtenteils auf Französisch) zu einem vom linken Thinktank Transform veranstalteten Seminar basiert.
Interessanterweise hat in den vergangenen zehn Jahren eine bestimmte Sichtweise an Popularität eingebüßt, nämlich die, dass es kein Rentenproblem gebe und Anpassungen folglich unnötig seien. Dies konnte nur behaupten, wer das Vier-Prozent-Wachstum von Wirtschaft und Arbeitkräften endlos fortschreiben wollte, wie Sylvain Hoffmann von der Chambre des salariés (CSL) in seinem Beitrag erstaunlich offen zugibt: „Das jetzige System ist langfristig nur haltbar bei einem kontinuierlich starken Wachstum der Anzahl der Beitragszahler. Denn individuell betrachtet entnimmt zum jetzigen Zeitpunkt jeder Beitragszahler im Mittel mehr aus dem System als er ihm zuführt.“
Ein solches Wachstum wird allgemein als problematisch angesehen – wie Di Bartolomeos Anspielung auf die achtspurigen Autobahnen zeigt, Mittlerweile akzeptieren auch die meisten Linken die Idee, dass es „Grenzen des Wachstums“ gibt. Allerdings weist der pensionierte Statec-Experte Jean Langers in seinem Forum-Artikel darauf hin, dass im Saarland auf vergleichbarer Fläche über eine Million EinwohnerInnen leben, dass das 700.000-Einwohner-Szenario also nichts Unvorstellbares ist. Angesichts der Fantasielosigkeit und Unentschlossenheit der luxemburgischen politischen Klasse in den Bereichen der wirtschaftlichen Diversifizierung, der großregionalen Entwicklung und der Landesplanung darf man aber bezweifeln, dass sie ein solches Szenario bewältigen könnte. Außerdem würde ein rapides Wachstum in den kommenden Jahrzehnten zwar das Problem verschieben, nicht aber lösen. Und: Ob es nach dem Schock der Finanzkrise überhaupt einen dauerhaften Konjunkturaufschwung in Luxemburg geben wird, ist völlig unklar.
Innerhalb der Linken setzt sich die Ansicht durch, dass man das Pensionsproblem nicht mehr unter Verweis auf ein mögliches Weiterwachsen ignorieren kann. Doch eine Senkung des Gesamtvolumens der Rentenleistungen, wie es Robert Kieffer, Präsident der nationalen Pensionskasse, in seinem Forum-Beitrag vorschlägt, dürfte auf allgemeine Ablehnung stoßen. Problematisch ist in der Tat, dass Kieffer alle Leistungen um einen Nachhaltigkeits-Faktor reduzieren, also eine Art automatisierte Leistungssenkungen einführen will – statt eine Regelung ins Auge zu fassen, nach der über jede eventuelle Senkung neu verhandelt werden muss. Andererseits betont Kieffer, dieser Faktor schließe soziale Anpassungen der Berechnungsformeln nicht aus, im Gegenteil: „Jede Reform die darauf abzielt, übermäßige Ungleichheiten bei der Umverteilung zu eliminieren, wird einen vorteilhaften Effekt auf den Wert dieses Nachhaltigkeits-Faktors haben.“
Was ist Rentengerechtigkeit?
Eine solche „soziale“ Anpassung wurde von den Grünen formuliert: Die Absenkung der Beitragsgrenze vom fünffachen auf den dreifachen Mindestlohn, die zu einer Absenkung der höheren Pensionen in der gleichen Größenordnung führen würde. Solchen Vorschläge stehen Gewerkschaften und radikale Linke allerdings kritisch gegenüber: Sie befürchten eine Desolidarisierung der Mittelschicht gegenüber den GeringverdienerInnen, und den Einstieg in eine Privatisierung der Alterssicherung: „… die Preisgabe der egalitären Logik: das Minimum für die einen, die Privatversicherung für die anderen“, wie der „Déi Lénk“-Abgeordnete André Hoffmann in Forum warnt.
Dem Pragmatismus, wie ihn Kieffer und die Grünen verkörpern, haben ihre linken Kritiker jedoch keine einheitliche Analyse entgegenzusetzen. Die von Hoffmann idealisierte „egalitäre Logik“ findet sich in der Luxemburger Realität gar nicht: Pensionen in der Größenordnung des fünffachen Mindestlohns werden zurzeit aus staatlichen Steuermitteln an RentnerInnen bezahlt, die auch noch wesentlich länger leben als ihre auf Mindestrenten beschränkten AlterskollegInnen. Unausgegoren erscheint auch die linke Forderung, die Beitragsgrenze abzuschaffen, ohne aber entsprechend hohe Renten vorzusehen – eine direkte Aufforderung an die Besserverdienenden, ein Pensionssystem abzulehnen, dessen Leistungen für sie in keinem Verhältnis mehr zu den Beiträgen stünden.
Auch bei den alternativen Finanzierungsquellen, wie sie sogar im Regierungsprogramm vorgesehen sind, sind die linken Positionen uneinheitlich. Beitragserhöhungen werden grundsätzlich befürwortet, doch die Grünen und der Wirtschaftsflügel der LSAP zeigen großes Verständnis für die Forderung der Arbeitgeber nach niedrigen Lohnnebenkosten – und eine einseitige Anhebung des Arbeitnehmeranteils ist mit den Gewerkschaften wohl nicht zu machen. Allerdings befürworten die Grünen seit langem die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe, die lohnintensive Firmen bei der Rentenfinanzierung entlasten und kapitalintensive stärker heranziehen würde. Dieser Vorschlag wird im Allgemeinen von der restlichen Linken unterstützt. Allerdings warnen einige linke Ökonomen vor der innovationshemmenden Wirkung, wenn es attraktiver würde, Mindestlohnempfänger einzustellen als die Produktionsmethoden zu verbessern.
Eine besondere Position in der Finanzierungsfrage nimmt der französische Wirtschaftswissenschaftler Bernard Friot ein, der am 10. Februar auf Einladung der CSL eine Konferenz hält. Für ihn steht das Lohnverhältnis im Zentrum der sozialen Emanzipation, und die Pensionen sind nichts als ein „sozialisiertes Einkommen“. Der Rückgriff auf Abgaben und Steuern zur Finanzierung der Renten passt nicht zu dieser Logik und wird von Vertretern dieser Sicht der Dinge abgelehnt. Allerdings wird bei dieser von manchen als „theologisch“ eingestuften Diskussion ausgeblendet, dass das Luxemburger Rentensystem – wie die meisten anderen – bereits jetzt massiv durch Steuern finanziert wird und niemand das in Frage stellt.
Linke Dogmen
Andere Theoretiker betrachten die zusätzlichen Finanzierungsquellen sehr allgemein als eine Umverteilung des geschaffenen Reichtums weg vom Kapital und hin zur Arbeit – wobei die Rolle der staatlichen Umverteilung meist im Dunkeln gelassen wird. Daraus könnte man ableiten, das Rentenproblem ließe sich allein dadurch lösen, dass man „das Geld dort nimmt wo es ist“. Das ist zum einen, angesichts der politischen Kräfteverhältnisse, nicht realistisch, zum anderen nicht unbegrenzt machbar. Schließlich muss immer noch ein Teil des geschaffenen Reichtums investiert werden, um die Produktionsanlagen der Zukunft zu errichten und, mehr und mehr, die Umweltschäden der Vergangenheit zu reparieren.
Bleibt die Variable der Lebensarbeitszeit, auf die ein Forum-Artikel des Arztes Michel Pletschette eingeht. Der Autor warnt vor einer blinden Arbeitszeitverlängerung, denn: „So lange die gesundheitliche Situation eines größeren Teiles der Bevölkerung nicht verbessert wird, lässt sich kein Gleichgewicht und keine Gerechtigkeit des Rentensystems erreichen.“ Interessanterweise lehnt Pletschette eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit infolge der verlängerten Lebenserwartung nicht grundsätzlich ab, sondern kritisiert die Bedingungen, die eine solche Verlängerung derzeit als kontraproduktiv erscheinen lassen.
Allerdings gilt für viele Linke das Rentenalter als unantastbar, weil man diese, dem Kapital abgerungene „freie Zeit“ nicht wieder hergeben will. Alternativ zu dieser starren Position könnte man prioritär dafür eintreten, die Arbeitsbedingungen während der „unfreien Zeit“ zu verbessern, zum Beispiel durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Davon würden alle ArbeitgeberInnen gleichermaßen profitieren, und zwar zu einer Zeit, wo sie sich noch bei guter Gesundheit befinden.
Auch das Argument, eine spätere Pensionierung verhindere die Einstellung junger Arbeitnehmer, steht für eine malthusianische Sicht der Ökonomie, die der Linken eigentlich fremd ist. Jugendarbeitslosigkeit ist in erster Linie ein Epiphänomen der allgemeinen Arbeitslosigkeit, die wiederum vor allem auf Fehlfunktionen der Marktwirtschaft zurückzuführen ist. Außerdem sind europaweit die jetzt in den Arbeitsmarkt eintretenden Generationen weniger zahlenstark als ihre Vorgängerinnen, und viele Experten befürchten einen Arbeitskräftemangel. Und schließlich ist, auf Luxemburg bezogen, die Arbeitslosigkeit keine Folge des Mangels an Arbeitsplätzen, sondern der Inadäquation zwischen Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt.
Dennoch gibt es, neben dem von Pletschette angeführten, noch einen triftigen Grund, die von Di Bartolomeo avisierte Erhöhung des Renteneintrittsalters abzulehnen. Die Gewerkschaften verweisen in dieser Frage zu Recht auf die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeber, ältere Arbbeitnehmer weiter zu beschäftigen. Der Minister hat während der Oreintierungsdebatte in der Chamber angekündigt, die Erhöhung des durchschnittlichen Rentenalters durchzusetzen, indem er die Pensionen jener kürzt, die „zu früh“ in Rente gehen. Beides zusammengenommen wird kaum den Effekt haben, dass die Arbeitnehmer länger in den Unternehmen bleiben, sondern vor allem dazu führen, dass für viele „Zwangspensionierte“ geringere Renten gezahlt werden. Der Verdacht, man wolle unter dem Vorwand der Verlängerung der Lebensarbeitszeit eigentlich die Rentenleistungen herabsetzen, liegt nahe.
Doch, wie mehrere Forum-Beiträge betonen, sollte sich die Linke nicht nur auf die Arithmetik von Arbeitszeit und Rentenanspruch konzentrieren, sondern die Diskussion über die Pensionen zu einer Debatte über die Politik des Dritten Alters ausweiten. Damit würde sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden, finanzielle und wirtschaftliche Mechanismen nicht als isolierte Größen zu nehmen, sondern sie in ihrer Einbettung in soziale und politische Zusammenhänge zu betrachten.
Rundtischgespräch zur Rentenreform am kommenden Mittwoch 19. Januar 18h30 im Carré-Rotondes, organisiert von Forum und moderiert vom Autoren (Details: siehe woxx-Agenda oder www.forum.lu).