Bald werden die Reaktoren im Kernkraftwerk Cattenom ihre vierzigjährige Laufzeit erreicht haben. Frankreich will sie weiterhin laufen lassen – doch es gibt große Bedenken, was die Sicherheitsstandards angeht.

Am 10. Oktober 1986 – wenige Monate vor der Inbetriebnahme des ersten Reaktorblocks – besetzten Aktivist*innen von Robin Wood in einer spektakulären Aktion einen Kühlturm von Cattenom. (Foto: CC BY Hinrich Schultze/Robin Wood)
Am 21. März kam es in der Luxemburger Energiepolitik zu einer Art Dammbruch. Premierminister Luc Frieden (CSV) verlautbarte eine gewisse Offenheit gegenüber Kernkraft in anderen europäischen Ländern. Man könne diesen nicht vorschreiben, wie sie von fossilen Energien wegkommen sollten, wiederholte er auch bei seinem Versuch zurückzurudern. Luxemburg bemühe sich auch weiterhin, Frankreich und Belgien zur Schließung der grenznahen Kernkraftwerke zu bewegen.
Nach Friedens Aussagen zur Kernenergie wird auch auf europäischer Ebene viel diskutiert und spekuliert. Wie Radio 100,7 berichtete, sei Luxemburg seitdem sowohl auf dem Radar von Anti-Atom-NGOs als auch auf jenem der Kernenergie-Lobby. Thomas Lewis von dem Klimabündnis Climate Action Network äußerte gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Sender Bedenken über das Fortbestehen einer kleinen Gruppe von EU-Ländern, die sich verstärkt für die Finanzierung erneuerbarer Energien und gegen Kernkraft einsetzen. Dieser Gruppe gehören neben Luxemburg zum Beispiel Spanien und Österreich an. Letzteres Land war es auch, das eine Klage gegen die EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen, in der Investitionen in Kernkraft unter gewissen Bedingungen als „nachhaltig“ gelten, eingelegt hatte. Diese hatte Luxemburg medienwirksam unterstützt.
Im Januar hatte der Déi Lénk-Abgeordnete David Wagner mittels parlamentarischer Anfrage nachgefragt, wie aktuell diese Unterstützung noch sei. Damals lautete die nichtssagende Antwort der Regierung, man warte auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. In Österreich sieht man jedoch keinen Gesinnungswandel: „Luxemburg ist ein fixer Bestandteil der von Österreich initiierten Gruppe ‚Friends for Renewables‘. Diese Mitgliedsstaaten engagieren sich EU-weit für die weitere Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Das hat sich auch nicht mit dem Regierungswechsel geändert. Die Zusammenarbeit zwischen Österreich und Luxemburg funktioniert sowohl auf fachlicher als auch auf politischer Ebene gut“, hieß es auf der Nachfrage der woxx aus dem österreichischen Umweltministerium. Manche Medien wie etwa Euractiv bezeichnen die „Friends for Renewables“ als von Österreich geführt.
Cattenom wird alt
Als die Regierung im Februar Wagners Frage beantwortete, betonte sie auch, man bemühe sich außerdem um eine Schließung der Risiko-Kernkraftwerke Cattenom, Tihange und Doel. Demnächst könnte erkennbar werden, wie ernst sie es mit dieser Aussage meint. Immerhin steht in den nächsten Jahren die Entscheidung über eine Verlängerung der Laufzeit des französischen Kernkraftwerkes an. Cattenom verfügt über vier Kraftwerksblöcke mit 1.300 MWe („Megawatt electric“) Leistung. Zwischen 2027 und 2033 werden alle vier vierzig Jahre alt. Damit wäre ihre vorgesehene Laufzeit eigentlich zu Ende. Die Betreibergesellschaft Électricité de France (EDF) könnte die Reaktoren vom Netz nehmen und den Rückbau vorbereiten, und Luxemburg – vermutlich der einzige Staat der Welt, dessen Existenz davon abhängt, dass in einem einzigen Kernkraftwerk kein großer Unfall passiert – könnte aufatmen.

(Foto: CC BY Gilles FRANCOIS/Flickr)
Es ist kein Zufall, dass der letzte Satz im Konjunktiv steht. In Frankreich gibt es keine Begrenzung der Laufzeit, auch wenn die Kraftwerke nur auf 40 Jahre ausgelegt waren. Die zuständige Behörde, die Autorité de la sûreté nucléaire (ASN) führt eine Sicherheitsüberprüfung durch und entscheidet dann, ob der Betrieb für weitere zehn Jahre gestattet wird. Seit Januar und bis Ende Juni läuft in diesem Rahmen eine öffentliche Konsultation, die vom Haut comité pour la transparence et l‘information sur la sécurité nucléaire (HCTISN) durchgeführt wird. Dabei geht es nicht um ein spezielles Kernkraftwerk, sondern um die Vorschriften, die für sämtliche 1.300-MWe-Reaktoren gelten sollen. Neben französischen Bürger*innen sind auch die Bewohner*innen von Deutschland und Luxemburg eingeladen, ihre Meinung kundzutun.
Das ist sicherlich mit ein Grund, weswegen Greenpeace am Donnerstag einen Bericht über die Sicherheitsschwächen der Cattenom-Reaktoren veröffentlichte. Verfasst wurde dieser vom Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins, der der Meinung ist, dass die 1.300-MWe-Reaktoren nicht mehr den aktuellen Anforderungen genügen. „Diese Reaktoren wurden in den 1970er-Jahren entwickelt, deswegen sind die Erkenntnisse aus den Katastrophen, die die heutigen Sicherheitsnormen bestimmen, natürlich noch nicht eingeflossen“, so Mertins gegenüber der woxx. Die Katastrophen sind die Reaktorunfälle und -havarien in Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima, aber auch der Terroranschlag vom 11. September 2001.
Ein wichtiger Faktor für die Sicherheit von Kernkraftwerken ist die Redundanz. Kritische Systeme müssen mehrfach vorhanden sein, damit ein Ausfall eines Systems nicht dazu führt, dass bei einem Unfall eine Katastrophe passiert. Doch die meisten Sicherheitssysteme der 1.300-MWe-Reaktoren wie etwa Notstromaggregate oder die Steuerungssysteme sind nur zweifach vorhanden. Andere sind sogar vermascht, sind also nicht komplett unabhängig voneinander. So nutzen verschiedene Notfallsysteme einen einzigen Vorratsbehälter für Wasser oder sogar gemeinsame Rohrleitungen. Dadurch könnte etwa bei einem Brand oder einem Rohrbruch das gesamte Sicherheitssystem ausfallen.
Klimakrise gegen Kernkraftwerke
„Das wäre heute nicht mehr zulässig“, erklärt Mertins, „denn die heutigen Anforderungen besagen, dass alle Systeme dreimal vorhanden sein müssen.“ Der aktuelle Standard ist jener des European Pressure Reactors (EPR). An den Sicherheitsanforderungen für diesen Reaktortyp hat Mertins mitgearbeitet. „Das Ziel war es, dass bei einem Unfall keine Radioaktivität entweichen kann.“ Viele dieser Reaktoren gibt es noch nicht, denn so gut wie überall kam es zu großen Verzögerungen beim Bau. Bisher produzieren Taishan 1 und 2 in China und Olkiluoto 3 in Finnland Strom, während in Flamanville und Hinkley Point noch gebaut wird.
Eine Ironie der Geschichte ist es wohl, dass Kernkraftwerke von ihren Befürworter*innen gerne als Klimaretter dargestellt werden, sie selbst jedoch nicht sehr gut mit den Veränderungen des Klimas zurechtkommen. In den 1970ern war noch nicht bedacht worden, wie die Klimakrise neue Bedrohungen schaffen würde: Die Kernkraftwerke seien nicht auf die erwarteten extremen Stürme und Hochwasser ausgelegt, heißt es in dem Bericht, den Mertins für Greenpeace verfasst hat. Die Vergangenheit zeigte schon, dass Kernkraftwerke in Zeiten extremer Dürre ihre Leistung zurückfahren mussten, da nicht genug Kühlwasser aus Flüssen entnommen werden konnte.
Eine weitere Schwachstelle, die erst nach 2001 ins Bewusstsein der meisten Menschen gerufen wurde: Cattenom ist lediglich auf den Absturz einer kleinen Sportmaschine vorbereitet, eine große und schwere Passagiermaschine könnte eine Katastrophe auslösen. Besonders das Lagerbecken für genutzte Brennstäbe sei nur sehr gering gegen Flugzeugabstürze geschützt, so Mertins. „Man könnte diese Lagerhalle zwar neu bauen, das wäre möglich, aber es ist nicht vorgesehen.“
Um eine Laufzeitverlängerung zu bekommen, müssen laut der ASN drei Ziele erreicht werden: Es muss nachgewiesen werden, dass die Reaktoren den geltenden Vorschriften entsprechen, die Alterung der Systeme muss kontrollierbar und nachvollziehbar sein und das Sicherheitsniveau muss auf die neuen Sicherheitsanforderungen angehoben werden.
Nachrüstung nicht so einfach möglich
Letzteres würde heißen, dass Cattenom nachgerüstet werden muss. Doch so einfach ist das nicht, wie Mertins erklärt: „Es ist nicht so leicht möglich, eine dritte Redundanz aufzubauen, zumindest nicht ohne sehr viel Geld in die Hand zu nehmen. Zum Teil ist der Platz auch einfach nicht vorhanden.“ Ein präventives Sicherheitssystem sei nicht möglich, weswegen man sogenannte mitigative Systeme einbaue. „Es gibt Pläne, einen Core-Catcher einzubauen, der im Falle einer Kernschmelze eine Barriere bilden soll. Allerdings ist es noch nicht klar, ob dies bei 1.300-MWe-Reaktoren möglich ist, da diese eine andere Geometrie und Betonqualität haben.“ Eine weitere geplante Nachrüstung ist die des „noyeau dur“, auch als „Hardened Safety Core“ (HSC) bezeichnet. Durch das HSC-System, das nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima entwickelt wurde, soll die Notkühlung wichtiger Komponenten des Reaktors auch dann möglich sein, wenn Unfälle passieren, für die das Kraftwerk ursprünglich nicht ausgelegt war. Laut Mertins’ Bericht ist jedoch nicht klar, wie die Wärme, die bei einem Reaktorunfall entsteht, langfristig abgeleitet werden kann.
Bei Cattenom komme zusätzlich hinzu, dass die Sicherheitskultur nicht besonders gut sei und immer wieder unerwartete Probleme in dem Kernkraftwerk aufgetreten seien, so Mertins gegenüber der woxx. Ein Beispiel dafür sind die Probleme mit Korrosion, die letztes Jahr in vielen französischen Kraftwerken entdeckt wurden. Bei der anschließenden Überprüfung stellte sich heraus, dass der größte und tiefste Riss an einer Stelle gefunden wurde, die ursprünglich als weniger anfällig für Probleme mit Korrosion eingeschätzt wurde. „Wir haben hier ein ungünstiges Zusammentreffen von Sicherheitskultur und Auslage der Anlage“, so Mertins.
Trotz all dieser Probleme schätzt Mertins, dass die ASN Cattenom und anderen 1.300-MWe-Reaktoren eine Genehmigung erteilen wird. „Im Grunde müssten diese Anlagen abgestellt und neu genehmigt werden. Beim EPR sind die Kosten sehr hoch und die zeitlichen Abläufe sehr langwierig, weil wir beschlossen haben, dass die Sicherheit von Mensch und Natur uns das wert ist. Wenn es aber nun zwei verschiedene Sicherheitsstandards gibt, einen für neue Reaktoren und einen für alte, dann verstehe ich nicht, wie das funktionieren soll.“ Im Endeffekt müsse die Behörde aber die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen.
Greenpeace Luxemburg ist – wenig überraschend – nicht für eine Verlängerung der Laufzeit. Die NGO fordert eine Stilllegung des Reaktors nach Ablauf der Laufzeit, und die Luxemburger Bevölkerung auf, sich an der Online-Konsultation der HCTISN zu beteiligen. Außerdem hat sie eine Petition für die Stilllegung ins Leben gerufen. Unklar bleibt, ob es auch wie ankündigt diplomatischen Druck von der Regierung geben wird. Der Koalitionsvertrag sähe so etwas eigentlich vor – doch bisher hat die CSV-DP-Regierung schon mehrmals gezeigt, dass sie in Sachen Energiepolitik eher unkoordiniert vorangeht.
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„Angesichts der Mängel, Unsicherheiten und Risiken, muss die Laufzeitverlängerung von Cattenom 1 verhindert werden. Eine Genehmigung für den Betrieb nach Ablauf der 40-jährigen Laufzeit stellt ein Sicherheitsrisiko für uns alle dar.“ Roger Spautz, Greenpeace Luxemburg
Am 10. Oktober 1986 – wenige Monate vor der Inbetriebnahme des ersten Reaktorblocks – besetzten Aktivist*innen von Robin Wood in einer spektakulären Aktion einen Kühlturm von Cattenom.Foto: CC BY Hinrich Schultze/Robin Wood