In Russland fand am Freitag vergangener Woche der „Russische Marsch“ statt, ein Zusammentreffen russischer Rechter. Einen Monat vor den Parlamentswahlen ist der Marsch fast die einzige öffentliche Oppositionsveranstaltung.
Genau einen Monat vor den Parlamentswahlen wird in Russland marschiert. Die Kremlpartei „Einiges Russland“, Rechtspopulisten um Wladimir Schirinowski und Verfechter eines „Russlands für Russen“ nutzten den arbeitsfreien 4. November, den „Tag der Volkseinheit“, jeweils zur Agitation und für ihren Wahlkampf. Landesweit gingen Zehntausende Menschen auf die Straße. Zahlreiche symbolhafte Gesten, wie beispielsweise eine vom „Einigen Russland“ initiierte Menschenkette im Stadtzentrum von St. Petersburg, täuschten traute Einigkeit vor. Selbst in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny präsentierten sich Mitglieder des nach dem Republikführer benannten patriotischen Clubs „Ramsan“ mit handgemalten Transparenten, deren Aufschriften „Ein Land, eine Geschichte“ und „Russland braucht mich“ Loyalität gegenüber dem Kreml suggerierten.
Auch Rechtsradikale verschiedener Provenienz sind am 4. November zum siebten Mal in Folge dem Aufruf zum „Russischen Marsch“ gefolgt. Mit etwa 7.000 Teilnehmern geriet der diesjährige Aufmarsch zur bislang größten. 20.000 Marschierende hatten die Veranstalter angekündigt, Dmitrij Djomuschkin, einer der Initiatoren und Anführer des verbotenen „Slawischen Bundes“, brüstete sich gar mit 25.000 erwarteten Teilnehmern. Wenige Tage vor dem Marsch hatte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Aufrufs zu Hass und zu Massenunruhen gegen ihn eingeleitet, weil er in einem Interview Ausschreitungen angedroht hatte, sollte der Marsch keine Genehmigung für das Stadtzentrum erhalten. Wie in den Vorjahren verbannten die Behörden den „Russischen Marsch“ an den Stadtrand, der Aufstand blieb aus.
Neben Ikonen und anderem religiösen Beiwerk dominierte auf dem Marsch die russische imperiale Flagge in allen Größen, mit einer Hakenkreuzfahne waren aber auch eindeutige NS-Symbole vertreten. Passend dazu skandierten die Marschierenden „Russland den Russen“, „Macht für die Weißen“ oder „Schluss mit der Fütterung des Kaukasus“ und sangen antisemitische Spottlieder.
Wenngleich ein wachsender Teil der russischen Bevölkerung Vorbehalte gegen Migrantinnen und Migranten hat, gilt vielen der „Russische Marsch“ wegen seiner Affinität zum Faschismus als unseriös. Sie wollen sich nicht in der Schmuddelecke mit zu Gewalt neigenden Neonazis wiederfinden. Ohne diese Hemmschwelle hätten womöglich noch mehr Menschen teilgenommen. Jüngsten Umfragen zufolge unterstützt mehr als ein Viertel der Bevölkerung den Versuch, mit einem derartigen Aufmarsch Lobbyarbeit zugunsten der Russinnen und Russen im Land zu betreiben. Ähnlich geartete Veranstaltungen der Kremljugend, der Jugendorganisation von Wladimir Putins Partei „Einiges Russland“, finden interessanterweise weitaus weniger Unterstützung, was daran liegen mag, dass die Menschen von der Staatsführung und ihrem unmittelbaren Umfeld Taten statt wortgewaltige Rhetorik erwarten.
Rechtsradikale haben bei der jüngeren Generation spürbaren Einfluss, doch der Zugang zum politischen Establishment bleibt ihnen bislang verwehrt.
Gleichzeitig entwickelt sich der „Russische Marsch“ insbesondere in einigen ausgewählten Regionen immer mehr zu einem Sammelbecken für nationalistische Kremlkritiker. In der sibirischen Metropole Nowosibirsk schlossen sich die Parteien „Rechte Sache“ und „Gerechtes Russland“ dem Marsch an. Beide können sich kaum Chancen ausrechnen, die Siebenprozenthürde bei den kommenden Wahlen zu überwinden, denn sie haben sich nach Ansicht des Kremls mehr Eigenständigkeit herausgenommen, als nach den ungeschriebenen Regeln der russischen Politik erlaubt ist. Doch gerade die trüben Aussichten treiben sie umso mehr dazu, zweifelhafte Bündnispartner in Kauf zu nehmen, Hauptsache es gelingt ihnen, Präsenz zu zeigen.
Anders als im europäischen Teil Russlands, in dem die Rechte diesen Herbst mit ihrer Kampagne gegen die staatliche Finanzierung der Kaukasusrepubliken über die eigenen Reihen hinaus Erfolg hatte, spielt der Kaukasus in Sibirien keine Rolle. Auf breite Zustimmung treffen hingegen alle direkt gegen das Moskauer Macht- und Finanzzentrum gerichteten populistischen Slogans. Darin steckt ein Potenzial, das die Opposition nun nutzen will. Differenzierte Argumente, beispielsweise in Bezug auf die Subvention einiger sibirischen Regionen, die durch die Zahlungen aus dem Staatshaushalt ebenso profitieren wie der Nordkaukasus, bilden hingegen die Ausnahme.
In Moskau verhält sich die liberale Opposition in derlei Angelegenheiten zurückhaltender, doch auch hier beteiligen sich einzelne Parteienvertreter bereits seit Jahren am „Russischen Marsch“. An diesem 4. November allerdings war einer der exponiertesten Hoffnungsträger der liberalen Opposition, Aleksej Nawalnyj, der mit seinem Antikorruptionsprojekt „RosPil“ für Furore gesorgt hatte, nicht nur gewöhnlicher Demonstrationsteilnehmer und Redner, sondern gehörte dem Organisationskomitee an. Dieser Schritt erregte einiges Aufsehen, dennoch tut sich die Opposition schwer damit, sich von einem der ihren zu distanzieren. Dabei machte Nawalnyj aus seinen nationalistischen Ansichten nie einen Hehl und wurde aus diesem Grund im Jahr 2007 von der sozialliberalen Partei Jabloko ausgeschlossen.
Der blonde Hüne verlieh dem Marsch durch seinen Auftritt eine besondere Note. Trotz deutlicher Vorbehalte der rechtsradikalen Basis gegen den Politiker aus dem liberalen Lager verschaffte Nawalnyjs Unterstützung den Veranstaltern rund um die Bewegung „Russen“, einem Zusammenschluss von über 40 rechten Organisationen, unbestreitbare Vorteile. Zwar haben rechtsradikale Gruppierungen insbesondere bei der jüngeren Generation einen spürbaren Einfluss, doch der Zugang zum politischen Establishment bleibt ihnen verwehrt. In den vergangenen Monaten zeigten sich fast alle politischen Parteien offen für Verhandlungen mit den Anführern der Rechten wie Djomuschkin oder Alexander Below von der ebenfalls verbotenen „Bewegung gegen illegale Immigration“, aber anstelle erhoffter attraktiver Angebote müssen sich die Genannten mit einer Art Beraterfunktion begnügen.
Der Versuch des Kremls, die radikale Rechte durch Verbote zu neutralisieren, scheitert indes weniger an der inkonsequenten Umsetzung als daran, dass die politische Führung ihrerseits auf nationalistische Werte setzt. Gleichzeitig fehlt es an einem Konzept, das der multinationalen Zusammensetzung des Landes Rechnung trägt. Und vergeblich wartet man auf ein Wort des Bedauerns darüber, dass in Russland auch in diesem Jahr bereits über ein Dutzend Menschen infolge rassistischer Übergriffe ums Leben gekommen sind.
Angesichts der bevorstehenden Wahlen und der sichtbaren Desillusionierung weiter Teile der Bevölkerung, da das Wahlergebnis auch ohne deren aktive Teilnahme bereits festzustehen scheint, ist es kaum verwunderlich, dass die Rechte versucht, sich als politische Opposition gegenüber dem Kreml zu profilieren. Der „Russische Marsch“ am Freitag vergangener Woche war unter Mithilfe von Nawalnyj als klare Absage an die „Partei der Diebe und Betrüger“ angelegt und geriet zur größten Oppositionsveranstaltung in diesem Jahr. So ersetzt der „Russische Marsch“ in gewisser Weise den „Marsch der Unzufriedenen“, der, hauptsächlich von der liberalen Opposition getragen, noch vor wenigen Jahren als Protestplattform der Kremlgegner diente.
Während die liberale Öffentlichkeit bislang an der Frage gescheitert ist, welche Strategie für den Wahltag angemessen sei, lädt Below seine Anhänger bereits jetzt zum Stelldichein am Revolutionsplatz vor den Kremlmauern. Aktuelle Umfragewerte geben indes nicht nur der Rechten Anlass zur Hoffnung. So hat die regierende Partei „Einiges Russland“ in den vergangenen zwei Wochen neun Prozent des prognostizierten Stimmenanteils verloren. Nur noch 52 Prozent der Befragten äußerten demnach die feste Absicht, Putins Partei ihre Stimme zu geben. Beobachter machen nicht zuletzt die bereits vor Jahren geplante und Ende September unter Verweis auf diese Planung angekündigte Ämtercharade von Ministerpräsident Wladimir Putin und Präsident Dmitrij Medwedjew für den Stimmungswandel verantwortlich. Zuvor hatten die beiden immer beteuert, es sei offen, wer sich im Wahlzyklus 2011/2012 für welches Amt bewerbe. Nach den Parlamentswahlen am 4. Dezember wird im kommenden Frühjahr der russische Präsident gewählt. Die Kommunistische Partei Russlands, die gemäß der Umfrage des Lewada-Zentrums 22 Sitze mehr erhalten würden als vor vier Jahren, spricht bereits von einer „tektonischen Verschiebung“, die sich ankündige.
Ute Weinmann arbeitet als freie Journalistin und lebt in Moskau.