20 JAHRE TSCHERNOBYL: Atomkraft ist immer noch attraktiv

20 Jahre nach dem Unfall von Tschernobyl wird über ein Comeback der Atomenergie diskutiert. Doch als autonomer global player auf dem liberalisierten Energiemarkt eignet sich Atomstrom bislang nicht.

April 1986: Ein Radiologe in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl bei der Arbeit. Bleiplatten sollen vor weiterer Kontaminierung von radioaktiven Strahlen schützen.

Es war zwar kein Supergau, und doch wirkt die durch die Notabschaltung ausgelöste ºnukleare Leistungsexkursionº in Block 3 mit anschließenden Explosionen und Zusammenstürzen des 1000-Tonnen schweren Reaktordeckels im Kernkraftwerk Tschernobyl bis heute nach. Am kommenden Mittwoch jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl, die nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation etwa 4.000 strahlenbedingte Krebstodesfälle verursachte, zum zwanzigsten Mal. Bis heute sind die Folgen des bislang größten Atomreaktorunfalls nicht beseitigt. Die Bilder des „roten Waldes“, der menschenleeren Siedlungen und der kranken Kinder von Tschernobyl gingen um die Welt.

Zwei Jahrzehnte später sind die Risiken der Kernkraft in den Hintergrund der Diskussion getreten. Doch wer seinen Atomkraft-Nein-Danke-Button in den Setzkasten geräumt hat und dachte, der Ausstieg sei längst beschlossene Sache, könnte sich getäuscht haben. Denn auch wenn das Geschäft mit der nuklearen Energie nicht unbedingt boomt, reden manche derzeit von einem Comeback der Atomenergie. Schuld sind vor allem die steigenden Öl- und Gaspreise sowie die schier unerreichbaren Kyoto-Ziele. Gerade weil diese Art der Energiegewinnung sich gut in der CO2-Bilanz macht, stieg die Attraktivität der Kernenergie in den vergangenen Jahren für manche Regierungen wieder deutlich an.

EU weiterhin auf Kernkraftkurs

Zwar sprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Frühlingsgipfel erstaunlich klar für die Förderung von erneuerbaren Energien aus. Dennoch wollte man sich keineswegs auf einen europäischen Weg jenseits der Atomkraft einigen. Erst am 8. März hatte EU-Kommissionspräsident José Barroso ein Grünbuch zur Energie vorgelegt. „Wir brauchen einen neuen Ansatz“, so Barroso, „wir können es uns nicht mehr leisten, 25 verschiedene Politiken zu betreiben“. Europa soll deshalb nun auch eine „Debatte ohne Tabus“ über die Zukunft der Atomkraft führen. Es sei allerdings nicht das Ziel Brüssels, sich in die Entscheidungen der Mitgliedstaaten, etwa bei der Kernkraft, einzumischen. Die EU als Institution könne lediglich dabei helfen, alle Kosten sowie Vor- und Nachteile der Nuklearenergie für eine objektive und offene Diskussion aufzulisten, heißt es in dem Grünbuch.

In anderen EU-Grundsatzpapieren wird die Atomenergie immer noch ganz offiziell propagiert. Etwa im Vertrag der Europäischen Atomgesellschaft Euratom, der seit 1957 den Umgang in der EU mit Nuklearenergie regelt. Aufgabe der Atomgemeinschaft sei es, heißt es dort in Artikel 1, durch „die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten (…) beizutragen“. Das klingt nicht so, als ob Brüssel das Ende der Atom-Ära einläuten wolle. Zahlreiche NGO kritisieren in diesem Zusammenhang die weitere Subventionierung der Atomenergie auf EU-Niveau. Im aktuellen Vorschlag der Kommission für das Forschungsrahmenprogramm wird einmal mehr der Nuklearenergie eine Sonderposition eingeräumt. „Während die Forschung im gesamten Energiebereich mit 2.951 Millionen Euro im Budget vermerkt ist, sollen laut Euratom-Programm allein der Atomenergie 4.753 Millionen zustehen“, bemängelt die Organisation Friends of the Earth in einem Communiqué.

Bislang kein Comeback

Da jedoch die Schaffung von Mehrwert auch die Karriere der Produkte auf dem Energiemärkten bestimmt, lohnt sich ein Blick auf die wirtschaftliche Seite des Atomstroms. Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt deutlich: Auf dem realen Energiemarkt lässt die Renaissance der Atomkraft bislang auf sich warten. Der Boom der AKW der 70er und 80er Jahre ist gebrochen, in den vergangenen zehn Jahren wurden vergleichsweise wenige neue Atomzentralen gebaut. Weltweit sind rund 440 Atomkraftwerke in Betrieb. Diese decken nicht einmal ein Fünftel der gesamten Stromproduktion ab. In Europa, wo die 240 bestehenden AKWs immerhin ein Drittel der Stromproduktion abdecken, stellt sich dieses Verhältnis allerdings anders dar. Derzeit werden weltweit 23 neue Kernkraftwerke gebaut, davon fünf in Europa. Pläne für neue AKW gibt es in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und in den drei Baltenrepubliken.

Dennoch gehen Wissenschaftler davon aus, dass in den kommenden 20 Jahren die Bestellmengen für neue Reaktoren weiterhin auf einem niedrigen Niveau bleiben. Felix Christian Mathes, Koordinator des Forschungsbereichs Energie und Klimaschutz vom Freiburger Ökoinstitut führt dies neben dem öffentlichen Widerstand gegen Atomenergie und den steigenden Sicherheitsanforderungen sowie der besseren konkurrierenden Technologien zur Energieerzeugung auch auf die wirtschaftlichen Probleme der AKW nach der Liberalisierung der Energiemärkte zurück.

Zusammen mit anderen Wissenschaftlern hat Mathes pünktlich zum 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe im Auftrag der Heinrich Böll-Stiftung die Publikation „Mythos Atomkraft“ herausgebracht. Darin kommt auch Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe zum scheinbar paradoxen Schluss: Die Markteinführung der Kernenergie gelang eigentlich deswegen, weil es den Strommarkt nicht gab, der sie hätte unwirtschaftlich machen können. Rosenkranz schreibt deshalb dem Staat eine tragende Rolle zu. „In einem liberalisierten, funktionierenden Strommarkt ist der Zubau neuer Atomkraftwerke für die Unternehmen bis heute nicht attraktiv.“ Der Grund: Es gibt günstigere Optionen, mit nicht annähernd vergleichbaren Risiken. Dies ändere sich nur dann, wenn die öffentliche Hand wie einst bei der Einführung der Atomenergie einen Großteil der Risiken übernehme. „Ohne massive staatliche Interventionen wird es eine Wiederbelebung der Atomtechnik nicht geben“, so Rosenkranz, der jedoch angesichts steigender Strompreise und Klimaschutzverpflichtungen durchaus die Gefahr sieht, dass „verschiedene Staaten es befürworten, der Atomindustrie erneut Starthilfe zu geben“.

Ohne staatliche Hilfe kein Atomstrom

So lange es diese Zusicherung nicht gibt, scheuen jedoch die meisten Energieunternehmen vor dem Bau neuer Kernkraftwerke zurück. Die Tendenz geht deshalb zur längeren Laufzeit, schlussfolgert Steve Thomas von der Greenwich University in seiner aktuellen Studie über die Wirtschaftlichkeit von Atomkraftwerken. Angesichts mangelnder Preisgarantien und Subventionen seien die meisten Energieunternehmen entschlossen, ihre bestehenden Anlagen so lange wie möglich weiter zu betreiben. Relativ geringe laufende Kosten stehen hier sehr hohen Baukosten entgegen. Der Mangel an zuverlässigen Daten über die bestehenden Atomkraftwerke erschwere jedoch fundierte Analysen, so Thomas, der dem Atomstrom ebenfalls ohne staatliche Unterstützung keine guten Chancen als global player einräumt. Neue Atomkraftwerkprojekte existierten nur dort, wo diese Form der Stromerzeugung ein Teil der Staatsdoktrin sei, so Thomas, oder dort, wo staatliche Stellen bereit seien, „bei der Absicherung sicherheitstechnischer und finanztechnischer Risiken in Vorlage zu treten“.

Analysen, die bezeugen, dass Atomkraft heute nicht wesentlich sicherer ist als vor 20 Jahren, gibt es mehrere. In „Mythos Atomkraft“ fasst Antony Froggatt das Ergebnis seiner Studie so zusammen: „Alle in Betrieb befindlichen Reaktoren weisen schwerwiegende inhärente Sicherheitsmängel auf, die sich auch durch nachträgliche Verbesserungen der Sicherheitsmaßnahmen nicht beheben lassen.“ Zudem weist nicht nur er auf das höhere Risiko von AKWs in Bezug auf terroristische Anschläge sowie auf längere Laufzeiten hin. Über altersbedingte Abnutzungsprozesse wisse man bislang zu wenig, so Froggatt.

Neben diesen nur schwer berechenbaren Risiken stellen Atomkraftwerke ein ganz reales Problem dar: sie liefern hochgefährlichen Atommüll. In der Verantwortung für die Lösung dieses Problems dürfte gesamtgesellschaftlich und auch historisch gesehen eine der größten Herausforderungen liegen. Denn daran, dass Uran-Abfälle mehrere Hunderttausend Jahre strahlen, können auch neueste Technologien nichts ändern. Und für radioaktiven Abfall gibt es bislang weltweit kein Endlager. „Bislang muss die Allgemeinheit für die Lagerung des Atommülls aufkommen – Uran kann steuerfrei beschafft werden, zudem ist die Risikorückstellung steuerfrei, der Versicherungsschutz unzureichend und darum zu billig“, fasst Henrik Paulitz von „Ärzte gegen Atomkrieg“ die immer noch sehr günstigen Bedingungen für Atomstrom zusammen.

Zumindest vorübergehend ließ sich das Abfallproblem bislang jedoch lösen. Im argumentativen Schlagabtausch könnte der ewig strahlende Atommüll sowie die Sicherheitsrisiken weniger wiegen als die kurzfristig positiven Wirkungen der Kernenergie im Kampf gegen den Klimawandel. Doch nicht nur die ökologischen, auch die wirtschaftlichen Folgen des Nichteinhaltens der Kyoto-Ziele sind derzeit nur schwer vorhersehbar. Und da sowohl der Marktwert des Atomstroms wie auch der eines bestimmten Potentials zur CO2-Reduzierung je nach staatlicher Förderung und politischen Rahmenbedingungen stark schwanken kann, bleibt die Frage nach dem Comeback der Kernenergie weiterhin offen.


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