BRASILIEN: Brot und Spiele

Um die Metropole am Zuckerhut auf die Fußball-WM und Olympischen Spiele vorzubereiten, werden die Favelas von Rio de Janeiro mit einem Riesenaufgebot an Sicherheitskräften „befriedet“. Hauptsächlich jedoch werden die Probleme in andere Stadtgebiete verlagert.

The Games must go on: 170 Millionen Euro sollen vor der WM im nächsten Jahr in die Armenviertel Rios investiert werden – nicht einmal halb so viel Geld, wie in die Sanierung eines einzelnen Fußballstadions.

Anderson dos Santos steht vor der Tür des winzigen Hauses, in dem er zusammen mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern auf einer Fläche von etwa 25 Quadratmetern wohnt. Seinen Vater kennt er nicht. Der Elfjährige macht sich auf den Weg durch die engen Gassen von Cantagalo, einer Favela im Süden von Rio de Janeiro. Er spricht nicht viel. Einer seiner Freunde, der gleichaltrige Israel, schließt sich ihm an. In Flip-Flops und mit schnellen Schritten gehen die beiden durch das Labyrinth von engen Gassen und Treppen zwischen unverputzten Häusern und Baracken. „Hier ist meine Schule“, sagt Anderson beiläufig, als er an einem frisch gestrichenen Gebäude vorbeikommt. Er winkt einem Mädchen zu. „Meine Schwester.“ Er lächelt.

Ein paar Meter weiter gelangt er zu einem Platz, der einen Panoramablick über die Häuser unterhalb der Favela und auf den benachbarten „Morro“ bietet, wie die von Armenvierteln übersäten Hügel heißen, die Rio de Janeiro zu einem Flickenteppich der sozialen Gegensätze machen. Anderson setzt sich auf eine Mauer und zeigt auf den berühmten Strand von Ipanema, der zwischen den Hochhäusern zu sehen ist. Ein Aufzug verbindet Cantagalo mit dem Viertel der Reichen und Schönen. Die Fahrt mit dem Lift von einer Welt in die andere dauert weniger als eine Minute.

Im Jahr 2006 erhielten rund elf Millionen Familien, etwa 45 Millionen Personen, Beihilfe – ein Viertel aller Brasilianer. 35 Millionen Arme schafften den sozialen Aufstieg.

Das Leben in dem mondänen Südbezirk ist für die rund 5.000 Bewohner Cantagalos und der angrenzenden Favela Pavão-Pavãozinho ein unerreichbarer Traum. Andererseits war es für Fremde und die reichen Einwohner Rios aus Ipanema und Leblón vor ein paar Jahren ebenso undenkbar, einen Fuß in die Favelas zu setzen. Auf den Morros herrschte die Gewalt. Das mit seinen übereinander gebauten Behausungen am Hang gelegene Pavão-Pavãozinho erhielt wegen der Einschläge von Granaten in den Häuserwänden den wenig schmeichelhaften Zweitnamen „Sarajevo“.

„Ständig gab es Schießereien, die Drogenbanden hatten Cantagalo in der Hand“, erinnert sich Esra, der von den meisten schlicht Lula genannt wird, so wie das frühere brasilianische Staatsoberhaupt Inácio Lula da Silva, der Vorgänger der jetzigen Präsidentin Dilma Rousseff. „Oft starben Menschen dabei“, erzählt Lula. „Die meisten waren jung, manche kaum zwanzig Jahre alt.“ Einige Namen der Toten sind an den Wänden verewigt, manche waren Bosse von Gangs wie dem berüchtigten „Comando Vermelho“ (Rotes Kommando). Sie hatten die Favelas fest in ihrem Griff.

Das „Comando Vermelho“ (CV) entstand in den Siebzigerjahren als Widerstandsgruppe von Häftlingen in den Gefängnissen des Bundesstaates Rio de Janeiro und wuchs im Lauf der Jahrzehnte zu einem Kartell an, das über mehr als 5.000 schwer bewaffnete „soldados do morro“ verfügt, die heute 40 Prozent des Drogenmarktes von Rio kontrollieren und ihre Reviere gegen feindliche Gangs, Milizen und gegen die Polizei verteidigen. Viele „soldados do morro“ erreichen kaum das 25. Lebensjahr.

Die beiden Anführer Fernandinho Beira-Mar und Elias Maluco erlangten zweifelhafte Berühmtheit. Der eine organisierte zusammen mit der kolumbianischen Rebellenorganisation FARC den Kokaintransport nach Brasilien. Der andere soll 2002 den Journalisten Tim Lopes, der in den Favelas recherchiert hatte, mit einem Samurai-Schwert geköpft haben. Heute sitzen sowohl Beira Mar als auch Maluco hinter Gittern.

Die Regierung von Lula da Silva, selbst Sprössling einer armen Familie aus dem Nordosten, machte mit Sozialprogrammen wie „Bolsa Familia“ international von sich reden. Eltern erhalten Geld, wenn sie ihre Kinder impfen lassen und zur Schule schicken. Im Jahr 2006 erhielten rund elf Millionen Familien, etwa 45 Millionen Personen, die Beihilfe – ein Viertel aller Brasilianer. Damit wurde die Not vieler gelindert. 35 Millionen Arme schafften den sozialen Aufstieg.

An der Situation in den Favelas änderte sich jedoch wenig. Schon gar nicht an der wuchernden Kriminalität. Die von Lulas Arbeiterpartei angeführte Regierung verzeichnete zwar ökonomische Erfolge und setzte mit ihrem pragmatischen Kurs Brasiliens Weg als aufstrebende Wirtschaftsmacht, zurzeit die Nummer sechs in der Welt, fort. Aber vor den Maschinenpistolen der Drogendealer hatten die Ansätze gut gemeinter Sozialpolitik keinen Bestand, auch wenn von Jahr zu Jahr immer weniger Brasilianer in bitterer Armut lebten.

Seit die Sonderkommandos der polizeilichen Elitetruppe BOPE, des „Batalhão de Operações Policiais Especiais“, in den vergangenen Jahren eine Favela nach der anderen stürmten, weht in Rio de Janeiro ein anderer Wind auf den Hügeln. „Wir haben das Territorium der Drogenbanden erobert“, jubelte José Mariano Baltramé, Rios oberster Sicherheitsbeauftragter. Dabei fiel selten ein Schuss, denn die Gangster waren bereits zuvor getürmt.

Die Bewohner der Favelas waren zuerst misstrauisch. Mit Militär und Polizei haben sie fast nur schlechte Erfahrung gemacht. Sie wurden von den Uniformierten oft schikaniert. Die meisten Polizisten sind schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt, und viele sind korrupt. Schon manch ein Unbeteiligter wurde bei einer Schießerei von einer Polizeikugel getroffen. Doch die BOPE-Mitglieder gelten als gut geschult und unbestechlich. Wenn die Elitetruppe mit dem Totenkopf im Wappen ihren Job in den Favelas erledigt hat und Ruhe eingekehrt ist, wird sie jedes Mal abgelöst von den „Unidades de Polícia Pacificadora“ (UPP), der Befriedungspolizei, die sich langfristig in den einstigen Banditenhochburgen einrichtet. Die UPP wird unterstützt von der UPP Social, deren Aufgabe es unter anderem ist, die Versorgung mit Strom und Wasser sowie die Müllabfuhr sicherzustellen.

Die Preise für Eigentumswohnungen in Rio sind in den vergangenen fünf Jahren um 380 Prozent nach oben geklettert, die Mieten haben sich verdoppelt.

Seit 2008 wurden etwa 30 Favelas befriedet. Eine der ersten war Cantagalo. Es folgten weitere wie Pavão-Pavãozinho. Heute können Besucher einen Spaziergang von Cantagalo auf den angrenzenden Morro von Pavão-Pavãozinho unternehmen, bis hin zum Fuß des Hügels an der Copacabana. Schließlich wurde auch der Kriminalitätssumpf im berüchtigten Complexo Alemão im Norden und in Rocinha in der Südzone trockengelegt. Die beiden Areale sind mit jeweils weit mehr als 100.000 Einwohnern die größten Favelas von Rio. Sie wurden 2010 beziehungsweise 2011 befriedet. Ihre Besetzung verlief weitgehend unblutig.

Über den Complexo Alemão fährt heute eine Seilbahn, von der aus Touristen Fotos schießen können. Kritiker monierten, es wäre besser gewesen, zuerst Krankenhäuser zu bauen, anstatt Gondeln. „Ein menschlicher Zoo“, sagt Esra alias Lula, obwohl auch er selbst Touren durch Favelas anbietet. „Man muss die Besucher besser sensibilisieren für die Situation der Favela-Bewohner“, fügt er hinzu. „Es gehört dazu, ihnen zu zeigen, zu was diese Menschen hier fähig sind, wenn man ihnen nur die Möglichkeit bietet.“

Die Teilnahme an sozialen Projekten gehört ebenso dazu wie das selbst verwaltete „Museu da Favela“ (MUF) in Cantagalo. Am Eingang des MUF begrüßt Valquiria Cabral ihre Gäste. Die Sekretärin des Museums verweist auf die kulturellen Projekte und die Fotosammlungen und zeigt die Versammlungs- und Arbeitsräume, in denen Computer stehen. In einem kleinen Laden kann man Produkte des Museums kaufen. Auf einer Terrasse werden Partys gefeiert, auf einer Wand Filme projiziert. „Für Kinder“, betont Valquiria. Informatikkurse werden ebenso angeboten wie Capoeira- und Zirkus-Workshops. Selbst Mitglieder des Cirque de Soleil kamen auf den Hügel.

Bürgermeister Eduardo Paes soll angeblich insgesamt 170 Millionen Euro für die Armenviertel in Aussicht gestellt haben, unter anderem für Bildungsprojekte. Für die Menschen in den befriedeten Favelas – bis zur Fußball-WM 2014 sollen es 40 sein – hat sich die Lebenssituation deutlich verbessert. Die Favelas sind sicherer geworden, die Kriminalität ist deutlich zurück gegangen, nach einer Studie der Universität von Rio de Janeiro ist in den 13 zuerst befriedeten Favelas die Zahl der gewaltsamen Tode um 70 Prozent zurückgegangen. Unterdessen ist in anderen Städten des Landes die Verbrechensrate gestiegen: Allein in São Paulo wurden Ende vergangenen Jahres innerhalb weniger Wochen mehr als 300 Menschen getötet.

Andere wiederum sagen, dass die Drogengeschäfte trotz der Präsenz der Polizei weiterlaufen. Bald wurde auch Kritik an den Säuberungen laut. Die Problematik sei nicht beseitigt, sondern nur in andere Zonen weiter im Norden verlagert worden. Viele Drogenhändler seien geflohen, heißt es. Dass es der Regierung und den Stadt-obersten vor allem darum ging, die Favelas in der reichen Zona Sul und im Zentrum, also in der Nähe der Olympiastätten und der von Touristen frequentierten Gegenden zu befrieden, liegt für viele Kritiker nahe.

Die Gründe sind auch im Immobilienboom zu finden. Die Preise sind nicht nur in den Reichenvierteln Leblon, Ipanema und Lagoa explosionsartig gestiegen. Dort haben sie längst astronomische Dimensionen erreicht. Die Preise für Eigentumswohnungen in Rio sind von 2008 bis 2012 um 380 Prozent nach oben geklettert, die Mieten haben sich verdoppelt. Wohnraum ist knapp. Die Spekulanten fallen über die Morros her. Die einst ohne rechtliche Grundlage entstandenen Viertel – allein in Rio leben zwei Millionen Menschen in mindestens 900 Favelas – sind schon jahrzehntelang Zielobjekte von Umsiedlungen. Heute sind sie Spekulationsobjekte.

Mittlerweile haben viele wohlhabende Cariocas, wie die Einwohner Rios genannt werden, für einen Schnäppchenpreis Häuser in den Favelas gekauft. Anders als zuvor haben sie jetzt Meerblick: „Es ist die beste Aussicht und der einzige noch bezahlbare Wohnraum“, sagt Maria Manuel de Melo. „Ein günstiges Apartment in den etablierten Gegenden zu finden, ist fast ausgeschlossen. Es lohnt sich, auf den Hügeln zu suchen.“ Die 73-Jährige hat sich bereits in Cantagalo umgesehen, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von ihrer Wohnung in Ipanema gelegen. Maria Manuel will in der Favela ein Haus kaufen. Die Gentrifizierung hat Rio de Janeiros Favelas erfasst.

Derweil kommen die Vorbereitungen für die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro nur zäh voran. Immerhin wurde das seit 2010 modernisierte legendäre Maracanã-Stadion rechtzeitig zum Beginn des Confederations Cup an diesem Wochenende fertig gestellt. Wie bei manchen europäischen Großprojekten sind auch hier die Kosten explodiert: Der Umbau hat laut Informationen der „Folha de São Paulo“ mit 430 Millionen Euro doppelt so viel gekostet wie ursprünglich vorgesehen.

Ohne die WM und Olympia hätte es die Befriedung der Favelas nicht gegeben. Sie war die Konsequenz aus einem Bündnis der Lula-Regierung mit Sérgio Cabral, dem Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro vom „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB), einer liberal-konservativen Partei, und Bürgermeister Eduardo Paes (PMDB). Mittlerweile hat sich die „pacificação“ zu einem Markenzeichen entwickelt. Cabral hatte frühzeitig eine Werbeagentur eingeschaltet, um die Befriedung öffentlichkeitswirksam zu begleiten. Mit Erfolg: Die „Funk-Bailes“, früher von den „soldados do morro“ mit vollautomatischen Schnellfeuergewehren bewacht, weichen den Partys der Betuchten unter dem Schutz der UPP. Teure Restaurants öffnen, Fünfsterne-Hotels sind geplant. Investoren aus dem Ausland reißen sich mit brasilianischen Konkurrenten um die Objekte. Ein Verlierer dieses Kampfes steht indes bereits fest. Es sind die jetzigen Bewohner der betreffenden Areale: Sie stehen vor der Umsiedlung, während auf ihre Häuser der Abrissbagger wartet.

Bustos Domecq war für die woxx in Brasilien unterwegs.


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