PHILOSOPHIE: Die Struktur des Wahren

Über Jahrhunderte galt die Italienreise als zentrale Bildungserfahrung des europäischen Bürgertums. Ein neues Buch interpretiert dieses Erlebnis als bislang unbenannten Nukleus der Philosophie des sublimsten Kritikers der bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart: Theodor W. Adorno.

„Auch ich in Arkadien!“ Schon Goethes „Italienische Reise“ folgt vorgegebenen Spuren. Der Dichter bereist jene Etappen der Grand Tour, die literarisch etabliert waren. Sein Vater hatte sie bereits besucht und dem Sohn die Erfahrungen der Italienfahrt in Aufzeichnungen überliefert. Denn zur Tradition der italienischen Bildungsreise gehört, lange bevor Goethes Tagebuch zur Pflichtlektüre für die bürgerliche Nachwelt wird, die Tradition des Reiseberichts. Darin sollten die viel besungenen Sehenswürdigkeiten nochmals gewürdigt, gleichzeitig aber auch Neues, bisher Unentdecktes festgehalten werden.

Mit der bürgerlichen Tradition vertraut, aber auf der Suche ihr zu entkommen, waren dagegen einige junge Intellektuelle, die im Sommer 1925 am neapolitanischen Golf einen Rückzugsort fanden, an dem sie mit wenig Geld leben und ihre philosophischen Studien betreiben konnten. Alfred Sohn-Rethel entzog sich auf Capri der für ihn vorgesehenen Industriellenkarriere und widmete sich der Marx-Lektüre. Er traf dort auf Walter Benjamin, der an seiner Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels arbeitete, sich dann aber von der sowjetischen Theaterregisseurin Asia Lacis ablenken ließ und wiederholt zu gemeinsamen Streifzügen durch Neapel aufbrach.

Als im September Siegfried Kracauer und Theodor Adorno, der sich damals noch Wiesengrund nannte, drei Wochen zu Besuch kamen, hatten Benjamin und Lacis inmitten der touristischen Sehnsuchtslandschaft ein eigenes „Denkbild“ zu Neapel entworfen. Für die beiden schuf die Porosität des neapolitanischen Tuffsteins den Spielraum für jene verstörend lebendigen Konstellationen, die ihnen in der Architektur, im Alltagsleben und in der Sprache der Stadt begegneten: Alle von der Moderne gesetzten Abgrenzungen zwischen Öffentlichem und Privatem, Profanem und Sakralem, Geistigem und Körperlichem schienen durchlässig zu sein, im Schatten des Vesuv offenbarte sich ihnen ein barockes Ineinander. Ernst Bloch, der die Gefahr sah, durch die Verklärung der Antike immer wieder falsch nach Italien einzureisen, gefiel die Interpretation des Porösen. Er machte sie sich unmittelbar in seinem Essay „Italien und die Porosität“ zu eigen. Adorno berichtet dagegen in einem Brief an seinen Kompositionslehrer Alban Berg von einer „philosophischen Schlacht“, er deutet damit an, wie sehr die Freunde um das erkenntnis- und gesellschaftskritische Potenzial des neuen Begriffs gerungen haben.

Martin Mittelmeier, seit vielen Jahren Lektor für zeitgenössische Literatur, ist den Spuren der Capri-Immigranten und ihrer Urlaubsgäste gefolgt. In seiner im Herbst erschienenen Dissertation „Adorno in Neapel“ versucht er nachzuweisen, wie die Eindrücke der Reise und die Impulse jenes fernen Disputs von Adorno in Philosophie verwandelt wurden: „Neapel, der scheinbare Nebeneingang in Adornos Theorie, führt in ihr Zentrum“, „wird zum Quellcode einer der erfolgreichsten und folgenreichsten Theorien der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte“.

Der Stolz auf seinen Einfall macht den Autor schließlich blind gegenüber den bemerkenswertesten Momenten seiner Rekonstruktion.

Der kokette Ton, in dem sich Mittelmeier dafür rechtfertigt, ausgerechnet aus einer biographischen Marginalie wie der Neapel-Reise, die bei Adorno selbst nur in wenigen Briefzeilen und einem kurzen Text über den Capri-Fischer Spadaro Erwähnung findet, noch einmal das Werk Adornos zu beleuchten, verrät die Selbstverliebtheit des Autors in seine Idee. Doch der Stolz auf den Einfall – der möglicherweise einem Essay des neapolitanischen Schriftstellers Raffaele La Capria über Neapel als Geisteslandschaft mehr verdankt als Mittelmeier zugibt – macht ihn schließlich blind gegenüber den bemerkenswertesten Momenten seiner Rekonstruktion.

Zunächst zeigt Mittelmeier an zwei frühen musikalischen Essays die mutmaßliche Metamorphose von Landschaft in Text. Zwischen der wenige Wochen nach der Capri-Reise geschriebenen Kritik „Zur Uraufführung des ?Wozzek`“ von Berg bis zum 1928 entstandenen Essay „Schubert“ hätten sich Adornos Reiseerlebnisse, nicht zuletzt aufgrund der in Frankfurt fortgesetzten Diskussion mit Benjamin, in „Strukturideale“ einer neuartigen Form des Philosophierens verwandelt.

Bestand das von Sohn-Rethel im Kontext von Benjamins und Lacis` Denkbild „Neapel“ theoretisierte „Ideal des Kaputten“ darin, verdinglichte, tote Materie so zu konfigurieren, dass daraus etwas Anderes, Lebendiges entstehen konnte, so habe Adorno früh an der unmittelbaren Entfaltung des revolutionären Potenzials des porösen Materials gezweifelt. Ihm sei aufgefallen, dass in Wirklichkeit die erkenntnisstiftende Konstellation eher verhindert werde, indem die sinnentleerten, entfremdeten Dinge durch das „Einlegen“ neuen Sinns stillgestellt würden. Als Sinnbild der vereitelten Konstellation soll Adorno nach Mittelmeier das Kunsthandwerk der Holzintarsien gedient haben, mit dem in Sorrent ein einträgliches Souvenirgeschäft betrieben wurde. Auch bei einem Besuch in der zoologischen Forschungsstation in Neapel habe Adorno in der Abteilung präparierter Seetiere das dialektische Bild einer zu ewigem Leben erstarrten Unterwasserwelt vor Augen gehabt. Gleichzeitig aber soll ihm der Anblick des Oktopus und anderer Aquariumsbewohner zur „Entlarvung des Bürgers als naturwüchsiger Dämon“ verholfen und zur entscheidenden Selbstreflexion angeregt haben.

Ohne die „große Auseinandersetzung“ Adornos und Benjamins um den Topos des dialektischen Bildes nochmals auszuführen, schlägt Mittelmeier eine Lösung der vielfach kommentierten Kontroverse vor: Die dialektischen Bilder müssten aufgesprengt werden, damit aus dem porösen Material überhaupt erst wieder Konstellationen geschaffen werden können. Vorbild für die „Sprengung“ von Hohlräumen, die zur Gestaltung neuer Konstellationen genutzt werden können, soll der Schweizer Künstler Gilbert Clavel gewesen sein. Er hatte in der Bucht von Positano einen verfallenen Wachturm erworben, in die an ihn anschließende Felsenküste Löcher gesprengt und daraus ein begehbares Gesamtkunstwerk geschaffen. Adorno hatte den von Kracauer später als „Felsenwahn in Positano“ beschriebenen Komplex an der Amalfiküste besichtigt und möglicherweise auch selbst einer Sprengung beigewohnt.

Seite um Seite entzündet Mittelmeier ein Feuerwerk aus Assoziationen, in dem Adornos Urlaubserlebnisse, seine Lektüreerfahrungen und die Gespräche mit den Freunden helle Funken schlagen. Am Ende leuchtet dem Autor die Konstellation als „Matrix“ der Adorno`schen Textproduktion auf, die „als Strukturierungsmaschinerie beliebig einsetzbar ist“. Mittelmeier reduziert den Frankfurter Philosophen zum bloßen „Darstellungskünstler“, seine Texte sind ihm „hochreizvolle Inszenierungen neapolitanischen Irrsinns“. Unversehens verfällt Mittelmeier in die Haltung des überheblichen Nordeuropäers, der überall dort nur „Irrsinn“ erblickt, wo Adorno sich herausgefordert sah, die „unrationale Ordnung“ Neapels zu denken.

Dass Benjamin in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspielbuchs die Darstellung zum wesentlichen Moment emphatischer Erkenntnis erklärt, gerät in Mittelmeiers Rekonstruktion in Vergessenheit. Er verfolgt die „Wunderwaffe“ der Konstellation bis in Adornos Spätwerk, dabei blamiert sich nicht nur seine Rhetorik, er reflektiert auch nicht, dass die Struktur eins ist mit dem Erkenntnisanspruch, der in der „Negativen Dialektik“ darauf abzielt, „den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“. Dafür bedarf es nach Adorno „nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt“, denn wer dem Gegenstand der Reflexion gerecht werden will, „muss mehr, nicht weniger denken“.

Schon auf Capri stimmten die Freunde überein, dass es darauf ankäme, sich in einer Verhaltensweise „produktiver Schwäche“ einzuüben: Wer eine Konstellation schaffen will, muss sich den dialektischen Bildern in „konzentrierter Passivität“ überlassen, gleichzeitig aber seiner selbst mächtig bleiben. Nur so kann man dem Einlegen scheinhaften Sinns widerstehen und das poröse Material neu anordnen. Anstatt Adorno vorzuwerfen, aus seinen „Minima Moralia“ spreche kein „beschädigtes“, sondern ein „erstarktes“ Subjekt, hätte Mittelmeier hervorheben können, was seine Rekonstruktion tatsächlich eindrücklich vorstellt, von Adorno aber nie philosophisch eingeholt wird: die konstitutive Relationalität des Subjekts. Es ist die Konstellation am Vesuv, die lebendige Erfahrung der Hafenstadt, die gemeinsame, deutende Annährung an die neapolitanische Landschaft und das wechselseitige Lesen, Gegenlesen und Umschreiben der verschiedenen, von den Freunden verfassten Texte, die Adorno die Möglichkeit eröffnet, in Konstellationen zu denken und zu schreiben.

Als Einführung in Adornos Werk eignet sich Mittelmeiers Buch nicht. Auch in einer mutmaßlichen „Nebensaison“ seines Denkens erklärt sich Adornos Philosophie nicht aus der strukturellen Materialität des neapolitanischen Golfes. Zu empfehlen ist das Buch dagegen jederzeit als origineller Reiseführer für zeitgenössische Italienreisende. An dazugehörigem Bildmaterial fehlt es dem Band nicht. Und so lohnt es sich, anstatt noch einmal mit Goethe und seinem Gefährten Tischbein den Vesuv zu besteigen, mit Adorno und seinen Freunden die neapolitanische Küstenlandschaft zu bereisen. Die poröse Struktur scheint auf den ersten Blick ihre emanzipative Kraft verloren zu haben. Wie von Adorno befürchtet, verfestigten sich eher Schreckensszenarien, die sich kulturindustriell vermarkten lassen. Doch Mittelmeiers Erinnerungen an „Adorno in Neapel“ kann als Einladung gelesen werden, nicht nur die uralte, postkartenschöne Sehnsuchtsvorstellung, sondern auch die aktuelle Darstellung des Mafiapfuhls von „Gomorrha“ zu sprengen und Süditalien endlich in einer veränderten Konstellation zu denken.

Martin Mittelmeier – Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. Siedler Verlag, 304 Seiten.


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