Ägypten
: Am Tag, als Pierre Sioufi starb

In Ägypten wird in der kommenden Woche der Präsident neu gewählt. Doch von demokratischen Strukturen kann sieben Jahre nach dem „arabischen Frühling“ keine Rede sein. Das zeigt sich auch an der Dynamik der Kairoer Stadtentwicklung.

Vereinnahmte Revolte: Die ägyptische Version des „arabischen Frühlings“, die am Tahrir-Platz in Kairo ihr Zentrum hatte, wird laut Staatspräsident al-Sisi ein „Wendepunkt in der Geschichte des Landes“ bleiben. Unser Bild zeigt eine Frau, die auf dem Balkon eines am Tahrir-Platz gelegenen Hauses stehend, eine ägyptische Flagge hält, am 18. Februar 2011. (Foto: EPA/Khaled Elfiqi)

Ägypten darf – oder sollte man sagen muss – vom 26. bis 28. März wieder einen Präsidenten wählen. Nach dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar 2011 hatten die ersten freien Präsidentschaftswahlen im Juni 2012 zu einem für die Protestierenden vom Tahrir-Platz enttäuschenden Ergebnis geführt: Sie hatten nicht gegen den Autokraten Mubarak demonstriert, um stattdessen den Muslimbruder Mohammed Mursi zu bekommen. Und nun steht nach 2014 derjenige General erneut zur Wahl, der das Land „gerettet“ hatte, indem er Mursi 2013 mit einem Militärputsch die Macht entriss: Abdel Fattah al-Sisi.

Ernsthafte Gegenkandidaten sind nicht zugelassen oder wurden eingeschüchtert. So bleibt der frustrierten Opposition nichts weiter, als diese Pro-Forma-Wahl zu boykottieren. Allerdings ließ al-Sisi auf einen entsprechenden Aufruf bereits verlauten, dass er „Maßnahmen“ gegen alle ergreifen werde, die die Stabilität des Landes bedrohen.

Sieben Jahre nach dem Arabischen Frühling gibt es nun also lediglich ein erzwungenes Referendum über den neuen „Rais“. „Das Militär hat jetzt die volle Kontrolle über die Wirtschaft und die Gesellschaft. Sie leiten jetzt die ganze Show“, kommentierte Anwar el-Sadat die Wahl. Der demokratische Aktivist ist Neffe und Namensvetter des 1981 von Islamisten ermordeten dritten ägyptischen Staatspräsidenten. Angesichts der politischen Situation hat er seine Kandidatur zurückgezogen.

Für Demokraten fühlt es sich auf frustrierende Weise an, als hätten die bewegenden und in vielerlei Hinsicht befreienden Wochen seit dem 25. Januar 2011 nie stattgefunden. Sie erleben eine bleierne Stimmung. Was verloren ging, wurde am 4. März dieses Jahres symbolisch deutlich. Das war der Tag, als Pierre Sioufi starb. Der von den Medien zum „Guru“ oder „Schutzengel“ des Aufstandes stilisierte Besitzer einer Bohème-Wohnung am Tahrir-Platz, hatte diese seinerzeit spontan für Demonstrantinnen und Demonstranten geöffnet. Vom Balkon mit Panorama-Blick verfolgten Dutzende revolutionär gestimmter junger Leute die Ereignisse unter ihnen, um drinnen per Facebook die Aktivitäten zu koordinieren und News um die Welt zu senden. So wurde der wohlhabende, aber bescheidene 56-jährige bärtige, schwergewichtige, kettenrauchende Christ zu einer Ikone.

Radikaler Umbau, minimale Transparenz

Ende Januar 2018 ist der Tahrir-Platz kaum wiederzuerkennen. Fast alle Graffitis wurden entfernt, die riesige Tiefgaragenbaustelle ist abgeschlossen, also in ästhetisch unbefriedigender Weise zubetoniert. Ein monströser Fahnenmast ragt drohend in die Höhe, wo sich einst die Zeltstadt der Demonstrierenden befand.

Überall wird sichtbar, in welch radikalem Umbau sich das Viertel befindet. Bei der Sanierung des ersten afrikanischen Hilton Hotels, beim Abriss eines Anbaus der in historischen Gebäuden untergebrachten „American University of Cairo“ (AUC) sowie der Verlagerung des Ägyptischen Museums hatten die Behörden wenigstens über Hintergründe, Art und Ziel der Sanierung informiert. In anderen Fällen blieb dies nebulös. So etwa beim Sitz der ägyptischen Zentralverwaltung, dem monströs-stalinesken Bau der „Mogamma“, der den Tahrir-Platz beherrscht.

Der Tahrir ist zwar der zentrale Verkehrsknotenpunkt, aber nicht das Zentrum der City, sondern neben dem Bahnhofs- und dem Opernplatz eine von drei Zugangsschleusen der ab 1870 nach Pariser Vorbild erbauten Neustadt. Hier, wo viele weitere „Engel“ und „Köpfe“ von 2011 leben oder ihre emotionale Heimat haben, sind nach Jahrzehnten unterlassener Investitionen nach Eigentümerwechseln plötzlich Dutzende Bau- und Sanierungsmaßnahmen initiiert worden.

Über das wie und warum wurde nicht informiert. Das einzige „bessere“ Hotel, das „Cosmopolitain“ und dessen Umgebung, werden aufgehübscht, der Nachtclub „Kursaal“ wurde – bis auf einige verbleibende erotische Wandmalereien, an denen sich schon König Faruk erfreute hatte – kaputt saniert. Gleiches gilt für hundert Jahre zurückreichende, ehedem von Griechen oder Kopten geführte Spirituosenläden. Im Falle der 90 Jahre alten Confiserie „Groppi“ am Talaat-Harb-Platz weiß man noch nicht, was aus ihr wird. Planen verdecken seit 2016 das Lokal. Sie sind in edlem Design bedruckt, was keine Garantie für behutsamen Denkmalschutz ist.

Das alles erinnert an die Mubarak-Jahre, als städtebauliche Fakten geschaffen worden waren, ohne die Zivilgesellschaft zu beteiligen. Der zu lebenslanger Haft verurteilte, aber auf freien Fuß gesetzte ehemalige Präsident Mubarak ließ damals Planungsbüros von einer „Dubaisierung“ der Stadt phantasieren, einen gigantischen Neubau des ägyptischen Museums an die Pyramiden setzen und initiierte das Megaprojekt „New Cairo“ in der Wüste am nordöstlichen Stadtrand. Dort entstanden auf einer nahezu dem Umfang der Innenstadt vergleichbaren Fläche inmitten künstlich angelegter Parks so genannte „gated communities“ für die Oberschicht. Auch der AUC-Campus ist dorthin verlegt worden. Seit den 1970er-Jahren verlässt die Mittel- und Oberschicht – Ägypter wie Ausländer – in sukzessiven Wellen einer zentrifugalen Urbanisierung das Herz der Stadt, die heute gut 20 Millionen Einwohner zählt und damit die einzige nichtasiatische Mega-City unter den zehn größten Metropolen der Welt ist.

Wichtige kommunale Funktionen wurden an Standorte nahe der die Stadt umrundenden „Ringroad“ verlegt. Nun droht eine Implosion der Innenstadt. Insofern könnte es eine gute Nachricht sein, dass Großinvestoren die „Filetstücke“ der Neustadt aufgekauft haben und „in Wert setzen“ wollen.

Ist dies die Rettung der in ihrer Bausubstanz seit 60 Jahren herunterkommenden Neustadt oder droht nun deren Gentrifizierung? Etwa die Hälfte der Gebäude der Neustadt sei in Besitz der Regierung, heißt es – nicht nur im Regierungsviertel südlich des Tahrir. Daneben gibt es „Al-Ismaelia for Real Estate Investment“, ein Konsortium ägyptischer und saudischer Investoren, denen Regimenähe unterstellt wird. Ein Drittel der Anteile gehören Samih Sawiris, der mit seinen Brüdern Naguib und Nassef – jeder der drei zählt zu den reichsten Milliardären Afrikas – wichtige Sektoren der Wirtschaft dominiert. Auf deren Webseite gibt man sich begeistert vom reichen historischen Erbe und künftigen Potenzial der Neustadt.

Ende eines legendären Gebäudes: Vergangenen Januar wurde mit dem Abriss des ältesten noch existierenden Kairoer Hotels, dem 120 Jahre alten Continental Savoy, begonnen. Noch ist unklar, ob etwas von der Originalbausubstanz erhalten bleibt. (Foto: Ekkehart Schmidt)

Neoliberale Restrukturierung

Al-Ismaelia besitzt schon 21 Gebäude, das Unternehmen will aber zehn Prozent des dortigen Baubestands erwerben, vor allem so genannten „prime real estate“. Dieser soll zwecks Werterhöhung für eine private, kommerzielle und kulturelle Nutzung instand gesetzt werden. Zugleich soll die „Grandeur“ der Stadt wiederauferstehen.

Aus einer anderen Perspektive handelt es sich schlicht um eine neoliberale Restrukturierung und Gentrifizierung der sehr lebendigen Neustadt-Communities, selbst wenn im „mission statement“ der Firma gesagt wird, man wolle das städtische Erbe für alle Schichten zugänglich machen. Das propagierte „cultural enlightenment“ ist ohne hunderte Wohnungskündigungen nicht machbar.

Im Jahr 2008 hatten die Investoren festgestellt, dass die meisten im Familienbesitz befindlichen Häuser zum Verkauf stehen. Sie erkannten das Potenzial, durch Aufkauf und Sanierung architektonisch wertvoller Gebäude einen „Revitalisierungsprozess“ einzuleiten. Hintergrund dieses Befundes sind Miet-Kontrollmaßnahmen, deren positiv erscheinende Zielsetzung sich in ihr Gegenteil verkehrt hatten.

Um die Mieten aus sozialen Gründen niedrig zu halten, waren seit den 1940er-Jahren mieterfreundliche Gesetze erlassen worden. Auf einen Mietpreisstopp folgten nach der Revolution von 1952 die Reduzierung der Altbau-Mieten, eine Fixierung der Mietpreise für Neubauten und ein Kündigungsschutz. Die staatlich verordnete Außerkraftsetzung der Marktmechanismen führte infolge eines enormen Anstiegs der Wohnungsnachfrage zu krassen Marktverzerrungen. Der auf einem Niveau von oft nur fünf bis 15 Euro pro Monat eingefrorene Mietpreis für eine Wohnung gilt, so lange die Bewohner oder deren Nachkommen nicht ausziehen.

Nun jedoch verlangen Vermieter von Nachmietern oft eine Summe in Höhe von mehreren 1.000 Euro als „verlorenen Baukostenzuschuss“. Durch diese Ergänzung zur eigentlichen Miete wird de facto doch ein höherer Mietpreis erzielt. Oder das Appartement wird möbliert vermietet und unterliegt dann nicht dem Gesetz. Eine weitere Folge, die sich aus quasi inexistenten Mieteinnahmen ergibt, ist der Verzicht selbst auf notdürftigste Instandhaltungsarbeiten und der daraus resultierende Verfall der Bausubstanz. Der stolzen Neustadt droht die Verslumung.

Ende Januar wurde am Opernplatz mit dem Abriss des ältesten noch existierenden Kairoer Hotels begonnen, dem ockerfarben verstaubten 120 Jahre alten Continental Savoy. Gut 30 Jahre hatte es offiziell leer gestanden, de facto jedoch hatten es die Betreiber von Schneiderwerkstätten besetzt. Das im Vergleich zum Hotel Alfa in Luxemburg rund vier Mal größere Haus wurde bei Beginn der Arbeiten von Sicherheitskräften schwer bewacht, weil zivilgesellschaftlich Engagierte sich empört hatten, dass keinerlei Details über die Planungen mitgeteilt worden waren. 2015 war lediglich durchgesickert, dass ein Viersternehotel mit 250 Zimmern vorgesehen ist, nicht aber, ob das riesige, den weiten Platz zwischen Alt- und Neustadt beherrschende Haus abgerissen, nur entkernt oder erhalten bleiben soll.

Erst Mitte Februar, nach einem kollektiven Aufschrei von Enthusiasten für eine Bewahrung des architektonischen Erbes, teilte das betreffende Unternehmen mit, dass es sich um ein Projekt im Umfang von rund sieben Millionen Euro handele. Die offizielle Eigentümerin des nach der Revolution 1952 in nationales Eigentum überführten, die „Egyptian General Company for Tourism and Hotels“, hatte sich mit der „National Organization for Urban Harmony“ auf ein völlig neues Design des Hotels geeinigt, verbunden mit der Bedingung, dass die historische Fassade erhalten bleibt. Das neue Continental wird 248 Räume und 16 Suiten aufweisen. Die Hallen und Ballsäle sollen rekonstruiert werden. Unklar ist, ob und wie viel von der Originalbausubstanz erhalten bleibt.

Vielleicht müssen auch Nostalgiker Realisten sein und nach diesen News aufatmen. Schon vorher glich der Platz einer furchtbaren Wunde und bot Anlass für Resignation – jedenfalls wenn man die Situation mit der von vor 120 Jahren vergleicht. Betrachtet man den Ezbekiyah-Park gegenüber des Hotels, in dem seit einem Jahrzehnt Baumaßnahmen zur Vollendung der Kreuzung zweier U-Bahn-Linien der Station „Ataba“ erfolgen, können auch Menschen ohne Kenntnis der Stadtgeschichte vor Wehmut die Tränen kommen. Nur noch wenige Bäume erinnern an den prächtigen Park, an dessen Stelle sich bis 1867 noch eine Lagune befunden hatte. Jenseits standen Palastbauten der Machthaber, hinter denen sich die Altstadt erstreckte. Dort hatte Napoleon 1798 sein Hauptquartier eingerichtet.

Konkurrenz der Machtcliquen

Der Tahrir am anderen Ende der Neustadt wurde auch deswegen zum neuen Zentrum der Stadt, weil Kairo sich nach dem Bau des Assuan-Staudamms und der nun ausbleibenden jährlichen Überschwemmungen auch jenseits des Nils ausbreiten konnte. Die dort 1988 eröffnete zentrale Metrostation heißt nicht zufällig „Sadat“. Seit dessen 1975 begonnener wirtschaftlicher Öffnung hat sich der Sozialismus nasseristischer Prägung zu einer neoliberalen Wirtschaft unter einem autoritären System gewandelt und Imperien wie das der Sawiris Brüder erzeugt.

Auch aufgrund dieser Verflechtung von Politik und Wirtschaft bezweifelt Mona Abaza die häufig kolportierte Rolle der Armee während und nach dem Aufstand von 2011. Die renommierte Soziologin und Professorin der AUC stellt infrage, ob das Militär tatsächlich auf Seiten des Protests gestanden habe; eine Sichtweise, die durch Bilder von unter Panzern schlafenden Demonstranten gestärkt worden war. Vielmehr sei die Revolte eine „golden opportunity” für jene Gruppen des Militärs gewesen, die mit Hosni Mubarak und seiner Clique um den Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen des Landes konkurriert hatten. Der Anteil der Militärs an der Verfügungsgewalt über die ägyptische Ökonomie wird derzeit auf 25 bis 40 Prozent geschätzt.

Mit der Entmachtung Mursis 2013 konnte al-Sisi als nationaler Held präsentiert werden, der es geschafft hatte, den Einfluss des globalen islamistischen Netzwerks, vor Ort repräsentiert durch die Muslimbruderschaft, zu brechen. Populistisch geschickt hatte al-Sisi vermeintlich wieder Ordnung und Stabilität hergestellt. Verdrängt wurden indes weite Teile der die Innenstadt dominierenden Straßenhändler. Sie waren seit je ein Horror für die Mittelschicht, für die „Downtown“ nur noch schmutzig und gefährlich wirkte. Zugleich wurden Finanz-Tycoons und andere Figuren des alten Regimes wieder eingesetzt, so Abaza.

Al-Sisis Restauration der Stadt war von einer massiven Sauberkeits-Kampagne begleitet. Bislang hatte die Innenstadt nur optische Face-Liftings mit frischem Anstrich verstaubter Fassaden bekommen. Nun jedoch soll das Kairo der Belle Epoque komplett runderneuert werden, wie Abaza sagt. Per Dekret hat al-Sisi diese Aufgabe 2017 als „nationales Projekt“ in die Hände eines „Cairo Heritage Development Committee“ gegeben. Mit solch nationalistischen Projekten könne man die ökonomischen Interessen des Militärs kaschieren und von massiven Repressionen und systematischer Korruption ablenken, sagt Abaza. Wie schon bei der grandiosen Erweiterung des Suez-Kanal 2015 als „nationalistischem Nation-Building Projekt“, das – ähnlich wie 1870 – den Wunsch nach nationaler Größe bedient.

Die Kairener haben sich daran gewöhnt, dass ihnen etwas aufoktroyiert wird, wogegen sie sich nicht wehren können. Aber nicht nur Pierre Sioufi gab bis zu seinem Tod die Hoffnung nicht auf, dass es nach dem Ende der „First Republic of Tahrir“ eine neue Generation geben wird, die wieder mutig gegen den tiefen Staat und sein Klientelsystem aufstehen wird. Sein Appartement steht dann allerdings als Zentrale der Zivilcourage, zumindest mit ihm als Gastgeber, nicht mehr zur Verfügung.


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