Alphabetisierung: Kein Bedarf an Mitleid

Große Mühe beim Schreiben und Lesen? In Luxemburg trifft das längst nicht nur auf migrantische Neuankömmlinge zu. Doch egal, wer betroffen ist: Es gibt keinen Grund, dass es so bleiben muss.

Buchstaben als Angstmacher: Wer Probleme beim Lesen und Schreiben hat, muss meist größte Anstrengungen machen, um dem gesellschaftlichen Stigma zu entgehen. (Foto: Pixabay)

„Es ist nie zu spät, etwas zu lernen.“ Marcel weiß genau, wovon er spricht. Als Mann mittleren Alters ist der Luxemburger noch einmal zur Schule gegangen, um besser lesen und schreiben zu können. Mit Erfolg: Marcel hat sogar eine Autobiographie geschrieben, in der er seine Kindheit und sein Aufwachsen im Heim verarbeitet hat.

Marcel, den die Filmemacherin Anne Schiltz im Porträt „Ni ze spéit“ für die RTL-Serie „routwäissgro“ begleitet hat, ist das beste Beispiel für die Philosophie, die Chantal Fandel bei ihrer Arbeit befolgt. „Lese- und Schreibschwächen sind kein Handicap“, sagt die stellvertretende Direktorin des „Service de la formation des adultes“ (SFA). „Wenn ich blind bin, muss ich mich damit in gewissem Maße abfinden; ich kann jedoch jederzeit besser lesen und schreiben lernen“, so Fandel.

Mit dem Zuwachs an MigrantInnen aus dem arabischen Raum ist die Alphabetisierung auch in Luxemburg wieder zu einem Thema geworden. Zwar sind viele derer, die aus dem Irak, Syrien und anderswo ins Großherzogtum gelangen, schon längst mit „unserem“ lateinischen Alphabet vertraut. Manche jedoch kennen nur das arabische Alphabet, selbst wenn sie in ihrem Herkunftsland auf einer höheren Schule gewesen sind. Und einige MigrantInnen haben den Umgang mit der Schriftsprache gar nicht eingeübt.

Doch sie sind längst nicht die einzigen, denen das Lesen und Schreiben in den hiesigen Landessprachen Schwierigkeiten bereitet. Zwar nimmt Luxemburg aufgrund seiner komplexen Sprachsituation an den internationalen Erhebungen nicht teil, doch hat etwa der Pisa-Test von 2012 ergeben, dass knapp 14 Prozent der 15-Jährigen hierzulande nicht über Basisfähigkeiten beim Lesen und Schreiben verfügen. Das deckt sich zahlenmäßig in etwa mit dem Niveau in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Zieht man europaweit die Gesamtzahl der Betroffenen in Betracht, sind Personen fortgeschrittenen Alters überrepräsentiert bei diesem Problem, das man landläufig noch immer „Analphabetismus“ nennt.

Wenn Chantal Fandel dieses Wort hört, steigt jedoch der Unmut in ihr hoch. Ihrer Meinung nach dient es eher der Stigmatisierung als einer adäquaten Beschreibung der Situation. „Dass jemand überhaupt keinen Zugang zur Schriftsprache hat, gibt es im Grunde nicht“ so die Expertin, „die einen beherrschen sie besser, die anderen weniger gut“.

Realitätsfremdes Stigma

Die Experten sind sich darin einig: die völlige Unkenntnis der Schrift, die mit Analphabetismus bezeichnet wird, trifft man eigentlich in keiner der modernen Industrienationen mehr an. Häufig wird daher heute von „funktionalem Analphabetismus“ gesprochen. Die damit bezeichnete fehlende Fähigkeit, selbst kurze Texte zu verstehen oder zu schreiben, wirkt sich massiv auf die Lebensqualität aus: Man kann nicht angemessen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und stößt auch in der Arbeitswelt auf große Probleme.

Das Luxemburger Bildungsministerium bezeichnet dies als „Illetrismus“. Der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ wird im Grunde nur für Personen verwendet, die nie zur Schule gegangen sind. „Darunter fallen quasi keine Luxemburger, weil wir ja Schulpflicht haben“, wie Chantal Fandel präzisiert. Vom Illetrismus betroffen sind dann jene, die zwar in der Schule waren, „die aber durch Lernstörungen oder andere Gründe nicht das Niveau erreicht haben, das man heute benötigt, um in der Gesellschaft gut klar zu kommen“.

In der Schule gewesen, und doch nicht lesen und schreiben können? Anders als viele glauben, gibt es das, auch wenn über die Gründe für Lese- und Rechtschreibschwäche wissenschaftlich gestritten wird.

Einer der Faktoren ist soziale Benachteiligung. Wer in einem Haushalt aufwächst, in dem lesen und schreiben kaum eine Rolle spielt, dem fehlt der selbstverständliche, spielerische Umgang damit. Bereits hier entsteht ein Mangel an Verhaltenssicherheit. Wer andere nicht beim Lesen beobachten kann, dem fehlt dann womöglich selbst die Motivation dafür, und im Verbund damit Geduld und Konzentration. Die Schule bietet nicht immer ausreichend Ersatz hierfür.

Und so zieht an manchem und mancher die Schulzeit vorbei, ohne dass er oder sie sattelfest im Umgang mit der Schriftsprache wird. Womöglich folgt dann die Wahl eines schriftfernen Berufs. So kommt es dann, wie in der Wissenschaftszeitschrift „spektrum“ illustriert: „Die rudimentären Schreibkenntnisse gehen mit den Jahren verloren. Situationen, wo sie geübt oder gebraucht würden, werden erst recht gemieden.“ Wer die Schulzeit selbst als sehr frustrierend und angstvoll erlebt hat, dem wird es in der Regel große Mühe bereiten, seinen Kindern einen anderen Umgang mit der Schule zu vermitteln. „Dass das von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist klar“, meint Fandel. Daher wurde auch das Programm „family learning“ initiiert, wo Eltern lernen, ihre Kinder in schulischen Belangen besser zu unterstützen.

Technische Hilfsmittel liefern indessen nicht unbedingt die erhoffte Unterstützung. Denn Korrekturprogramme, Spracherkennung und dergleichen mehr setzen voraus, dass man bereits über einige Schriftkompetenz verfügt. Zudem gibt es gerade durch die Digitalisierung einen deutlichen Trend, wonach lesen und schreiben eher noch wichtiger wird als zuvor.

Schriftkenntnisse werden wichtiger

„Vor zehn, zwanzig Jahren gab es Diskussionen, ob wir diese Fähigkeiten irgendwann vielleicht gar nicht mehr benötigen“, sagt Chantal Fandel. „Doch wenn man sich heute die sozialen Medien anschaut und überlegt, was es bedeutet, nicht auf Facebook zu sein, keine SMS schreiben zu können, nicht mit What’s app klarzukommen, sich die Reise oder das Kleid nicht über Internet bestellen zu können, dann ist lesen und schreiben wieder wichtiger geworden. Im Beruf, aber auch zur gesellschaftlichen Teilhabe.“

Auch andere Praktiker wie der Pädagoge Robert Kirsch bestätigen, dass es immer schwerer wird, „ohne größere Schriftkenntnisse“ noch einen Arbeitsplatz zu finden. Betroffen sind davon Menschen verschiedener Herkunft und mit höchst unterschiedlichem biographischen Hintergrund. Da sind zum Beispiel jene, die während der Diktatur in Portugal zur Schule gegangen sind. Die Schulpflicht belief sich in dieser Zeit gerade mal auf vier Jahre. „In ländlichen Regionen haben manche nicht mal diese Zeit absolviert“, so Fandel.

Doch nicht allein die Dauer des Schulbesuchs oder das Elternhaus sind Faktoren. Bei manchen Betroffenen wurde eine „Lese-Rechtschreib-Störung“ diagnostiziert – ein Phänomen, dessen Ursachen debattiert werden. Die Thesen hierzu reichen von einem Mangel, phonetische Reize zu unterscheiden und mit schriftlichen Zeichen zu verknüpfen bis hin zu einem Mangel an visuellem Training. Doch die verschiedenen Studien sind sich einig: „Auch für Erwachsene ist es nie zu spät, lesen zu lernen.“

Bereits im September 2013 wurde daher in Luxemburg die Kampagne „Besser schreiben, lesen oder rechnen lernen“ lanciert. Sie orientiert sich in erster Linie an den lebensweltlichen Bedürfnissen jener, die mit dem Programm unterstützt werden sollen. In den vergangenen Jahren wurde es noch einmal deutlich erweitert. „Um das Jahr 2009 hatten wir etwa 150 Einschreibungen in der Erwachsenenbildung, mittlerweile sind wir bei 800 Einschreibungen pro Jahr“, sagt Chantal Fandel.

Der Aufwärtstrend lässt sich zum Teil auf die gestiegene Zahl der migrantischen Neuankömmlinge der vergangenen Jahre zurückführen. Je nach Herkunft sind auch hier die Bedürfnisse sehr unterschiedlich. Irak oder Syrien etwa sind prinzipiell Länder mit Schulpflicht und einem verhältnismäßig gut strukturierten Schulsystem. „Daneben gibt es Menschen etwa aus bestimmten ländlichen Regionen Afrikas, die tatsächlich nie in einer Schule waren“, berichtet Fandel.

Deshalb gibt es, parallel zum Sprachkurs, Alphabetisierungskurse in französischer Sprache. Sie sind Teil des „parcours d’intégration accompagnée“ für MigrantInnen, der seit April von staatlicher Seite angeboten wird, wobei Organisationen wie Asti und Clae hier ebenfalls seit langem tätig sind (woxx 1420). „Vielen kann es beim Lernen gar nicht schnell genug gehen“, beschreibt Fandel die oftmals erlebte Ungeduld. Denn ein Mangel an Sprachkompetenz ist immer auch ein Mangel an Autonomie. In den Kursen sollen die TeilnehmerInnen deshalb beispielsweise möglichst schnell lernen, wie man ein Formular selbstständig ausfüllen kann.

Ob Flüchtling, Arbeitsmigrant oder gebürtiger Luxemburger: wer auch immer beim Lesen und Schreiben Probleme hat, kann diese überwinden. Wichtig ist, dass man sich traut, so Chantal Fandel. Statt Mitleid für die Betroffenen aufzubringen, gelte es, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass es eine Vielzahl von Angeboten gibt. Denn so gut gemeint und wichtig es auch sein mag, jemand beim Umgang mit Behörden oder beim Schreiben einer Bewerbung zur Hand zu gehen: Die wichtigsten Schritte sind die in Richtung Selbständigkeit.


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