Eine Übersicht über taktische und strategische, neue und alte Kernwaffen – im Rahmen unserer Hiroshima-Serie.
„Frankreich unterliegt nicht dem INF-Vertrag, hat aber trotzdem seine GLBM abgeschafft und verlässt sich auf die beiden anderen Standbeine der nuklearen Triade: seine strategischen Bomber und seine SLBM.“ Eine solche Aussage ist typisch für den Atomwaffen-Fachjargon. Wofür stehen diese Begriffe? In diesem ersten Extrabeitrag in unserer Hiroshima-Serie wollen wir einen Überblick über die verschiedenen Atomwaffentypen geben und Begriffe erklären.
GLBM und SLBM stehen für vom Boden (Ground) bzw. von Ubooten (Submarine) aus startende Raketen (… Launched Ballistic Missiles), mit dem INF-Vertrag (1988-2019) verzichteten die USA und die Sowjetunion (und Russland) auf landgestützten Raketen mittlerer Reichweite (Intermediate-Range Nuclear Forces), und mit nuklearer Triade ist die Möglichkeit gemeint, strategische Kernwaffen vom Boden, von See und aus der Luft abfeuern zu können.
Was aber ist mit „strategisch“ gemeint? Sind nicht alle Atomwaffen strategisch, in Anbetracht des politischen Impakts, den ihr Einsatz hätte? Im Fachjargon werden nukleare Systeme als strategisch bezeichnet, wenn sie auf Ziele wie gegnerische Städte, Industriekomplexe oder Atomwaffen gerichtet sind (siehe auch „Zweitschlag und Ersteinsatz“).
Strategische und taktische Ziele
Interkontinentalraketen und Systeme mit großer Reichweite sind normalerweise strategisch ausgerichtet. Doch auch Raketen mittlerer Reichweite können strategisch eingesetzt werden, wenn zwei Länder näher beieinander liegen, zum Beispiel Frankreich und Russland. Und für die nukleare Abschreckung zwischen Indien und Pakistan (Distanz New Delhi-Islamabad: 700 km) reichen Kurzstreckenraketen, die schon fast als taktische Waffen einzustufen sind (mehr zu den „kleinen“ Atommächten in Teil 8 der Serie).
Taktisch bedeutet, dass die Ziele militärischer und „konventioneller“ (nicht-nuklearer) Natur sind, also gegnerische Truppen und Stützpunkte (in Luxemburg zum Beispiel in erster Linie die US-Militärlager und der Findel). Bis 1989 war die Nato darauf eingestellt, ihre konventionelle Unterlegenheit gegebenenfalls durch den „first use“ (nuklearer Ersteinsatz) auszugleichen. Eine solche „defensive“ Anwendung war umstritten, denn sie würde ja in dem zu verteidigenden Gebiet enorme Schäden anrichten. Dies ist einer der Gründe, warum das Militär an „mini-nukes“ interessiert ist, also an Atomsprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft wie der berüchtigten „Neutronenbombe“: Wenn weniger „Kollateralschäden“ entstehen, kann es politisch akzeptabler werden, zu Kernwaffen zu greifen.
Viele viele bunte Bomben!
Die für solche Szenarien ebenfalls notwendige hohe Treffgenauigkeit der Waffen bietet allerdings auch Vorteile bei einem strategischen Einsatz: Man kann versuchen, alle gegnerischen Raketenrampen und Nuklearbomber-Stützpunkte mit einem Erstschlag zu zerstören (zur destabilisierenden Wirkung siehe „Zweitschlag und Ersteinsatz“). Die Angst der Atomstaaten, auf diese Weise wehrlos gemacht zu werden, ist einer der Gründe, die nukleare Triade anzustreben. Sollte ein technologischer Durchbruch eines der drei Standbeine neutralisieren, bliebe die Fähigkeit zum vernichtenden Zweitschlag bestehen.
Die Zweitschlagfähigkeit allein kann allerdings die Vielfalt nuklearer Waffensysteme nicht erklären. Hinzu kommen die für einen taktischen Einsatz „geeigneten“ Waffen; außerdem entwickelt die militärische Verwaltung, wie andere auch, eine Eigendynamik, durch die jede Abteilung ihre speziellen Bedürfnisse hat … oder sie sich erfindet.
Raketen-Silos als Lebensversicherung
Den allerersten nuklearen Waffentyp, die Abwurfbombe, gibt es immer noch: zum Beispiel im nahegelegenen Büchel, wo amerikanische B-61-Bomben an deutsche Flugzeuge montiert werden (siehe „Atombomben ganz nah!“). Zu den in Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Uran- und Plutoniumbomben kamen 1952 die Wasserstoffbomben mit besonders großer Sprengkraft hinzu. Die meisten nuklearen Waffen sind heute allerdings nicht mehr zum Abwurf bestimmt, sondern werden auf Raketen montiert. Das bringt auch für luftgestützte Systeme einen Vorteil: Für einen Abwurf wie über Hiroshima müssen Bomber die gegnerische Luftverteidigung durchdringen, wohingegen Raketen aus einer Distanz von mehreren hundert Kilometern abgefeuert werden können.
Seit den 1960er-Jahren spielen die landgestützten Raketen mittlerer (Intermediate Range Ballistic Missiles, IRBM) und großer Reichweite (Intercontinental Ballistic Missiles, ICBM) eine zentrale Rolle. Damit sie nicht durch einen Überraschungs-Erstschlag zerstört werden können, werden sie zum Teil in unterirdischen Silos stationiert. Auch die klassischen seegestützten Raketen dienen seit den1960ern als todbringende „Lebensversicherung“ gegen einen solchen Erstschlag: Die anfangs erwähnten SLBM können im Fall der Fälle abgefeuert werden – ein paar der damit ausgerüsteten U-Boote sind ständig irgendwo in den Weltmeeren unterwegs.
Atom-Minen und -Panzerfäuste
Einige der früh entwickelten Kernwaffentypen sind kaum noch im Einsatz, geben aber einen Einblick in die Logik der Militär-Taktik. So gab es „Atom-Minen“, die von Sonderkommandos an strategischen Positionen gezündet werden sollten – Suizid-Attentäter*innen in Uniform sozusagen. Artilleriegeschosse machten einen großen Teil der taktischen Waffen aus, aber auch nukleare Luftabwehrraketen wie die „Nike Hercules“ wurden entwickelt, als „ökonomische“ Lösung, mit einem Schlag mehrere Bomber vom Himmel zu holen. Die „Davy Crockett“ schließlich war eine Art nukleare Panzerfaust, deren Wirkung aber immer noch der von über zehn Tonnen TNT entsprach. Der Seekrieg schließlich sollte mit atomaren Torpedos und Wasserbomben geführt werden, deren fehlende Präzision durch ihre Sprengkraft wettgemacht wurde.
Obsolet wurden solche „taktischen“ Systeme in den 1970ern, als der technologische „Fortschritt“ die Treffgenauigkeit von Raketen mit größeren Reichweiten erhöhte. Neben den ballistischen Raketen, deren Lenkungssysteme verbessert wurden, entwickelte man auch „Cruise Missiles“, die über einen eigenen Antrieb verfügen. Sie können in Bodennähe über weite Strecken fliegen, ohne vom Radar erfasst zu werden. Ins Ziel gelenkt werden sie mithilfe einer Kombination von Trägheitsnavigation, Gelände-Kontur-Abgleich und … GPS-Navigation. In den 1980er-Jahren brachten diese neuen Systeme die nukleare Abschreckung aus dem Gleichgewicht, weil sie die Möglichkeiten für einen erfolgreichen Erstschlag verbesserten (siehe Teil 3: „Frieden dank Star Wars?“).
Hyperschall-Flugkörper gegen Raketenabwehr
Im Wettlauf zwischen Erst- und Zweitschlagkapazität wurden die Raketen auch mit mehr als einem Sprengkopf ausgestattet (MIRV – Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles). Als Alternative zu der Verwahrung in Silos wird auf mobile Abschussrampen zurückgegriffen. Bekannt wurde diese Methode durch die Scuds, die während des Golfkriegs von 1991 von Saddam Hussein eingesetzt wurden (zum Glück nur mit konventioneller Sprengladung).
Grundsätzlich kann auch ein Raketenabwehrsystems (Anti-ballistic Missiles, ABM) vor einem feindlichen Gegenschlag schützen. Diese Möglichkeit wurde zeitweilig als so destabilisierend angesehen, dass ABM-Systeme 1972 durch einen amerikanisch-sowjetischen Vertrag stark eingeschränkt wurden. Ein Vertrag, aus dem die USA 2002 wieder ausgestiegen sind. Als Antwort auf die mittlerweile sehr effizienten amerikanischen ABM-Systemen entwickelt Russland derzeit Hyperschall-Gleitflugkörper, die schnell und manövrierfähig genug sein sollen, um einen solchen Schutzschirm zu durchdringen. 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist der nukleare Rüstungswettlauf wieder in vollem Gange.
Die Hiroshima-75-Serie in der woxx.