Der norwegische Exzessiv-Schriftsteller Karl Ove Knausgard, der mit seinem literarischen Selfie-Zyklus „Min Kamp“ berühmt geworden ist, entlarvt in dem Essayband „Das Amerika der Seele“ Authentizität als Illusion.
Er wird verehrt. Seine Bücher machen süchtig. Den Rezensenten macht dies skeptisch. Was steckt hinter Karl Ove Knausgard, dem größten norwegischen Schriftsteller seiner Generation, als der er so oft bezeichnet wird? Von einer Knausgard-Besoffenheit wird gesprochen. Von einem Sog-Effekt. Von einer neuen Authentizität in der Literatur. Und vom Überdruss an erfundenen Geschichten.
Der Norweger Knausgard, 1968 in Oslo geboren, schreibt exzessiv. Zweihundert Seiten wären ihm nicht genug. Nachdem ihn eine Schreibblockade fünf Jahre lang lahmgelegt hatte, legte er, exzessiv schreibend, einen Band nach dem anderen vor. Sein Romanprojekt „Min Kamp“, dessen sechster und letzter Teil „Kämpfen“ in diesem Monat auf Deutsch erscheint, ist nicht der erste egozentrische Zyklus der Literaturgeschichte, nur halt ganz anders als Marcel Prousts Meilenstein „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder jüngere Meisterwerke wie David Foster Wallaces „Infinite Jest“. Abertausende von Seiten kämpfte sich Knausgard minutiös durch die Beschreibung seines Lebens. „Min Kamp“ – der Titel des Zyklus wurde nicht auf Deutsch übersetzt – ist ein riesiges literarisches Selfie, wie sein Werk häufig bezeichnet wird. Oder besser unzählige Selfies aneinandergereiht: „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“, lauten die einzelnen Titel. Und dann der Endkampf.
Der Hype um Authentizität ist wahrlich nicht neu. Das realistische Erzählen ist älter als der moderne Roman und begann Mitte des 19. Jahrhunderts mit Schriftstellern wie Theodor Fontane, Gustave Flaubert, Charles Dickens und Lew Tolstoi. Seine radikaleren Varianten tauchen in aller Regelmäßigkeit wieder auf. Die deutschsprachige Literatur wurde von der jüngsten Welle mit Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre („Panikherz“) und Thomas Melle („Die Welt im Rücken“) erfasst. Sehr authentisch oder sehr gut fiktional?
Über das Authentische schreibt Knausgard in seinem Essayband „Das Amerika der Seele“. Es geht darin unter anderem um das Schreiben selbst. Der Autor enttäuscht dabei alle Hoffnung auf das wirklich Authentische: „Wir alle kennen diese Sehnsucht, wir wollen das Echte, wir wollen das Authentische, wir wollen die Welt zurück“, schreibt er über David Shields literarisches Manifest „Reality Hunger“. „Das aber geht nicht, denn wir wissen, dass das Ursprüngliche auch nur eine Vorstellung ist, nicht wirklicher als ein Traum.“
David Shields geht es in seinem 2011 erschienenen Buch letztlich darum, wann die Wirklichkeit in Fiktion übergeht. Der Autor, so Shields, habe schließlich nur sich selbst, und Schreiben heiße nichts anderes als „den eigenen Körper aufs Ziel schleudern, nachdem alle Pfeile abgeschossen sind“. Bei Knausgard geht es dagegen um den Unterschied zwischen dem „ich“ und demjenigen, der „ich“ schreibt. Erstaunen wird dies vor allem diejenigen, die immer glaubten, Knausgard sei durchweg identisch mit dem „ich“ in „Min Kamp“.
„Wir alle kennen diese Sehnsucht, wir wollen das Echte, wir wollen das Authentische, wir wollen die Welt zurück.“
Knausgard hingegen will gar nicht mit dem Alter Ego in seinen Romanen identifiziert werden. Aufatmen, denn dem Norweger wurde bereits vorgeworfen, seine Bücher seien „intimfaschistisch“.
„Das Amerika der Seele“ ist sicherlich nicht als Einstieg in Knausgards Werk gedacht. Viel eher ist es eine Ergänzung. Diese verrät einiges über den Schriftsteller und seine Vorlieben, was die Leser zuvor noch nicht kannten. Aber auch nicht zu viel. Knausgard nennt sich selbst reaktionär. Er beklagt die „neomoralische Welle“ und die universelle „Gleichheitsideologie, die im Grunde eine Geldideologie ist“. Alles sei egalitär und damit egal, schreibt er. Umso mehr löst dies bei ihm eine Sehnsucht nach dem Absoluten, nach dem Nicht-Relativen und Nicht-Verhandelbaren aus. Und daher rührt auch sein Widerwille gegen die Populärkultur. Es ist ein Unbehagen an der Moderne, das immer schon ein Bestandteil derselben war. Die Moderne ist modern, weil sie sich reflektiert.
In einem Essay mit dem Titel „Bibelhelfer“, einer von 18 unterschiedlich langen Texten, ursprünglich publiziert zwischen 1996 und 2013, arbeitet Knausgard beratend an einer Neuübersetzung der Bibel mit. Er stellt fest, dass es unmöglich sei, eine neue Sprachgestalt zu finden. Das Populäre sei korrumpiert durch den Mainstream und durch den Konsum.
Beim Schreiben geht es Knausgard „eher ums Zerstören als ums Erschaffen“, sein ästhetisches Programm ist die „Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“. Er bezeichnet seinen Landsmann Knut Hamsun (1859-1952), der sich offen zum Nationalsozialismus bekannt hatte, als wichtigstes Vorbild. Dieser ist für ihn ein früher Chronist der Massengesellschaft, nach Hamsuns Worten „einer schäbigen Moderne, einer Mitten-in-der-Welt-Moderne im Zeichen von Entwurzelung, Raubbau, Fortschritt – unbehaust in einem Amerika der Seele“. Knausgard hat ihm den titelgebenden Essay gewidmet – eine fragwürdige Hommage.
Die Themen, die Knausgard aufgreift, könnten kaum unterschiedlicher sein. Er schreibt über das Kotzen ebenso wie über seinen Ausscheidungsvorgang in „Der braune Schwanz“. Er macht also das Intimste demonstrativ öffentlich, die „letzte Barriere des Individuums“, und macht die eigene Körperlichkeit bis ins Detail wahrnehmbar.
In „Das Leben in der unendlichen Sphäre der Resignation“ liest Knausgard in Beirut eine Passage aus seinem Werk, in der er sich als junger Mann mit einer Glasscherbe das Gesicht zerschneidet, weil ihn eine Frau zurückgewiesen hat. Er schämt sich zunehmend im Laufe der abendlichen Lesung, denn im Nachbarland Syrien tobt der Krieg, und der Libanon ist voller Flüchtlinge, die andere Sorgen haben als eine unerwiderte Liebe. „Kann man narzisstischer sein?“, fragt er sich. Nach der Lesung fragt ihn ein Mann, ein arabischer Schriftstellerkollege, ob er über Politik schreibe. Knausgard verneint, der Mann wendet sich wortlos von ihm ab.
In der Tat sind politische Einmischungen von Knausgard, für den alle Wahrheit im subjektiven Erleben liegt, kaum zu erwarten. Zumindest einer seiner Texte kann jedoch durchaus auch als politisch bezeichnet werden: „Der monofone Mensch“ handelt von dem Massenmörder Anders Breivik. Knausgard will dessen grausame Tat weder ideologisch noch pathologisch erklären. Vielmehr deutet er sie, indem er auf die charakterlichen Prägungen und inneren Kämpfe Breiviks sowie auf dessen schwierige Beziehung zu den Eltern verweist: „Die meisten, die wie er in einer solchen Sackgasse enden, in der alles unerträglich ist und aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, nehmen sich das Leben. Das hätte ich getan. Andere bringen zuerst ihre Familie um, ehe sie dem eigenen Leben ein Ende setzen, auch das kommt vor. Breivik tat weder das eine noch das andere, er war ein Gläubiger. Das ist kein Mysterium, das ist kein Rätsel, das ist menschlich.“ Breivik wird von dem Autor präsentiert als ein Fanatiker, der glaubt, dass seine Tat das einzig Richtige war.
Knausgard geht es um das Menschliche. Dazu zählt die radikale Erkundung seiner selbst, aber auch von Bildern wie jenen von Cindy Sherman oder den Wolken am Himmel. Der Autor nennt dies „Weltgefühl“. Eine metaphysische, religiöse Dimension. Über Fjodor Dostojewskijs Fürst Myschkin aus „Der Idiot“ heißt es, er sei „der Gegenpol des Zynikers. Zwischen ihnen beiden gilt es zu wählen. Der Zyniker fragt: Aber wer soll vergeben? Der Idiot antwortet: Das werde ich tun.“ Knausgard nimmt die Position des Idioten ein.
In seinen Gedanken über Sören Kierkegaard reflektiert er über die Motivation des Glaubens, anhand des Beispiels von Abraham, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern. Im Ethischen sei der Einzelne dem Allgemeinen untergeordnet, schreibt Knausgard, „während es im Glauben umgekehrt ist, dort ist der Einzelne dem Allgemeinen übergeordnet“.
Doch warum soll der Leser das überhaupt lesen? Weil Knausgard stilistisch brilliert und bestens unterhält, selbst dann, wenn er in „Min Kamp“ über 20 Seiten beschreibt, wie er seine Kinder anzieht und sie zum Kindergarten bringt. Seine Familie und sein Umfeld haben dem Schriftsteller aufgrund der radikalen Selbstentblößung und der Darstellung der ihm nahe stehenden Personen viele Vorwürfe gemacht. Nach 3.600 Seiten wolle er sich vom autobiographischen Schreiben verabschieden, hat er in einem Interview angekündigt.
Mit dem Essayband knüpft er nochmals an „Min Kamp“ an. Doch die Texte sind dabei unterschiedlicher Qualität, vom Vortrag bis zu einem Beitrag für einen Ausstellungskatalog und Zeitungsartikeln. Drei davon sind Erstveröffentlichungen. Manche sind wie Fingerübungen, so etwa jener über die Riesenfische im Berliner Zoo. Ein anderes Mal schreibt Knausgard, in „Alles was am Himmel ist“, über die Wolkenbilder, die sich ständig verändern und aus denen immer etwas Neues wird. Philosophische Gedanken von einfacher, klarer Schönheit.