Backcover: Wir haben Post!

Was wäre ein Sommerurlaub ohne Postkarten aus der Ferne? Öde, finden Joël Adami und Isabel Spigarelli von der woxx. Damit die Tradition weiterlebt, sammeln sie im August Urlaubsgrüße aus der Utopie, nachzulesen auf der Rückseite der Zeitung.

Zu welcher Postkarte dieses Urlaubsfoto beigelegt war, erfahren die Leser*innen in den kommenden Wochen auf der Rückseite der woxx. (Copyright: Isabel Spigarelli)

Ein Sommertag an der Adriaküste, Ende der 1990er-Jahre: Die Autorin dieser Zeilen steht mit Eis am Stiel vor dem Drehgestell am Kiosk, das beim Kreisen quietscht. Die Wangen rot vor Scham, als sie das Motiv barbusiger Frauen am Strand entdeckt. Später schreibt sie mit klebrigen Fingern und krakeliger Schrift an ihre besten Freund*innen, deren Adressen sie aus einem Heftchen abschreibt, bevor sie eine Briefmarke ableckt und an die obere Kante klebt. Auf die Kärtchen an Verwandte, geschrieben von ihren Eltern, setzt sie die Unterschrift der Familienkatze, nur so zum Spaß. Heute schickt sie – die Autorin, nicht die Katze (ruhe in Frieden, Spunky!) – nur noch Handyfotos und Textnachrichten aus dem Urlaub. Grüße per Post gibt es höchstens noch zum Geburtstag von Freund*innen, die im Ausland leben.

Das macht sie zur Ausnahme: Nach einer Studie von Bitkom, dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, aus dem Jahr 2019 verschicken immerhin 55 Prozent der Deutschen Urlaubsgrüße per Postkarte statt als SMS oder Messenger-Nachricht. Damit schließen sie an eine 154-jährige Tradition an, der das Museum für Kommunikation Berlin 2020 eine ganze Ausstellung widmete: „Mehr als Worte. 150 Jahre Postkartengrüße“. Näheres dazu im Expotipp dieser Woche.

In der Onlinedarbietung der Schau erfahren die virtuellen Besucher*innen allerlei Spannendes zur Geschichte von Postkarten. Die Idee einer Postkarte stieß zunächst auf Ablehnung: 1865 schlug der deutsche Postreformer Heinrich von Stephan die Einführung eines sogenannten „offenen Postblattes“ als kostengünstigere Alternative zum Briefverkehr vor. Kritiker*innen bangten um das Briefgeheimnis, die guten Sitten und finanzielle Einbußen der Post.

Drei Jahre später reichten Friedlein und Friedrich Wilhelm Pardubitz ein Muster für eine „Universal-Correspondenz-Karte“ beim Generalpostamt Berlin ein: Auf der Vorderseite sollten ein Adressvordruck und Gebrauchsanweisungen stehen, auf der Rückseite waren gängige Fragen und Antworten aus dem Familien- und Geschäftsleben vorgedruckt. Die Absender*innen konnten den Empfänger*innen durch die Markierung der aufgedruckten Sätze Nachrichten übermitteln. Auch dieser Versuch scheiterte in Deutschland zunächst, nicht aber bei der österreich-ungarischen Post, wo die „Correspondenz-Karte“ 1869 eingeführt wurde.

Als erste Postkarte der Welt gilt, laut Museum für Kommunikation Berlin, eine Correspondenz-Karte von Perg bei Linz nach Kirchdorf aus demselben Jahr. Sie diente der Planung eines Besuchs unter Bekannten. Heinrich Stephans Idee gelang erst ein Jahr später der Durchbruch: Am Einführungstag wurden in Berlin mehr als 45.000 Postkarten verkauft. Im gleichen Jahr führten auch Finnland, Frankreich und Großbritannien die Postkarte ein; in den Folgejahren kamen etliche Länder verschiedener Kontinente hinzu. Ihre Blütezeit erlebte die Postkarte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Im Jahr 1900 verschickte allein die damalige Reichspost 440 Millionen Ansichtskarten.

Heute gibt es Projekte wie „Postcrossing“, an dem sich Menschen aus aller Welt beteiligen können. „Dabei sendet und empfängt man Postkarten an und von anderen Personen“, ist auf der Website des Museums für Kommunikation Berlin zu lesen. „Mittlerweile gibt es über 700.000 ‚Postcrosser‘ in 213 Ländern.“ Wer eine Karte schreiben will, kann sich auf der Plattform postcrossing.de anmelden und bekommt per Zufallsgenerator die Anschrift eines anderen registrierten Mitglieds zugeteilt.

Copyright: Pixabay

„Bekommt man eine Postkarte, wünscht man sich fast zwangsläufig an den Ort, der darauf abgebildet ist.“

woxx-Journalist Joël Adami erhielt seine letzte Postkarte auf einer Geburtstagsfeier vom Geburtstagskind persönlich – und das noch bevor er sein eigenes Geschenk überreichen konnte. Die Karte ist altrosa, zeigt einen Menschen in inniger Umarmung mit einem Computer und die Aufschrift „No one understands me like Computer“. Dabei handelt es sich um eine Urlaubspostkarte aus New York, die jedoch aus Zeit- und Kostengründen nie verschickt wurde.

Für Adami sind Postkarten „Souvenire der Sehnsucht“, gleichzeitig aber auch Ausdruck einer Illusion. „Sie zeigen Urlaubsorte oft in idealisierter Form: Das Wort ‚Postkartenwetter’ beschreibt schönes Wetter, bei dem man ein ‚Postkartenmotiv’ – noch so ein Wort – besonders gut fotografieren kann“, stellt er fest. „Bekommt man eine Postkarte, wünscht man sich fast zwangsläufig an den Ort, der darauf abgebildet ist.“ Zugleich interpretiert er Postkarten als Zeichen der Verbundenheit: Fischt er eine Postkarte aus dem Briefkasten, weiß er, dass ihn die Absender*innen auf Reisen nicht vergessen haben.

Die woxx lässt ihre Leser*innen im Sommer trotz Hitze und Kollektivurlaub Mitte August deswegen auch nicht hängen und versorgt sie mit kuriosen Postkarten auf der Rückseite. Warum kurios? Das erschließt sich aufmerksamen Leser*innen, die Briefmarken und Texte der Karten genauer unter die Lupe nehmen … So viel sei verraten: Die im Sommer völlig überfüllte Adriaküste entpuppte sich im Laufe der Jahre nicht zum liebsten Ferienort der Autorin. Adami und sie träumen lieber von Fantasieorten, an denen die Existenz von Queerfeminismus und Drags keine kollektiven Hassanfälle auslöst und der Tofu nur frisch gepresst in der Pfanne landet. Und auch vierbeinige Mitglieder der woxx mögen Wunschvorstellungen haben, wo sie ihre Pfötchen am liebsten hochlegen möchten.

„Damit solche Utopien wahr werden können, braucht es reale Orte und Menschen, mit denen man sie gemeinsam zu einem idealeren Ort umbauen kann“, sagt Adami. „Solarpunk-Utopien sind beispielsweise ein Hoffnungsschimmer, wo es aufgrund der Dauerhitzewellen in halb Europa keinen mehr gibt. Die Vorstellung, dass man zumindest Urlaub in einer besseren Welt machen könnte, spendet Trost.“ Adami sitzt beim Austausch über die Postkarten-Serie zwar (wie fast immer) auf seinem Bürostuhl, doch hat er am Ende ein Bitte an die Leser*innen: Sie sollen sich ihn lieber im Hawaihemd und mit einem Cocktail in der Hand auf einem Strandliegestuhl vorstellen.


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