Einst vom Abriss bedroht, wurde eine Filmakademie in Amsterdam vor 24 Jahren von einem Kollektiv junger Aktivist*innen und Künstler*innen besetzt. Mittlerweile ist das Wohn-und Kulturzentrum fest im Stadtviertel verankert – und kann auch als Maßstab dafür dienen, wie sich das gesellschaftliche Klima der Niederland seitdem verändert hat.
Drei Monate stand das Backsteinhaus mit der Nummer 301 der Overtoomallee leer, ehe die „Kraaker“, wie die Hausbesetzer*innen in den Niederlanden genannt werden, es ausspähten. Schmal und leicht übersehbar sieht es aus, wie auch seine Nachbarhäuser im schicken Amsterdamer Westviertel. An diesem grauen Winternachmittag erinnert es fast ein wenig an einen dekorierten Lebkuchen, wäre da nicht die mit Graffiti übersäte Stahltür. Auf der anderen Seite der schweren Tür wartet Ivo Schmetz, 49 Jahre alt, in Jeans und Pulli, und streckt die Hand zur Begrüßung aus. Der Künstler und Grafiker weist den Weg voran: Einen Flur mit poster-bedeckten Wänden entlang und das leicht schallende Treppenhaus hoch in die vegane Küche mit Bar.
Steckbrief des OT301: Zweieinhalbtausend Quadratmeter, drei Stockwerke, ein Hof, derzeit neun Bewohner*innen und drumherum ein Kollektiv aus rund hundert Leuten. Trotz der Partys, die hier an jedem Wochenende stattfinden, ist das OT301 „kein Club“, beharrt Ivo. Ende der 1990er-Jahre besetzte Schmetz gemeinsam mit einer Gruppe junger Aktivist*innen und Künstler*innen das Gebäude. Nach sieben Jahren kaufte das Kollektiv das Haus, seit über 24 Jahren funktioniert es nun als „Wohn-, Arbeits- und öffentlicher Raum“ zugleich. In der einst „kraak- vriendelijke“ (besetzungsfreundlichen) niederländischen Hauptstadt ist der Fall des OT301-Kollektivs keine Rarität. Seit der Kriminalisierung von Hausbesetzungen durch ein entsprechendes Verbot im Jahre 2010 und infolge einer auf Privateigentum fokussierten Wohnungspolitik ist es jedoch zunehmend schwerer geworden, dem Beispiel des OT301 zu folgen.
Kurz nach seinem Abschluss an der Akademie der Bildenden Künste in Maastricht landete Ivo 1998 in Amsterdam, mitten in der „Kraaker“-Szene. „Ich dachte mir, warum nicht mitmachen“, erzählt er, während er in der Küche im ersten Stock Wasser kocht. „Dann öffnete sich vor mir diese Welt der Freiheit.“ Er blieb. Seine erste Besetzung war ein leerstehendes Krankenhaus. „Das OVG, im Osten der Stadt. Anfangs haben wir es mit zehn Leuten besetzt, am Ende lebten dort um die 130 Leute.“ Doch die Gruppe wurde rausgeworfen. Halb so schlimm: Rasch fand sich ein anderes leerstehendes Gebäude, davon habe es damals genug in der Stadt gegeben. Kurz zuvor noch als Filmakademie genutzt, war es nun vom Abriss bedroht, und perfekt für die Gruppe: „Groß und an einem tollen Standort“ – mitten in einer der schönsten und längsten Alleen Amsterdams.
Seit einem Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofes im Jahre 1971 war die Besetzung von unbenutzten Häusern in Amsterdam legal, doch musste das betreffende Gebäude mindestens ein Jahr lang leer stehend gewesen sein, so Tim Verlaan, Professor für Stadtgeschichte an der Universität von Amsterdam. Die Filmakademie an der Nummer 301 stand aber seit bloß drei Monaten leer. Ivo und die anderen Kraaker ließen es trotzdem darauf ankommen: „Das Einzige, das ja geschehen konnte, war, dass man uns wieder rausschmeißen würde.“ Am 14. November 1999 verschafften sie sich Zutritt zu dem Komplex.
Ab Mitte der 1960er-Jahre war Amsterdam Schauplatz einer der bedeutendsten Besetzungsbewegungen in ganz Europa. Parallel zur sexuellen Revolution, und angetrieben von einem zunehmend spekulativen Wohnungsmarkt, bekam die „Kraakbeweging“ Zulauf aus den damaligen künstlerischen, sich als links, umweltfreundlich und antikapitalistisch verstehenden Jugend-Subkulturen. Anfang der 1970er-Jahre schätze man die Anzahl der Besetzer*innen in der Stadt auf 20.000. „Amsterdam hatte eine gewisse Atmosphäre, strahlte Freiheit und Abenteuerlust aus“, erinnert sich Ivo. „Das hat mich von Anfang an angezogen. Jedes Wochenende gab es große Hausbesetzungspartys, es war fantastisch.“
So berühmt seien die Besetzungen in Amsterdam damals gewesen, dass Leute aus der ganzen Welt herkamen, um mitzumachen. „Touristenbesetzer“, schmunzelt Ivo. Er schlürft an seinem Kräutertee im dicken Glasbecher und zählt auf: „Polen, Italien, Spanien, Amerika, Korea, Japan, … Du hast all diese verrückten, interessanten und kreativen Leute kennengelernt, die ich nie getroffen hätte, wenn ich nicht in dieser Szene wäre.“ Die Bewegung war in etlichen europäischen Großstädten verbreitet. Von Berlin und Hamburg bis hin zu Barcelona, wo die Okupas-Bewegung den Behörden nach wie vor Kopfschmerzen bereitet.
Ivo und das Künstler*innen- kollektiv, die 1999 im Gebäude mit der Nummer 301 die Wohnungsgenossenschaft „Eerste Hulp Bij Kunst“ (EHBK, Erste Hilfe für Kunst) gründeten, richteten dort eine Kunstwerkstätte ein und veranstalteten Partys und Ausstellungen. Wohnpolitisch hatte sich der Wind mittlerweile gedreht: 1998 war das „Undivided Amsterdam“-Memorandum verabschiedet worden , mit dem Ziel, den Anteil der von den Eigentümer*innen selbst genutzten Wohnungen innerhalb von 12 Jahren zu verdoppeln. Einen Monat nach der Besetzung erhielten die Besetzer*innen des OT301 den Räumungsbefehl. Dem Kollektiv gelang es, mit der Stadtverwaltung, der das Gebäude ab Januar 2000 gehörte, zu verhandeln. Im November 2001 kam man überein: Das Kollektiv durfte bleiben, musste fortan jedoch Miete bezahlen.
In der Hoffnung, etwas Langfristiges aufbauen zu können, akzeptierte das Kollektiv diese Bedingung. „Wir waren uns des Potenzials des Gebäudes bewusst“, so Ivo. „Kurzfristige Hausbesetzungen zu machen, das kann schön sein, aber wenn man halt nie weiß, wie lange man bleiben kann, dann investiert man nicht so viel in ein Projekt.“ Als nach ein paar Jahren die Gemeinde die Verhandlungen erneut aufnehmen wollte, entschloss sich das Kollektiv, das Gebäude zu kaufen, um sich mehr Unabhängigkeit zu verschaffen. 900.000 Euro forderte die Gemeinde, 500.000 Euro bezahlte das Kollektiv nach etlichen Verhandlungen am Ende. Davor war man von Bank zu Bank gegangen, ehe sich 2006 eine bereit fand, dem Kollektiv einen Kredit zu gewähren.
Laut dem Geschichtsprofessor Tim Verlaan war die Legalisierung von Besetzungen damals eine gängige Praxis. Ein Gebäude in den Händen von Kollektiven und Genossenschaften brachte viele Vorteile mit sich, allem voran „verhinderte es Spekulation und hielt die Preise niedrig“. Kollektiver Besitz als Form des Widerstands gegen Gentrifizierung? Vielleicht, doch Ivo erinnert daran, dass Besetzer*innen selbst auch manchmal ungewollt zur Gentrifizierung beitragen können, indem sie mit öffentlichen Projekten und Ausstellungen den Wert eines Wohnviertels steigern. Wenigstens „haben wir das Gebäude hier gerettet“ – sowohl vor dem Abriss als auch vor der zunehmenden Immobilienspekulation. „Wir nahmen es vom Markt und öffneten es der Öffentlichkeit.“
Unbeschadet blieb das Kollektiv bei dieser Entwicklung nicht. Während der Verhandlungen hatte die Gruppe einige Mitglieder verloren. Ivo zuckt bedauernd die Schultern. „Sie wollten nichts anderes als Besetzer sein.“ Etwa sechs Leute aus der ursprünglichen Gruppe sind heute noch Teil des OT301. Ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und Autonomie habe die Gruppe jedoch nicht verloren, beharrt der Künstler, der in einem multidisziplinären Kunststudio arbeitet. „Hätten wir alles, wofür wir stehen, aufgeben müssen, um ein kommerzieller Ort zu werden, dann hätten wir den Kauf abgelehnt. Fast alles, was wir hier tun, hat eine politische Ebene, weil wir es auf eine Art und Weise tun, die gegen die kapitalistische, neoliberale Art vorgeht.“
Eine Haltung, die immer seltener wird. Nach 40 Jahren „Kraakvriende- lijkheid“ entwickelte sich in Amsterdam Anfang der 2000er-Jahre eine wachsende Mittelschicht. Mit ihr kam eine wirtschaftsliberale Politik, die die Gentrifizierung der Innenstadt und die Interessen der Eigentümer vorantrieb. Einer Studie der Geographen Wouter van Gent und Cody Hochstenbach von der Universität Amsterdam zufolge stellte die neue Ausrichtung auf die aus Hausbesitzer*innen bestehende Mittelschicht „einen radikalen Bruch mit dem vorangegangenen Jahrzehnt dar, in dem der soziale Wohnungsbau im Mittelpunkt gestanden hatte“. 2010 wurde das „Besetzungsverbot“ mit Strafen von maximal 20 Monaten Haft unter großen Protesten eingeführt. Damals hatte die Stadt Schätzungen nach noch 1.500 Kraaker.
Die Bewegung verlor schnell an Schwung und Bedeutung. In den Jahrzehnten davor hatten die Besetzer*innen es geschafft, die Öffentlichkeit auf das Wohnungsproblem aufmerksam zu machen, so Tim Verlaan. Das war in einer Zeit, in welcher der Fokus weniger auf dem Privateigentum lag und „die Gemeinden zunehmend in Sozialwohnungen investierten“, sagt der Experte. Die Bewegung schwand, während parallel dazu eine Regierungskoalition mit einer Vorliebe zum Neoliberalismus im Jahre 1990 auf die nachfolgende politische Wende nach rechts hindeutete. Eine Tendenz, die sich mit den Ergebnissen der diesjährigen vorgezogenen Parlamentswahlen drastisch bestätigt hat (siehe woxx 1761 „Wahlen in den Niederlanden “).
Nach dem Kauf renovierte das Kollektiv die ehemalige Filmakademie. Seitdem lädt man Künstler*innen in Residenz ein, regelmäßig organisiert man künstlerische, Yoga- oder Schauspiel-Kurse. Ende Dezember beispielsweise beginnt ein neuer Performance-Tanzunterricht. Das OT301 ist ein fester Bestandteil des Wohnviertels geworden. „Die meisten Nachbarn kennen das Viertel ja nur mit uns drin, wir sind hier schon länger als sie“, sagt Ivo. „Vielen Leuten gefällt, was wir hier machen, dass wir viele Angebote für Kinder haben, und alles erschwinglich und günstig und einladend ist.“
Die Gruppe hat sich im System des Amsterdamer Wohnungsmarkts ihre eigene Nische geschaffen. Neben den Kursen, den Konzerten und den Partys, brauen die ehemaligen Kraaker ihr eigenes Bier in Zusammenarbeit mit einer Brauerei im Norden Amsterdams. Zudem gibt man alle zwei Monate eine Gratiszeitung heraus, die „Alternative Amsterdam“, in der über die lokale Kunst- und Subkulturszene berichtet wird; im Eigendruck und mit einer Auflage von 7.000 Exemplaren. Einen Teil des Stroms, den man benötigt, bezieht man aus Solarpanelen, die schon 2014 auf dem Dach installiert wurden.
„Wir machen so viel wie möglich selbst, um Geld zu sparen“, sagt Ivo. Beispielsweise hat das OT301 ein eigenes Online-Ticketsystem, über welches die Eintrittskarten für Partys und Konzerte verkauft werden. „Anstatt das an ein großes Unternehmen weiterzugeben, nehmen wir lieber selbst 30 Cent Verwaltungsgebühren pro verkauftem Ticket ein.“ Nur so viel wie das OT301 benötige, um seine eigenen Kosten zu decken, fügt er hinzu. Alles werde wieder ins Kollektiv reinvestiert.
Das Ganze basiert auf einer flachen Hierarchie, in der jede Entscheidung von der gesamten Gruppe getroffen wird und alle freiwillig für das Kollektiv arbeiten. Auch er selbst? „Sicher, alle.“ Jeder und jede, die dort lebt, „ist sehr mit diesem Gebäude verbunden. Wie Monika, die gerade unten einen Kurs gibt.“ Aus dem Erdgeschoss dringen nur dumpf Geräusche nach oben. Ivos Kinder machen in der Zirkuswerkstatt mit, die unten stattfindet.
Auch wenn Besetzungen verboten worden sind, neue „Kraaker“-Kollektive entstehen heutzutage gleichwohl noch immer. Etwa im Hotel Marnix, das vor zwei Jahren vom „Mokum Kraakt“-Kollektiv sechs Wochen lang besetzt wurde. Drei Mitglieder des jungen Kollektivs sind auch im OT301 aktiv, erzählt Ivo. „Das Schöne daran ist, dass es eine junge Generation ist.“
Dass die „Kraaker“ aber erneut zur Alltagskulisse Amsterdams gehören und einen ähnlichen gesellschaftlichen Einfluss haben werden wie im vorherigen Jahrhundert, glauben weder Historiker Tim Verlaan noch Geograph Wouder van Gent. Die Justiz sei nicht mehr auf ihrer Seite. Dabei gäbe es für neue Besetzungen allen Grund: Bezahlbarer Wohnraum zunehmend knapp, landesweit fehlen 390.000 Wohnungen. Schon 2021 kam es zu Protesten, in Amsterdams Westerpark fanden sich 18.000 Menschen zusammen, kurz darauf folgten Proteste in Rotterdam. „In die aktuelle Wohnungskrise“, so Verlaan, „muss die Regierung eingreifen.“
Im OT301 geht es nun das Treppenhaus hinab. Die Zirkuswerkstatt ist zu Ende, Ivo holt seine Kinder ab. Die schwere Tür steht am Abend offen, draußen scharen sich einige Familien. An einem Montag wie diesem ist noch keine Partystimmung angesagt. Doch an den Wochenenden füllt sich die ehemalige Filmschule mit etlichen Musik- und Tanzliebhaber*innen. Bis zu 800 Leute kommen dann. Ins Kollektiv selbst steigen stets neue Leute ein. „Das hält die Energie am Laufen“, sagt Ivo, und hofft, dass seine Kinder noch lange nach seinem Tod hier „Spaß haben“ werden und „neue Generationen das Gebäude nutzen.“ Möge die mit Graffiti-verzierte Tür noch jahrzehntelang offen stehen.
Das einst besetzte Haus mit Nummer 301 liegt in der begehrten Overtoom Allee nahe am Vondelpark.Foto: woxxCopyright: Leon HendrickxIvo Schmetz (in der ersten Reihe, Zweiter von rechts) zusammen mit dem Kollektiv, das immer offen für neue (und alte) Mitglieder ist.