Die Studien zum „Sowjetmenschen“: Herrschaft der Hoffnungslosigkeit

Autoritäre Regime wie jenes in Russland basieren selten bloß auf Repression. Wladimir Putin kann sich auf in der Bevölkerung tradierte Verhaltensweisen stützen, die zurückreichen bis in die Anfänge der Sowjetunion.

Bedient sich zur Legitimation seiner Herrschaft des mythischen Neotraditionalismus, des imperialistischen russischen Nationalismus und einer antiwestlich orientierten Kirche: 
Der russische Präsident Wladimir Putin Mitte April beim orthodoxen Ostergottesdienst in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. (Foto: EPA-EFE/Sergei Karpuhin/Sputnik/Kremlin Pool Mandatory Credit)

Nicht erst seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine gibt es viele Versuche, einen adäquaten Begriff für den Charakter des russischen Herrschaftssystems zu finden. Die Wissenschaftlerin Anna Schor-Tschudnowskaja schlägt vor, es als „nihilistischen Autoritarismus“ zu bezeichnen. „Nicht mit Hoffnung und Utopie, sondern mit Enttäuschung und Nostalgie lässt sich die Macht zementieren“, schrieb sie im April vergangenen Jahres in der Neuen Zürcher Zeitung.

Ihr zufolge unterscheidet sich das von Putin geschaffene System in drei Punkten von der Sowjetunion: Demnach bleiben erstens die Grenzen offen, „damit alle ‚Verräter‘ und ‚inneren Feinde‘ das Land verlassen können und Massenverhaftungen und Massenerschießungen vermeidbar sind“. Zweitens gebe es weder eine führende Partei noch eine breite politische Bewegung, welche die Macht innehabe. Und schließlich existiere keinerlei gesellschaftliche Perspektive: „Es ist dies eine neue Art von nihilistischem Autoritarismus, der mit Sinnlosigkeit und Absurdität wuchert und nicht mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft.“

Russische Soziolog*innen haben die letztgenannten Effekte allerdings schon für die Sowjetherrschaft festgestellt. Die bloße Tatsache, dass die Sowjetunion so lange habe bestehen können, sei ein „Anzeichen dafür, dass das Regime sich in gewissem Maße bewusst geworden war, dass Terror und Repressionen nicht die zentralen Mittel sein können, um ein dauerhaftes Funktionieren des Systems zu gewährleisten“, schreibt etwa der 1946 in Moskau geborene Sozialwissenschaftler Lew Gudkow, Direktor des immer noch unabhängig arbeitenden russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Es gebe daher noch ein anderes Element, auf das ein Regime wie Putins zählen könne, und das sei die Anpassung und die damit verbundene Passivität.

Seit den Jahren der Herrschaft Stalins hätten die Menschen diese erlernt. Die „einfachste Form der Anpassung“, sei das „Erdulden“ gewesen: „eine passive Selbstbeschränkung, die Reduzierung der Erwartungen an das Leben“. Später hätten sich solche Verhaltensweisen verfeinert, denn die Menschen in der späten Sowjetunion hätten ohnehin keine kollektivistischen Werte und Vorstellungen mehr gehabt, sondern nur mehr das Interesse, ihr eigenes Leben und das ihrer Familie zu sichern. Diese tief verinnerlichte, spezifische Form der Anpassung in der Sowjetunion wird von russischen Forscher*innen als die des „Sowjetmenschen“ bezeichnet.

„Historisch entstandener soziokultureller Typus“

Historisch hatte das Wort zunächst eine durchaus positive Konnotation: Es stand für die Idee des „neuen Menschen“, der mit der Revolution und der Verwirklichung der kommunistischen Utopie geschaffen werden sollte. Bald jedoch sahen sich solche Hoffnungen blamiert und spätestens seit der Herrschaft Stalins wurde der „Sowjetmensch“ zum Zerrbild der Propaganda.

Soziologisch ist damit eine in der Sowjetgesellschaft geprägte Charakterstruktur gemeint. Dies wiederum geht zurück auf Studien eines Forschungsteams um Juri Lewada. Der 1930 in der Ukraine geborene Wissenschaftler hatte in den Jahren 1989 bis 1991 eine repräsentative Meinungsumfrage zu Themen alltäglicher Lebenseinstellungen durchgeführt. Im Mittelpunkt der 1993 auch auf Deutsch erschienenen Untersuchung stand die spezifische Persönlichkeitsstruktur des „Homo sovieticus“, der als „historisch entstandener soziokultureller Typus“ begriffen wurde. Alle sozialen Mechanismen in der Sowjetunion – vom Zwang über die Erziehung bis zur sozialen Kontrolle – hätten nur ein einziges Ziel gehabt: „die ‚Produktion‘ eines loyalen Menschen, der die herrschenden Werte scheinbar übernommen hat“.

Wichtig ist hier die Bemerkung, dass die Werte nur „scheinbar“ übernommen worden sind, denn ihre Umsetzung sei weder gefordert worden noch möglich gewesen, wie die Wissenschaftler*innen betonen. Jeder Mensch habe sich gewissermaßen permanent in zwei parallel existierenden Welten bewegt: Einerseits habe man sich öffentlich kollektiv zur Sowjetpropaganda vom Aufbau einer besseren Welt bekennen müssen, während es andererseits privat und individuell ums bloße Überleben und die reine Selbsterhaltung ging. Dem geforderten „heroischen Dienst“ an der Sowjet-
union sei die Realität der chronischen Armut gegenübergestanden, dem proklamierten „fürsorglichen Staat“ die allgegenwärtige Korruption, der erwarteten Beteiligung an öffentlichen Veranstaltungen zur Huldigung des Kollektivs die Zerstörung der gelebten Solidarität zwischen den Bürgerinnen und Bürgern.

Die Kombination von solchen sich wechselseitig ausschließenden Elementen des individuellen Selbstverständnisses und der erzwungenen Anpassung an kollektive Verhaltensnormen führte laut Lewada zu einem so genannten „Doppeldenken“ als zentraler Eigenschaft des „Homo sovieticus“. Dieser wies eine Persönlichkeit auf, die gleichzeitig zwei sich komplett widersprechende Haltungen vertrat. Bei den Menschen, die sich permanent so verhalten mussten, habe dies zu Zynismus und diffusen, nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Aggressionen geführt. Im Resultat sei der „Sowjetmensch“ ein entindividualisierter Kollektivmensch, der „einer mobilisierten, militarisierten, geschlossenen und repressiven Gesellschaft“ entstammt, „deren Integration durch die vermeintliche Präsenz von inneren und äußeren Feinden gewährleistet wird, weil dies der Forderung nach Loyalität zur Staatsmacht, die die Bevölkerung beschütze, ‚Berechtigung‘ verleiht“.

Ineinandergreifen von Zwang 
und Freiwilligkeit

Lewada nahm an, dass dieser Sozialcharakter nicht nur in der Sowjetunion, sondern in ähnlicher Form auch in anderen von ihm als „totalitär“ bezeichneten Gesellschaften vorzufinden sei. Und tatsächlich weist der „Homo sovieticus“ zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem sogenannten „autoritären Charakter“ auf. Unter diesem Begriff hatten die Mitarbeiter des zunächst in Frankfurt angesiedelten, dann in New York im Exil befindlichen Instituts für Sozialforschung in den 1930er-Jahren die Charakterstruktur jener Menschen zu beschreiben versucht, die für die nationalsozialistische und andere autoritäre Ideologien empfänglich waren.

Wie Lewada betonten die Wissenschaftler um den Institutsleiter Max Horkheimer, ein Leben unter als übermächtig empfundenen gesellschaftlichen Verhältnissen und Institutionen bringe einen Zwang zur Anpassung hervor: „An die Stelle unserer Spontaneität ist eine Geistesverfassung getreten, die uns zwingt, uns jeder Empfindung oder jedes Gedankens zu entschlagen, die unsere Flinkheit gegenüber den unpersönlichen Anforderungen beeinträchtigen könnten, die auf uns einstürmen“, schrieb Horkheimer. Zugleich betonten er und seine Mitarbeiter jedoch, dass Zwang allein keine hinreichende Erklärung für die Gefolgschaft so großer Teile der Bevölkerung sei: „Die neuen Autoritäten und Tabus stellen keine rein äußerliche Macht dar, sondern haben im Charakter der Menschen selbst und ihren spontanen Verhaltensweisen Wurzeln geschlagen“, so Herbert Marcuse.

Untersucht wurde daher das Ineinandergreifen von Zwang und Freiwilligkeit, das bei bestimmten Charaktertypen zu beobachten sei. Man kam zu dem Schluss, dass nicht wenigen Menschen die Unterwerfung unter eine Autorität eine eigentümliche Befriedigung verschafft, eine Liebe zum Stärkeren, die allerdings aus einer ambivalenten Gefühlsbasis erwachse. Um mit dieser Ambivalenz umzugehen, würden der Autorität, der man sich liebevoll zuwende, ausschließlich gute Eigenschaften zugesprochen, während andere Autoritäten ausschließlich negativ gesehen und gehasst werden.

Genau dies könne von politischen Regimes beziehungsweise der von ihnen verkörperten Autorität instrumentalisiert und gefördert werden, um so „die Beziehung zu ihr selbst von Hass freizuhalten und andererseits den Hass gegen solche Mächte zu lenken, die sie mit Hilfe der ihr Untergebenen bekämpfen will“, wie Erich Fromm es formulierte. Mit anderen Worten: ein Feindbild zu liefern, stärkt den Status der herrschenden Autorität.

„Ohnehin kein Glück“

Juri Lewada und seine Mitar-
beiter*innen gingen in ihrer ersten Studie davon aus, dass der von ihnen beschriebene Sozialcharakter angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion und seiner autoritären Strukturen allmählich ebenfalls verschwinden würde, da insbesondere jüngere Menschen nicht mehr geprägt durch diese seien. Zunächst schien dies auch tatsächlich so, wie Folgeuntersuchungen nahelegten. Dann jedoch zeigte sich, dass sich der „Sow-
jetmensch“ als Charaktertypus auch unter postsowjetischen Bedingungen reproduzierte.

„Während der Konsolidierung des Putin-Regimes verlor die Gesellschaft jegliche Vorstellung von ihrer Zukunft, von ihrer Entwicklungsrichtung – und sei es nur in Gestalt eines staatlich verordneten Optimismus oder einer zur Routine gewordenen Gewissheit beim Gedanken an den nächsten Tag“, so Lew Gudkow rückblickend. Angesichts dessen, wie leicht irrationale Feindbilder und die Sehnsucht nach einer starken Hand unter Putin reaktiviert werden konnten, geht er mittlerweile davon aus, „dass dieser sozialanthropologische Archetyp noch tiefer verwurzelt ist, dass seine Wurzeln in der Leibeigenschaft und dem Messianismus des vorrevolutionären Russland zu suchen sind“.

Heute herrsche eine Mischung aus mythischem Neotraditionalismus, imperialistischem russischen Nationalismus, antiwestlicher Orthodoxie und Putinschem Autoritarismus vor, so der Wissenschaftler: „Entsprechend glauben die Menschen heute nicht mehr an die Zukunft, sondern an die Vergangenheit“. Der Appell an diese verfange deshalb so gut, weil „das beschworene Modell der sozialen Ordnung sowie der internationalen Beziehungen ebenso wie das propagierte Geschichtsbild wohl bekannt und daher leicht verständlich sind“.

Angesichts zunächst so hermetisch erscheinender Darstellungen von einem spezifischen Sozialcharakter drängt sich die Frage auf, weshalb es gleichwohl zu Protest und Widerstand kommt. Immerhin wurden laut dem Medienprojekt OVD-Info zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 23. Januar 2023 knapp 20.000 Menschen verhaftet, die beschuldigt wurden, sich öffentlich gegen den Krieg zu positionieren. Zu den Forschungsergebnissen steht das allerdings nicht im Widerspruch. In ausgeprägter Form komme der beschriebene Charaktertypus des „Homo sovieticus“ bei 35 bis 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, also nicht einmal bei der Hälfte der in Russland lebenden Menschen vor, in abgeschwächter Form zeige er sich bei bis zu 60 Prozent. Jedoch, so Lew Gudkow: „In Zeiten der gesellschaftlichen Aufruhr und der mit aggressiver Propaganda betriebenen Mobilisierung erhöht sich dieser Anteil erheblich.“ Und gerade deshalb dienen der Ukraine-Krieg und die damit verbundene gesellschaftliche Mobilisierung allen proklamierten Zielen zum Trotz wohl nicht zuletzt dem Machterhalt des Putin-Regimes.

Laut dem Lewada-Zentrum verfolgt nur etwas mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung die Situation in der Ukraine überhaupt aufmerksam. Doch ist es schwer, solche statistischen Aussagen in ihrer Bedeutung einzuordnen. Zudem sei in Russland „ein offener Akt des Dissenses mit einem sehr hohen Risiko verbunden“, weshalb das subversive Potenzial kleiner, wenig sichtbarer und alltäglicher Praktiken unter der Bevölkerung höher bewertet werden müsse als in demokratischen Gesellschaften, geben die Wissenschaftlerinnen Vera Dubina und Alexandra Arkhipova zu bedenken.

Dennoch überwiegen die pessimistischen Stimmen, was einen Ausbruch aus dem von Präsident Wladimir Putin geschaffenen Herrschaftssystem anbelangt. „Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen“, beschrieb jüngst der russische Soziologe Grigori Judin die Situation. Auch Anna Schor-Tschudnowskaja betont: „Das Ausblenden der Realität stellt eine der wichtigsten Maximen in der politischen Kultur des heutigen Russlands dar.“

Es scheint also einiges dran zu sein an Schor-Tschudnowskajas eingangs zitierter Überlegung, nicht mit Hoffnung und Utopie, sondern mit Enttäuschung und Nostalgie lasse sich ein Herrschaftssystem besser sichern; und das gilt wohl längst nicht allein für autoritär regierte Staaten. Doch Putin hat offenbar die Absicht, dieses Verfahren zu perfektionieren. Und so bringt es die These vom „autoritären Nihilismus“ in sinistrer Weise auf den Punkt, wenn Judin daran erinnert, Putin habe Mitte 2021 in einer Rede öffentlich postuliert, es gebe im Leben ohnehin kein Glück. Bleibt zu hoffen, dass es, dem „Homo sovieticus“ zum Trotz, in Russland genügend Menschen gibt, die antreten, um ihm das Gegenteil zu beweisen.


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