Druck auf Zivilgesellschaft in Mexiko: Abwesende Regierung

In Mexiko wurden am 15. Januar der Menschenrechtsanwalt Ricardo Lagunes und der Gemeindeaktivist Antonio Díaz gewaltsam verschleppt. Ein Fall, der viel über die Lage im Land aussagt. und zum internationalen Stahlkonzern Ternium mit Sitz in Luxemburg führt.

Ana Lucía Lagunes, Ricardos Schwester. (Fotos: Rotmi Enciso)

An einem tropischen Januarabend machten sich der Menschenrechtsanwalt Ricardo Lagunes (41) und der indigene Gemeindeaktivist Antonio Díaz (71) aus Aquila an der Küste von Michoacán auf ins benachbarte Colima. Um 18.50 Uhr schrieb Lagunes die letzte Textnachricht an seine Frau, die zuhause auf ihn wartete. Um 19.25 Uhr wurde sein verlassener und von Schüssen durchsiebter Geländewagen am Rand der Landstraße bei der Polizei gemeldet.

Wie sie sich fühle? „Furchtbar“, sagt María Ramírez. „Ich bin Ricardos Frau, die Mutter seiner Tochter. Ich bin aber auch selbst Kind von Gemeindemitgliedern aus Aquila. Alles, was dort passiert, schmerzt mich zutiefst.“ Marías Vater wurde ermordet, als sie vier Jahre alt war. Damals wie heute geht es in Aquila um einen Minenkonflikt. Um den Kampf einer indigenen Gemeinde, die sich gegen den Ressourcenabbau auf ihrem Land wehrt. Und das recht erfolgreich.

Die Bergbaukonzession in Aquila wurden schon von Diktator Porfirio Díaz vergeben, den die Mexikani­sche Revolution 1911 stürzte. Zehn Jahre später begann die mexikanische Monterrey-Gruppe mit dem Abbau. Anfang der 1980er-Jahre lag die Mine „Las Encinas“ brach, die Gemeindemitglieder hatten den Abbau gestoppt. 1989 wurde er wieder aufgenommen. Die Mine ging in die Hände der Firma Ternium über, des größten Stahl­unternehmens Lateinamerikas – mit Sitz in Luxemburg. Doch 2011 gelang der Gemeinde ein in Mexiko einzigartiger Erfolg. „Die indigene Bevölkerung erreichte, dass ihnen an Ausfuhrmengen angeglichene Lizenz­gebühren ausgezahlt werden“, erzählt Ramírez, die an der Universität von Colima zur Regionalgeschichte forscht.

Doch der Sieg Davids gegen Goliath brachte ungeahnte Folgen mit sich. Der mexikanische Bundesstaat Michoacán gilt als eines der umkämpftesten Gebiete auf dem Weg der Drogen aus Südamerika in die USA. Und im Krieg der Kartelle in Mexiko ist jede Einnahme recht, um die eigene Position zu stärken. So begann die Mafia Schutzgelder auf die Lizenzgebühren der Indigenen zu erheben. „Gleichzeitig ließen sich Außenstehende als Gemeinde­mit­glieder anerkennen, um Tantiemen zu erhalten und die Kontrolle des Gemeinderats an sich zu reißen. Durch sie bekam die Minengesellschaft freie Bahn.“ Um dieser Unterwanderung Einhalt zu gebieten, wurde Ricardo vor vier Jahren als Anwalt angestellt.

Auf der Gemeindeversammlung am besagten 15. Januar diesen Jahres konnten Ricardo Lagunes und Antonio Díaz einen Erfolg verkünden. Das Agrartribunal von Colima hatte der aktuellen Gemeindevertretung ihre Rechtmäßigkeit abgesprochen und der Lizenzfonds, den das Tribunal während des Rechtsstreits verwaltet hatte, sollte nun paritätisch an alle Familien ausgezahlt werden. Eine horrende Summe. Sie erhoben sich von den weißen Plastikstühlen des offenen Saales, suchten Dokumente zusammen, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatten, beantworteten Fragen, die Einzelne an sie herantrugen. Irgendwann verabschiedeten sie sich und machten sich in der einsetzenden Dämmerung auf den Weg. Seit diesem Abend fehlt von Lagunes und Díaz jede Spur.

„Wir wissen, dass Ternium genug Kontakte in der Region hat, um die Freilassung von Don Antonio und Ricardo zu erreichen.“ (María Ramírez)

„Meine Hoffnung ist ungebrochen, dass sie zu uns zurückkehren“, sagt María Ramírez. Jeden Tag bekräftigt sie dies vor ihrer 8-jährigen Tochter. Auch wenn María manchmal verzweifeln mag. „Die Region steckt in einer humanitären Krise, Menschen fliehen, Gewalt eskaliert und die Gouverneure müssen sich dieser Verantwortung stellen. Die Staatsanwaltschaft von Michoacán wie von Colima würde sich aber am liebsten aus dem Fall zurückziehen.“ Ein Fall mit politischem Gewicht. Ricardo ist ein national wie international renommierter Menschenrechtsanwalt, immer im Einsatz für indigene Gemeinschaften. „Sein Verschwinden ist eine Ohrfeige für den mexikanischen Staat.“

Die Historikerin setzt auf das Unternehmen Ternium, um ihren Mann lebend wiederzusehen. „Wir Familienangehörigen haben die Gouverneure der Bundesstaaten gebeten, beim Stahlkonzern vorzusprechen.“ Ternium sei der mächtigste regionale Player; der Staatshaushalt von Colima basiert auf Bergbau. „Wir wissen, dass das Unternehmen genug Kontakte in der Region hat, um die Freilassung von Don Antonio und Ricardo zu erreichen.“ Fast unmöglich sei es in Tierra Caliente, in der Küstenregion von Michoacán, Geschäfte zu machen, ohne die Aufmerksamkeit der Kartelle auf sich zu ziehen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mafia betagte Bauern um ein paar Tausend Pesos erpresst, aber ein Unternehmen in Ruhe lässt, das Millionen Dollar erwirtschaftet.“

Kerzen für die Menschenrechte.

Ob im Bundesstaat Michoacán, aus dem im letzten Jahr über 13.000 Vertriebene vor Gewalt fliehen mussten, überhaupt ein „sozial verantwortlicher Bergbau“ möglich sei, wie das auf der Homepage des Stahlkonzerns zu lesen ist, bleibt fraglich. Doch Mexiko setzt auf Extraktivismus. Gerade erst ließ Präsident Andrés López Obrador den Lithiumabbau verstaatlichen, damit alle Einnahmen in den Staatshaushalt fließen. „Auf dem gesamten Küstenstreifen von Michoacán gibt es 100 Minenkonzessionen“, berichtet María Ramírez. „Das große Monster Bergbau ist ungebändigt.“ Die indigene Bevölkerung aber werde nicht gefragt, was mit dem Land passiere, „auf dem sie wohnt, auf dem sie ihre Felder bestellt“.

In Aquila weht die mexikanische Fahne über dem Präsidentschaftspalast. Hinter dem Gebäude erheben sich bewaldete Berge vor einem strahlend blauen Himmel. Keine 15 Minuten fährt man zum Pazifischen Ozean hinunter; zu einem endlosen Sandstrand, an den Wellen schlagen. Keyvan Díaz, der Sohn des verschwundenen Antonio Díaz, wohnt heute im Landesinnern, in Morelia. An seine Kindheit in der Gemeinde erinnert er sich gut. Nach Schule und Hausaufgaben schwang er sich aufs Fahrrad und kam erst nach langen Streifzügen nach Hause zurück. Gemeinsam mit seinen Freunden jagten sie Vögel mit selbstgebauten Schleudern in den Wäldern, spielten Fangen in den Maisfeldern und kletterten auf Mangobäume. Von Felsenvorsprüngen sprangen sie kopfüber in den Fluss.

Heute ist alles anders, berichtet Keyvan Díaz. „Der Fluss ist ausgetrocknet, seit die Mine mit Chemikalien die Berge auf einem viele Fussballfelder großen Territorium durchspült.“ Rund 15.000 Tonnen Eisenerz wird dort täglich für die nationale und globale Stahlproduktion gewonnen. „Doch nicht nur die Umwelt leidet; fataler noch sind die sozialen Kosten der Mine.“ Das Sozialgefüge der indigenen Gemeinschaft, die nach Familienoberhäuptern basisdemokratisch organisiert ist, ist zerbrochen. „Meine eigene Familie ist gespalten. Meine Onkel sprechen seit Jahrzehnten nicht mehr mit meinem Vater.“ Das Minenunternehmen hat es verstanden, in Aquila eine Minderheit aufzukaufen, die ihre wirtschaftlichen Interessen vor Ort durchsetzt. Die Menschen sind bis aufs Blut verfeindet.

„Nicht nur die Umwelt leidet; fataler noch sind die sozialen Kosten der Mine.“ (Keyvan Díaz)

Eine Geschichte, wie sie sich überall in Lateinamerika endlos wiederholt. Immer sind es die Territorien indigener Gemeinden, die im Einklang mit der Natur leben, in denen noch begehrte Ressourcen zu finden sind. Gemeinschaften werden wie nach einem Handbuch systematisch zerstört und vereinzelt, um Extraktivismus möglich zu machen. „Doch die Mine, die heute von Ternium betrieben wird, ist nicht zu stoppen. Darum geht es uns aber auch gar nicht mehr.“ Sie kämpften lediglich um eine angemessene Gewinnbeteiligung. „Schließlich ist das unser Land. Eine ausländische Firma macht damit Millionengewinne.“

Keyvan Díaz vermisst seinen Vater schmerzlich, den rüstigen weißhaarigen Mann, der sein wettergegerbtes Gesicht stets mit einem Cowboyhut vor der Sonne schützte. „Mein Vater ist eine bekannte Persönlichkeit in der Region. Er widmete sein ganzes Leben dem Widerstand der indigenen Nahua-Gemeinden und der Verteidigung ihrer Umwelt.“ Schon in jungen Jahren wurde er Gemeindepräsident von Aquila, danach war er in der Verwaltung tätig und über viele Jahrzehnte Grundschullehrer in verschiedenen Gemeinden der Region. Nach seiner gewaltsamen Verschleppung besetzten Gemeindemitglieder aus Aquila und Nachbargemeinden die Coahuayana-Brücke, eine wichtige Verkehrsverbindung zwischen Michoacán und Colima. „Aquila ist nicht nur eine indigene Gemeinschaft, sie ist eine sehr gut organisierte.“

Auch wenn er heute als Journalist in der Hauptstadt des Bundesstaates arbeitet, weiß der 26-Jährige, dass seine Wurzeln in Aquila sind und dass er Teil dieser Gemeinschaft bleibt. Seit zwei Monaten hat er seinen Job an den Nagel gehängt. „Meine Arbeit ist es nun, nach meinem Vater zu suchen.“ Diese Wochen seien die schwersten seines Leben. „Wenn du selbst auf einmal ein weiteres Opfer im System bist, wird dir klar, wie Mexiko funktioniert.“ Als Journalist sei er sich des Szenarios bewusst gewesen; gewaltsame Verschleppungen sind ein tägliches Geschäft in diesem Land, jeden Tag trifft es 27 Personen. „Aber wenn du da persönlich durch musst, tun sich Abgründe auf.“ Eine bürokratische Maschinerie, durchzogen von Korruption. „In einer von der Mafia umkämpften Region wie Michoacán bei Institutionen vorzusprechen, die nur die Fassade einer abwesenden Regierung sind, ist wie gegen eine Wand zu reden. Wenn du zum Opfer in diesem Staat wirst, verändert das dein Leben komplett, es lähmt dich; du stellst auf einmal alles in Frage“, schließt Díaz.

Das geht auch Ana Lucía Lagunes so. Die Schwester von Ricardo Lagunes blickt rund 10 Autostunden entfernt durch schmiedeeiserne Tore auf das mexikanische Innenministerium. Das Regierungsgebäude aus dunklen Steinen steht an einer Hauptverkehrsstraße. Das Vogelgezwitscher im Garten geht unter im Lärm der Motorräder, Autos und Linien­busse, die im Rythmus der Ampelschaltung die mehrspurige Straße hinunterschießen. Eine Ansammlung von Menschen füllt den Bürgersteig. Sie halten Plakate in die Höhe. Ana Lucía ist seit zwei Monaten unablässig auf den Straßen der mexikanischen Hauptstadt unterwegs. Seit ihr Bruder verschleppt wurde, ist nichts mehr wie es vorher war.

„Wir wollen ihn lebend zurück. Aber niemand legt uns Ermittlungsergebnisse vor“, erzählt die 37-Jährige mit bebender Stimme. Seit zwei Monaten spricht sie mit ihrer Familie und den Angehörigen von Don Antonio bei ranghohen Funktionären vor. „Im Grunde genommen fehlt uns nur noch der mexikanische Präsident selbst. Sonst wurden wir schon überall empfangen.“ Das bereite ihr eine Gänsehaut. „Es bedeutet doch, dass wir alle als Staatsangehörige vollkommen schutzlos sind. Wenn andere so viel Macht haben, dass die Regierung machtlos ist.“

Ana Lucía nimmt ihre Mutter in den Arm. Die hochgewachsene Psychologin überragt die weißhaarige Frau um zwei Köpfe. Beide haben Sommersprossen und tragen ein weißes Tshirt mit dem Foto von Ricardo Lagunes. „Wir kämpfen nun für das Leben aller.“ In Mexiko gebe es viele Tausende Familien, denen das gleiche passiert sei. „Und wie viele weitere Tausende wird es geben?“ Es sei wichtig auf die Straße zu gehen, nachzufragen, was in der Regierung passiert. Hinter die Kulissen zu schauen, mit wem Geschäfte gemacht werden und zu welchem Preis. „Ich versuche diese Fragen zu stellen, anstatt einfach aufzugeben“, seufzt sie.

Protestaktion vor dem Innenministerium.

„Wir müssen diesen Fall auf internationale Ebene bringen, weil uns hier in Mexiko niemand eine Antwort gibt.“ (Diego Lorente)

Der Verkehrslärm tritt in den Hintergrund, als die Sprech­chöre lauter werden. „Ermittlungen bei der Minengesellschaft Ternium! Leben ja, Bergbau nein!“ Die Demonstrie­ren­den umrunden langsam das Regierungsgebäude, sie tragen Kerzen in der Hand und lassen Wachs auf den Bürgersteig tropfen. Auf der anderen Seite des Gebäudes halten andere Protestierende eine Mahnwache ab. Sie haben Kleidungsstücke mit roten Farbflecken an die schmiedeeisernen Tore gehängt. Blut klebe an den Händen der Regierung.

Auch Diego Lorente ist unter den Anwesenden, ein langjähriger Freund von Ricardo Lagunes, mit dem er in einer Menschenrechtsorganisation im Süden des Landes arbeitete. „Anwälte wie Ricardo kann man in Mexiko an einer Hand abzählen“, sagt er. Juristen mit der Sensibilität, mit Überlebenden gravierender Menschenrechts­verletzungen zu arbeiten und dem professionellen Knowhow, um nationales und internationales Recht zur Verteidigung der Menschenrechte anzuwenden, seien schwer zu finden. Lagunes brachte indigene Gemeinden mit ihren Belangen bis vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. „Sein Verschwinden ist nicht nur ein persönlicher, sondern auch ein gesellschaftlicher Verlust.“

Es sei offensichtlich, dass Lagunes heikle Fälle vertreten hätte. „Menschenrechts­verteidigung ist in Mexiko ein Risikofaktor“, so der eingebürgerte Baske Diego Lorente. Die Regierung simuliere Rechtsstaatlichkeit. Absprachen mit dem organisierten Verbrechen und eine zum Himmel schreiende Straflosigkeit seien aber nicht zu übersehen. „Wir müssen diesen Fall auf internationale Ebene bringen, weil uns hier niemand eine Antwort gibt. Und weil es sich um ein transnationa­les Unternehmen handelt.“ Ein Unternehmen, dass eine Gemeinde gespalten habe, um Ressourcen zu extrahieren und vielleicht sogar Verbrechen in Kauf nimmt, um Widerstand zu brechen.

Die Demonstration ist am Mahnmal der 43 verschleppten und ermordeten Studenten angekom­men – ein Fall, der 2014 um die Welt ging. Zwei große rote Zahlen aus Metall, die auf einer Kreuzung der Prachtstraße Reforma stehen, die Mexiko-Stadt vom Westen bis zum Zentrum durchzieht. Die Demonstrierenden haben ein gigantisches Transparent mit den Fotos von Ricardo und Don Antonio quer über die Fahrbahn gelegt. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Vor dem Mahnmal steht nun ein Kerzenmeer. Ein Mann fordert die Anwesenden auf, gemeinsam laut bis 43 zu zählen. Ein Ritual auf Mexikos Straßen, um der prominentesten Verschleppten im Land im Namen der hunderttausend Übrigen zu gedenken.

Kathrin Zeiske arbeitet als freie Journalistin und berichtet aus Mexiko.
In Luxemburg hat die „Initiative pour un devoir de vigilance“ den Fall aufgegriffen. Das NGO-Bündnis tritt für Nachhaltigkeitspflichten für Unternehmen ein, unter anderem was den Schutz von indigenen und Grundrechten angeht. In der woxx 1727 berichteten wir über eine von der Initiative und der NGO Global Rights Advocacy organisierte Videopressekonferenz mit den Familien der beiden Verschleppten.

 


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