EU-Migrationspolitik: Gegen die Wand

Für im Mittelmeer gerettete Migrant*innen scheint sich eine Perspektive anzubahnen, die kommende Woche in Luxemburg vereinbart werden soll. Doch angesichts der migrationspolitischen Herausforderungen für die EU ist der Plan kaum mehr als ein Feigenblatt.

Auf sich allein gestellt: Migranten versuchen einen in Brand geratenen Wohncontainer im völlig überfüllten Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos 
zu löschen. Bei dem am vergangenen Sonntagnachmittag ausgebrochenen Feuer kamen zwei Menschen ums Leben. (Foto: EPA-EFE/Stratis Balaskas)

Das Gezerre um im Mittelmeer aus Seenot gerettete Migrant*innen scheint vorerst ein Ende zu haben. In Luxemburg soll Anfang kommender Woche bei einem Treffen der EU-Innenminister*innen ein temporärer Mechanismus festgeklopft werden, wie die Geretteten unter kooperationsbereiten Mitgliedsstaaten zu verteilen sind. Die zwischenstaatliche Vereinbarung könnte also dazu beitragen, internationalem Seerecht wieder Geltung zu verschaffen. Dieses war von der abgelösten italienischen Regierung de facto außer Kraft gesetzt worden, weil man Gerettete nicht mehr an Land ließ, ohne eine Zusage anderer EU-Staaten zu haben, die Betreffenden bei sich aufzunehmen.

Manche Medien wollen in der vorige Woche in Malta vorbereiteten Abmachung bereits einen Paradigmenwechsel in der europäischen Migrationspolitik erkennen: Als „U-Turn“ Deutschlands und der EU-Kommission hat etwa das Online-Magazin „Politico“ die Vereinbarung bezeichnet; als „Ölzweig“, der an die südlichen und östlichen EU-Länder gereicht werde, um „die Wunde zu heilen“, die seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise offen sei. Zieht man die chaotische, restriktive und unkoordinierte EU-Migrationspolitik der vergangenen Jahre in Betracht, erscheint allerdings ein gehöriges Maß an Skepsis darüber angebracht, ob sich hier tatsächlich ein Wandel vollziehen wird.

Die Vereinbarung sieht vor, Migrant*innen, die von Hilfsorganisationen oder anderen Schiffen gerettet und in Malta oder Italien an Land gebracht werden, nach einem festen Schlüssel auf jene EU-Staaten zu verteilen, die sich freiwillig an dem neuen System beteiligen. Deutschland und Frankreich wollen beide je ein Viertel der künftigen Geretteten aufnehmen. Bei dem Treffen in Luxemburg sollen möglichst viele weitere „Freiwillige“ gewonnen werden, um das bisherige Relocation-Programm zu ersetzen, das an der Blockadehaltung verschiedener Staaten gescheitert war.

Neben Luxemburg haben Medienberichten zufolge auch Irland und Portugal bereits ihre Teilnahme an dem neuen System signalisiert. Außenminister Jean Asselborn äußerte sich am Mittwoch gegenüber Radio 100,7 trotzdem „nicht sehr optimistisch“: „Ich glaube, dass wir das nur schaffen, wenn das nicht nur fünf, sechs oder sieben Länder sind, sondern wenn 15 Länder mitmachen würden.“

Bislang ist für die aus Seenot Geretteten zunächst allein das Land verantwortlich, in dem die Migrant*innen und Asylsuchenden zuerst registriert wurden. In vielen Fällen ist das Italien. Erst nach Prüfung des jeweiligen Antrags tritt das Relocation-Programm in Kraft. Um nicht anerkannte Asylbewerber muss sich Italien dann selbst kümmern, so sehen es die Dublin-Regelungen vor. Jahrelang hat Italien deshalb die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten eingefordert, ist dabei aber auf taube Ohren gestoßen.

Der rechtsextreme ehemalige Innenminister Matteo Salvini hatte diesen tatsächlich unhaltbaren Zustand für seine innenpolitischen Zwecke auszuschlachten verstanden. Insgesamt 25 Mal wurden laut der „Neuen Zürcher Zeitung“ auf sein Geheiß Schiffe mit geretteten Migrant*innen an Bord tage- oder gar wochenlang zum Ausharren auf See gezwungen, bis geklärt war, welche Länder die Hilfesuchenden aufnehmen würden.

Vielfach wird der geplante neue Mechanismus daher als Zugeständnis an die neue italienische Regierung von „Cinque Stelle“ und „Partito Democratico“ gewertet, die von Salvinis Praxis abgewichen ist. Doch der Entlastungseffekt des zunächst für sechs Monate geplanten Verfahrens ist gering.

Schon jetzt steht fest: Die Entwicklungen in der Türkei werden die Situation auf der Balkanroute noch weiter verschärfen.

Es soll nämlich nur auf jene Migrant*innen angewendet werden, die auf Rettungsschiffen nach Italien und Malta kommen. Laut einer Studie des italienischen „Istituto per gli studi di politica internazionale“ (Ispi) kamen jedoch nur neun Prozent von insgesamt 15.095 Migrant*innen zwischen Juni 2018 und August 2019 nach einer Seenotrettung in Italien an, also 1.346 Personen. Von ihnen wurden 593 Personen auf andere EU-Staaten verteilt. Um all jene, die ohne fremde Hilfe in Booten an die italienische Küste gelangen, wird sich die dortige Regierung also weiterhin alleine kümmern müssen, für Malta gilt dies entsprechend auch. Ohnehin bleibt offen, inwiefern der neue Mechanismus tatsächlich praktikabel ist, da er laut Medienberichten nur greifen soll, sofern Malta oder Italien „mit einer disproportionalen Anzahl von Anträgen konfrontiert sind“. Je nach Interpretation wäre das aber schon jetzt nicht der Fall.

Denn laut UN ist die Migration übers Mittelmeer stark gesunken: Seit Beginn des Jahres bis Ende August kamen lediglich 46.500 Migrant*innen, im Vergleichszeitraum 2018 waren es 68.000 Personen. Von ihnen landete überdies nur ein kleinerer Teil in Italien; rund die Hälfte von ihnen kam in Griechenland, weitere 29 Prozent kamen in Spanien an. Diese beiden Länder sind in geplante Regelung aber gar nicht einbezogen.

Doch nicht nur aus diesem Grund nimmt sich der vermeintliche politische Kurswechsel bei näherer Betrachtung eher aus wie eine minimale Korrektur auf der Fahrt gegen eine Wand. Denn während die Blicke sich noch in Richtung Mittelmeer richten, kündigen sich via Balkan und Türkei einmal mehr die desaströsen Folgen einer auf Abschottung um nahezu jeden Preis ausgerichteten EU-Migrationspolitik an.

Seit die alte Balkanroute durch den Bau der ungarischen Grenzanlage geschlossen ist, hat sich das Geschehen nach Westen verlagert. Immer mehr rückt dabei die Region um die Stadt Bihac in Bosnien und Herzegowina in den Mittelpunkt. Von hier aus versuchen derzeit vor allem Menschen aus Pakistan und Afghanistan nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen, in einer Dimension, die zahlenmäßig die Situation am Mittelmeer übersteigt.

Wie die woxx bereits in der Vergangenheit berichtete (woxx 1507/08) und auch von anderen Medien bestätigt wird, geht die kroatische Polizei immer wieder brutal gegen Personen vor, die über die grüne Grenze ins Land zu kommen versuchen. Immer wieder werden zudem Menschen unter Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention nach Bosnien zurückgebracht. Und nicht nur der Weg übers Meer, auch die Balkanroute ist lebensgefährlich: Allein Ende August sind sieben Migrant*innen getötet worden, als ihre Schlepper auf der Flucht vor der Polizei in Kroatien und Griechenland mit ihren Fahrzeugen in Unfälle verwickelt waren.

Schon jetzt steht fest: Die Entwicklungen in der Türkei werden die Situation auf der Balkanroute noch weiter verschärfen. Denn der Deal, den die EU mit Recep Tayyip Erdogan geschlossen hat, ist längst dabei, in die Brüche zu gehen. Er bestand vor allem in der Zusage des türkischen Präsidenten, sein Land werde alle Migrant*innen zurücknehmen, die „irregulär“ von der Türkei nach Griechenland übersetzen. Im Gegenzug versprach die EU, für jede „rückgeführte“ Person einen Flüchtling aus Syrien auf regulärem Wege in ein EU-Land umzusiedeln. Zusätzlich sagte Brüssel Hilfsleistungen in Höhe von sechs Milliarden Euro zu. De facto wurde die Türkei damit für die Abriegelung der EU-Außengrenzen bezahlt und hat seither den Job gemacht, den das vielgescholtene EU-Mitglied Ungarn mit Zaun, Polizeikräften und der Billigung aus Brüssel an anderer Stelle tut.

Rund 3,6 Millionen Menschen aus Syrien wurden seit Beginn des dortigen Bürgerkrieges in der Türkei aufgenommen, mehr als in jedem anderen Land. Doch nicht zuletzt die schlechten wirtschaftlichen Aussichten lassen nun in der Bevölkerung die Stimmung kippen. Der neue Bürgermeister Istanbuls und Rivale Erdogans, der sozialdemokratische Politiker Ekrem Imamoglu (CHP), hat darauf bereits reagiert und angekündigt, keine neuen Flüchtlinge in die Stadt zu lassen sowie alle nicht registrierten Syrer von dort zu verweisen.

Der Druck auf Erdogan nimmt dadurch zu. Nach der bereits erfolgten Abriegelung der türkisch-syrischen Grenze, an der sich aus Angst vor einer syrisch-russischen Militäroffensive gegen Rebellen in der Region Idlib bereits Hunderttausende verzweifelt drängeln, will Erdogan nun im Norden von Syrien eine „Schutzzone“ errichten, um syrische Flüchtlinge dorthin abzuschieben. Außerdem droht er damit, für sie die Grenzen zur EU zu öffnen. Die Folgen zeigen sich bereits jetzt: Im August dieses Jahres setzten laut der UN-Flüchtlingshilfe 8.103 Menschen aus der Türkei nach Griechenland über, im Vorjahreszeitraum waren es rund 3.200 gewesen. Und Ende September kamen binnen 48 Stunden 800 Menschen dort an. „Wir glauben daran, dass wir die Arbeit mit unseren türkischen Partnern in gutem Vertrauen fortsetzen können“, lässt die EU-Kommission angesichts dessen unbeirrt verlauten.

In Bosnien und Herzegowina wird derweil bereits für Ende Oktober mit dem Wintereinbruch gerechnet, und mit ihm droht wie in Griechenland in den Flüchtlingslagern eine noch katastrophalere Situation als schon jetzt der Fall. Mittlerweile leben beispielsweise etwa rund 12.000 Menschen in Camp Moria auf Lesbos, das eigentlich nur für 3.000 Personen ausgelegt ist. Vorige Woche wurde das Lager von der dortigen Leitung für „unführbar“ erklärt. Am vergangenen Sonntag gab es dort einen Brand, bei der eine Frau und ihr Kind ums Leben gekommen sind.

Als Farce muss angesichts dieser Entwicklungen die geplante sechsmonatige Vereinbarung zur Verteilung der geretteten Mittelmeerflüchtlinge betrachtet werden, für die beim Treffen der EU-Innenminister*innen Anfang kommender Woche in Luxemburg weitere Unterstützer gefunden werden sollen und die weder der Situation in Griechenland, noch in der Türkei, noch auf dem Balkan Rechnung trägt.


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