Z. Haqbin ist minderjährig und flüchtete unbegleitet nach Belgien. Nach einer Schlägerei entzog ihm der Leiter des Unterbringungszentrums zwei Wochen lang materielle Leistungen. Der EuGH lehnt die Sanktion ab.
Z.Haqbin, ein minderjähriger Asylbewerber, wurde nach seiner Antragsstellung auf den internationalen Schutzstatus in einem Unterbringungszentrum in Belgien aufgenommen. Dort beteiligte er sich an einer Schlägerei zwischen den Bewohner*innen. Über das Ausmaß der Schlägerei ist nichts bekannt. Der Jugendliche wurde vom Leiter der Struktur bestraft: Er hob für 15 Tage seinen Anspruch auf materielle Hilfe (Schlafplatz, Verpflegung) in der Aufnahmestruktur auf. Haqbin übernachtete in der Zeit in Parks und bei Freund*innen. Haqbins erste Klage gegen die Ausschlussentscheidung wurde abgelehnt. Das zuständige Gericht bat den EuGH um Rat.
Es ist die erste Äußerung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Reichweite des in den Mitgliedstaaten waltenden Rechts, Sanktionen gegen Asylbewerber*innen festzulegen, die gegen die Vorschriften der sie aufnehmenden Strukturen verstoßen oder gewalttätig werden (nach der Richtlinie 2013/33, Art. 20, Ab. 4). Grundsätzlich schließt diese Richtlinie Einschränkungen bezüglich materieller Leistungen mit ein, doch merkte der EuGH an: „Allerdings müssen solche Sanktionen nach Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie objektiv, unparteiisch, begründet und im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers verhältnismäßig sein und in jedem Fall einen würdigen Lebensstandard belassen.“
Darüber hinaus müssten die Sanktionen mit dem Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar sein, die die Würde des Menschen als unantastbar, schützenswert und achtbar definiert. Dies sei nicht gegeben, wenn die Behörden den schutzbedürftigen Antragssteller*innen durch entsprechende Sanktionen die Grundlage für würdige Lebensstandards entziehen würden. Die Behörden dürften sich nicht „damit begnügen, dem ausgeschlossenen Antragsteller eine Liste privater Obdachlosenheime auszuhändigen, die ihn aufnehmen könnten.“ Was finanzielle Sanktionen betrifft, betonte der EuGH, dass die zuständigen Instanzen sicherstellen müssten, dass die Bestrafung situationsbedingt und integral mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie der Würde der Antragssteller*innen übereinkomme.
Alternative, vertretbare Sanktionen seien beispielsweise die Überweisung der verhaltensauffälligen Schutzsuchenden in eine andere Struktur oder ihre zeitweilige Unterbringung in einem separaten Teil des Aufnahmezentrums. Letzten Endes obliege es den zuständigen Behörden zu entscheiden, ob eine Inhaftierung sinnvoll ist, sofern dies mit den Voraussetzungen der zuvor genannten Richtlinie zusammenpasst.
Z. Haqbin stellt als unbegleiteter Minderjähriger einen Sonderfall dar. Die nationalen Behörden müssen bei der Verhängung von Sanktionen, so der EuGH, besonders auf die Situation des Betroffenen achten. Der EuGH verweist in seinem Schreiben zur Causa Haqbin auf Artikel 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der unter anderem besagt: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“ Eine Möglichkeit, die den belgischen Behörden ebenfalls offen gestanden hätte: Haqbin in die Obhut der für Jugendschutz zuständigen Dienststellen zu geben oder den Fall den Justizbehörden anzuvertrauen.