Die griechische Regierung hat das Asylrecht ausgesetzt. Auf der griechischen Insel Lesbos attackieren rechten Schlägertrupps Migranten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten. Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt beobachtet die Situation in Lesbos seit einigen Wochen. Die woxx sprach mit ihm über die Situation auf der Insel und die Migrationspolitik der EU.
woxx: Sie sind seit einigen Wochen auf Lesbos. Was war der Grund Ihres Besuchs?
Erik Marquardt: Ich bin als parlamentarischer Beobachter des Europa- parlaments hier und besuche die Insel seit Jahren regelmäßig. Ursprünglich wollte ich mir die Situation im Lager von Moria ansehen, wo ja inzwischen weit über 20.000 Menschen in ein Lager gesteckt wurden, das nur Kapazitäten für 3.000 Personen hat. Als ich vor drei Wochen anreiste, war das große Thema der Plan der griechischen Regierung, die Geflüchteten in geschlossene Lager zu sperren. Dagegen gab es Proteste von der Zivilgesellschaft, die keine geschlossenen Lager wollte, aber auch von Rechten, die überhaupt keine neuen Lager wollten. Als sich die Situation dann durch die Fehlinformationen der Türkei über geöffnete Grenzen veränderte und auch noch deutsche und andere europäische Neonazis auf die Insel kamen, verschärfte sich die Lage nochmals.
Rechtsextreme Gruppen aus ganz Europa haben nach Lesbos mobilisiert. Wie hat sich das vor Ort ausgewirkt?
Man kann sich das kaum vorstellen. Es gab rechtsextreme Banden, die mit Eisenketten Straßensperren errichtet haben. Die Polizei vor Ort ist nicht dagegen vorgegangen, auch nicht, wenn man sie angerufen hat. Die Rechtstaatlichkeit wurde einfach aufgegeben. Wir hatten hier Tage, an denen mehr Neonazis als Geflüchtete auf Lesbos ankamen. Ich verstehe nicht, warum es keinen größeren Aufschrei gibt, wenn humanitäre Organisationen und Geflüchtete zur Zielscheibe werden. Einige Gebäude hier auf Lesbos wurden schon niedergebrannt. Wenn es so weitergeht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Menschen brennen.
Wurden auch Sie angegriffen?
Ich erhielt viele Drohungen, auch Morddrohungen. Ein Anhänger der Identitären Bewegung schrieb auf Facebook: „Gebt mir ein M60 mit ausreichend Munition, stellt mich an die türkische Grenze und ich schieße den gesamten menschlichen Abschaum über den Haufen.“ Unter seinem Beitrag schreibt mich in einem Kommentar jemand zur Fahndung aus. Wenige Tage später traf ich den Urheber des Beitrags in einer Gruppe auf der Insel. Ich erkannte ihn nicht, er mich schon. Erst später haben mich antifaschistische Recherchegruppen darauf hingewiesen, dass ich möglicherweise in Gefahr bin. Nach dem rechtsterroristischen Anschlag auf Menschen mit Migrationsgeschichte in Hanau und dem Mord an dem christdemokratischen Politiker Walter Lübcke in Deutschland frage ich mich da schon, warum die Sicherheitsbehörden eine Ausreise dieser Person aus ihrem Herkunftsland nicht verhindert haben.
„Wir hatten hier Tage, an denen mehr Neonazis als Geflüchtete auf Lesbos ankamen.“
Wie ist die Situation der Geflüchteten auf Lesbos jetzt?
Sie ist katastrophal. Die hygienischen Bedingungen sind seit langem schlecht. Es fehlen saubere Toiletten und ausreichend fließendes Wasser. Von der Gesundheitsversorgung ganz zu schweigen. Auf Lesbos sind nun auch die ersten Fälle von Covid-19 bekannt geworden und die Geflüchteten haben nicht die Möglichkeit, sich da angemessenen zu schützen. Quarantäne und soziale Distanz sind leider nicht möglich und selbst das Händewaschen ist schwierig. Es ist nicht auszudenken, was geschieht, wenn das Virus Moria erreicht. Es könnte viele Tote geben. Deswegen muss man jetzt schnell handeln und die Menschen da herausholen.
Die deutsche Bundesregierung hat beschlossen, über 1.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen und auch Luxemburg beteiligt sich an dieser „Koalition der Willigen“. Lindert das die Not?
Insgesamt sieben EU-Staaten haben sich bereit erklärt, Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Die Entscheidung, gerade Minderjährige, zumeist Mädchen, aufzunehmen, scheint ein empathischer Gedanke zu sein. Allerdings müssen Menschenrechte eben für alle Menschen gelten, selbst für solche, die wir vielleicht nicht mögen. Andernfalls würde man am Ende nur noch putzige Babykatzen aufnehmen.
Die EU scheint sich aber noch nicht mal auf Babykatzen einigen zu können. Wie soll eine gemeinsame europäische Migrationspolitik da künftig aussehen?
Es ist klar, dass man nicht auf Regierungschefs wie Sebastian Kurz oder Viktor Orbán zählen kann. Aber die Teilnahme an einer „Koalition der Willigen“, wie sie jetzt beschlossen wurde, zeigt, dass sich viele Länder bemühen. Vor allem sind es aber Regionen, Städte und Kommunen, die ihre Regierungen unter Druck setzen und eine Aufnahme von Geflüchteten fordern.
„Wir müssen in Europa eine Situation schaffen, in der es sich nicht lohnt, ein Arschloch zu sein.“
Wenn der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sagt, das Zeitalter der Menschenrechte sei vorbei, dann ist es doch auch mit der Europäischen Union vorbei.
Mit der EU ist es erst vorbei, wenn solche Aussagen unwidersprochen bleiben. Ich habe ein Gutachten mit dem Titel „Aufnahme von Flüchtenden aus den Lagern auf den griechischen Inseln durch die deutschen Bundesländer – Rechtliche Voraussetzungen und Grenzen“ in Auftrag gegeben. Das kommt zu dem Schluss, dass die Bundesregierung solche Angebote von Regionen und Kommunen zu Unrecht ablehnt. Diese müssen dann auch für ihre Solidarität belohnt werden. Und auch auf EU-Ebene wird man sich über den neuen Pakt zu Migration und Asyl unterhalten müssen. Wir müssen in Europa eine Situation schaffen, in der es sich nicht lohnt, ein Arschloch zu sein.
Wie kann die EU einen neuen Pakt beschließen, wenn sie dazu bereit ist, das Recht auf Asyl auszusetzen?
Griechenland muss sich an internationales Recht halten und Asylanträge zulassen. Das steht außer Frage. Aber das Recht auf Asyl ist nicht das einzige Menschenrecht, das hier verletzt wird. In Zeiten von Corona riskieren wir auch das Recht der Geflüchteten auf Gesundheit und Leben. Angesichts der Lage auf den griechischen Inseln müssen wir jetzt endlich schnell handeln. Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte und auch die verantwortlichen Regierungen müssen jetzt verstehen, dass wir die Geflüchteten in Europa nicht allein lassen und gefährden dürfen. Wir müssen die überfüllten Lager jetzt evakuieren und die Menschen an einen Ort bringen, an dem sie vor dem Virus geschützt sind.