Auch wenn der brutale Horrorstreifen von Julia Ducournau eine allegorische Sinnesebene vermissen lässt, so ist die Originalität von „Titane“ doch beachtlich. Das fand auch die Jury in Cannes, die Ducournau am Wochenende mit der Goldenen Palme auszeichnete.
Nach einem Autounfall wird Alexia als Kind (Adèle Guigue) eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt. Neurologische Schäden seien nicht ausgeschlossen, so die Einschätzung des behandelnden Arztes. Er lag wohl nicht falsch: Als Erwachsene ist Alexia (Agathe Rousselle) alles andere als durchschnittlich. Sie arbeitet als Tänzerin auf Autoshows, hat ungeschützten BDSM-Sex mit einem PKW und bringt immer wieder Menschen um – vor allem solche, die sexuelles Interesse an ihr zeigen. Als ihre Festnahme unausweichlich scheint, wird Alexia auf eine Vermisstenanzeige eines Jungen namens Adrien aufmerksam, der vor Jahren spurlos verschwand. Auf dem Flyer ist ein Foto des Kindes, daneben ein Phantombild, das sein potenzielles heutiges Aussehen rekonstruiert. Prompt beschließt Alexia, sich für den Vermissten auszugeben und bei dessen Vater Vincent unterzutauchen.
Nichts in dem neuen Film von Julia Ducournau ist realistisch. Das war auch schon ihr letzter Horrorstreifen „Grave“ (2016) nicht. In diesem entwickelten zwei vegetarische Tiermedizinstudentinnen nach einem Aufnahmeritual an der Uni einen unbändigen Hunger auf Menschenfleisch. Damals bekam die französische Filmemacherin bei den Filmfestspielen in Cannes den Directors’ Fortnight-Preis. Für „Titane“ wurde sie letzte Woche mit der Palme d’Or ausgezeichnet – nach Jane Campion erst die zweite Frau in der Geschichte des Festivals.
Was in Ducournaus Filmen mehr als alles andere im Vordergrund steht, ist der menschliche Körper. Narben, Wunden, juckende Haut, Blut und Schmerz sind aus ihren Werken nicht wegzudenken. In „Grave“ konnte die Faszination mit Fleisch als Allegorie für eine erwachende Sexualität verstanden werden.
In „Titane“ sind solche Vergleiche schon schwieriger, zum Teil scheint Ducournau Gewalt um der Gewalt willen zu zeigen. Fast wirkt es, als habe die Filmemacherin sich mit ihrem Erstlingswerk noch zurückgehalten und als ließe sie ihrer Faszination von der Zerstörbarkeit des menschlichen Körpers nun freien Lauf. Fast jede Szene enthält einen geschundenen Körper. Das fängt schon mit Alexias Frisur an, sie trägt ihre Haare so, dass jederzeit ihre Operationsnarbe am Kopf zu sehen ist; im Laufe des Films macht sie eine äußerst schmerzhafte körperliche Veränderung durch. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass sich dies nicht nur auf ihr Auftreten als Mann bezieht.
Es ist schwer vorstellbar, dass die gefühlskalte, erbarmungslose Alexia der Anfangsszenen Anteilnahme beim Publikum erweckt. In der zweiten Hälfte haben wir es aber plötzlich mit einer gänzlich anderen Figur zu tun. Auch wenn der Sinneswandel nicht ganz glaubwürdig ist: Dass Alexia sich danach sehnt, wenigstens einmal in ihrem Leben bedingungslos geliebt zu werden, ist nachvollziehbar. Und so entwickelt sie eine liebevolle Bindung zu Adriens Vater (Vincent Lindon). Angst vor Kitsch braucht man dennoch nicht zu haben, denn auch das Leben mit Feuerwehrmann Vincent ist rau, die Annäherung zwischen den beiden holprig.
Wie schon in „Grave“ haben Geschlecht und Sexualität auch in „Titane“ etwas Fließendes. Das liegt daran, dass die Hauptfiguren immer wieder aus sozialen Rollen ausbrechen und Erwartungshaltungen unterwandern. Die Regeln, nach denen die Figuren funktionieren, muss das Publikum sich nach und nach erschließen. Das trifft auch auf Vincent zu. Mit zunehmendem Alter nimmt seine physische Kraft ab, was er durch tägliche Steroidspritzen zu kompensieren versucht. Gleichzeitig hat er kein Problem damit, sich sensibel und zärtlich zu zeigen. Dass sein vermeintlicher Sohn Adrien nicht seinem Männlichkeitsideal entspricht, scheint ihm egal. Es ist wohl diese radikale Akzeptanz des Nicht-Normativen, die Alexia dazu bewegt, bei Vincent zu bleiben.
„Titane“ ist ein Film, der nicht nur unter die Haut geht, sondern, wie auch schon „Grave“, auf den Magen schlagen kann. Worum es im Film geht und ob die Originalität die vielen Gewaltszenen wettmacht, muss jede*r Zuschauer*in letztlich für sich selbst entscheiden.
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Bewertung der woxx : XX