Italien als Lehrstück für Europa: Gesellschaft als Beute

Italien ist keine Demokratie mit einer rechten Regierung, sondern ein Musterbeispiel für das Zusammenspiel von postdemokratischem Neoliberalismus und Faschisierung der Gesellschaft. In der EU wird diese Entwicklung weitgehend ignoriert – auch weil es der Regierung Meloni noch gelingt, nicht alle Elemente ihrer Machtergreifung deutlich sichtbar werden zu lassen.

Gallionsfiguren der drei maßgeblichen Fraktionen des italienischen Rechtsextremismus (erste Reihe von links nach rechts): Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli d‘Italia), der am 12. Juni dieses Jahres verstorbene ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi (Forza Italia) und der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident und Innenminister Matteo Salvini (Lega). (Foto: EPA-EFE/Fabio Frustaci)

Über die verschlafene mitteleuropäische Presse kam, jedenfalls dort, wo sie noch Reste von sozialem Gewissen aufweist, die jüngste Nachricht aus dem (post-)faschistischen Italien wie ein kleiner Gruselschock: Per SMS hat die Regierung Giorgia Melonis Hunderttausenden Menschen mitgeteilt, dass sie von jetzt an keinen Anspruch auf den „reddito di cittadinanza“, das Bürgergeld, als Sozialleistung mehr hätten.

Die Kommunen waren so wenig auf diesen Coup vorbereitet wie die Betroffenen. Man hätte es allerdings wissen können, dass diese Sanierung der Staatsfinanzen auf Kosten der Armen in solch brachialer Weise kommen würde – und doch glaubten die meisten, die neofaschistische Regierung würde es unter den Augen der Weltöffentlichkeit doch nicht so weit treiben, wie es ihre Rhetorik des „runter vom Sofa“ vermuten ließ, mit der sie ihren Geldgebern von Industrie, Landwirtschaft und Tourismus billige Arbeitskraft zutreibt. Nicht so sehr, weil nun diese Betroffenen, die plötzlich keine Miete, keine Mahlzeiten, keine Ausbildung für die Kinder mehr zahlen können, sogleich ins Billiglohn-Prekariat wechseln könnten, sondern weil sich Angst breit machen soll und mit der gleichzeitigen zähen Ablehnung des Mindestlohns von neun Euro pro Stunde, wie ihn die Opposition fordert, ein Heer der Arbeitsreserve gebildet werden soll, eine strukturelle Neosklaverei, auf der die „Melonomics“ ihr Wirtschaftsmodell aufbauen wollen.

Die italienische Republik, so steht es in der Verfassung von 1947, ist auf Arbeit aufgebaut; die Faschisten von heute übersetzen Arbeit mit Ausbeutung, Entrechtung und Verachtung.

Der Krieg gegen die Armen

Wenn man die scheinbar so rücksichtslose wie übers Knie gebrochenen Maßnahme zur radikalen Reduktion des Bürgergeldes als eine Art von Demaskierung oder als einen ideologischen Bruch ansieht, sitzt man einer doppelten Täuschung auf. Erstens nämlich gehörte diese Reduktion ja zum Wahlprogramm der „Fratelli d’Italia“ (FdI), der Partei Melonis: Sie wurden gewählt (und vor allem: finanziert), damit sie diesen Krieg gegen die Armen führen. Denn neben dem Rassismus gehört der Klassenhass zur DNA des Postfaschismus: Die „Fremden“ werden genauso gehasst wie die „unten“, die Schmutzigen und die Nutzlosen. Nur in der Sklavenarbeit auf den Tomatenfeldern oder in niederen Dienstleistungen im Tourismusgeschäft, mit Löhnen, die zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig abwerfen, sollen sie geduldet werden. Und in beiden Fällen gehören die europäischen Konsumenten, die europäischen Urlauber mit zu den Nutznießern.

Und zweitens gehört es durchaus zum Plan, dass diese Reduktion Protest und Chaos auslöst. Denn jedes rechte Regime braucht ein solches Spektakel des Aufruhrs, der „niedergeschlagen“ werden kann. Es ist ein bewährtes Mittel der Faschisten, sich als Bezwinger des Chaos zu inszenieren, das sie selber angerichtet haben.

Zum zweiten Mal zeigt dieses Regime „Härte“, nach der brutalen Verweigerung von Hilfe für die Geflüchteten im Frühjahr dieses Jahres, und zum zweiten Mal ist diese Härte auch als Schauspiel gedacht. Beide Male hatte Giorgia Meloni die Wahl, sich auch gegen ihre Vasallen und ihre Programme als mütterlich-mitfühlend, als eine Rechte mit menschlichem Gesicht zu zeigen. Sie hat es demonstrativ nicht gemacht; Giorgia Meloni ist eine Faschistin durch und durch.

Neben dem kulturellen Kahlschlag, der zähen, aber konsequenten Arbeit an einer Transformation der parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem, neben der brutalen Politik gegen Geflüchtete, der schrittweisen Übernahme von Schulen und Universitäten durch die Organisationen der Rechten ist dieser Krieg gegen die Armen ein weiterer Beleg eines für ganz Europa entscheidenden Vorgangs: Italien ist keine Demokratie mit einer rechten Regierung, Italien ist ein Land, in dem modellhaft der innere Zusammenschluss von neoliberaler Postdemokratie und funktionalem Postfaschismus erprobt wird. Die Totalität dieser Transformation wird leicht übersehen, da es der Regierung Meloni noch gelingt, nicht alle Elemente ihrer Machtergreifung deutlich sichtbar werden zu lassen.

Fahrplan der faschistischen Transformation

Dabei hat sie einen sehr einfachen Fahrplan, den jeder kritische Beobachter ohne weiteres durchschauen könnte. Es werden fünf „Kriege“ geführt:

1. Der Krieg gegen die Kultur. Die simpelsten Elemente sind die „Nationalisierungen“. Überall werden Kuratorinnen, Museumsleiter oder Gremien-Entscheider ausgetauscht und durch FdI-Leute oder FdI-genehme Leute ersetzt. Verträge werden nicht verlängert, fadenscheinige Entlassungsgründe konstruiert, man verhängt einen „Ausländerstopp“ et cetera. Das jüngste Beispiel ist die absehbare Vernichtung einer Einrichtung, um die ganz Europa die italienische Filmkultur beneidet hat, des „Centro Sperimentale“ in Rom. Für jede kulturelle Institution, die man durch neue Regelungen oder durch Sperrung von Mitteln kaputtkriegt, entsteht irgendwo ein neurechter „Think Tank“ in einem korrupten System der „Beratungen“.

2. Der Krieg gegen die Flüchtlinge und gegen die Ausländer. Was das anbelangt, ist die italienische Rechte genau auf der Linie der anderen europäischen Rechten, allerdings kommt noch eine nationale Kränkung hinzu, wie in anderen Bereichen auch: Man lässt „uns“ mit dem Problem allein; man will zugleich „uns“ belehren und bevormunden.

3. Der Krieg gegen die Linken, die Liberalen und die Kritiker, die allesamt „fälschen“ und „hetzen“, insbesondere was die italienische Vergangenheit oder die dubiosen Geschäfte rechter Politiker*innen anbelangt. In Ermangelung eines wirklichen linken Feindes richten sich auch hier die Tiraden gegen alle, die auch nur um eine Nuance abweichen. Die linke und demokratische Opposition ist so schwach, dass man sich die inneren und äußeren Feinde schon herbeizwitschern muss. Wird, wie jüngst, ein besonders dreister Fall ruchbar, die Geschichte des Rechtsterrorismus in Italien zu fälschen, wird die Woche drauf gleich ein aufwendiger „Blitz“ gegen eine Handvoll Anarchisten durchgeführt, die ein paar Monate lang ein kleines Blättchen herausgaben: Vier oder fünf Anarchisten, die böse Artikel in einem Blatt schreiben, das niemand liest und das schon vor einem Monat sein Erscheinen einstellen musste – eine „nationale Gefahr“.

4. Der Krieg gegen Frauen, Queere und Dissident*innen. Hier versucht es vor allem Giorgia Meloni – „Mutter und Italienerin“ – eher mit einem Rückgriff auf das konservative Familienbild als mit der offenen Konfrontation. Auffallend immerhin ist der Abbau aller Foren und Beratungsstellen, wenn sie staatliche Unterstützung bräuchten. Während sich die rechte Propaganda immer weiter verstaatlicht, wird alles, was dem Regime nicht nutzt, ins Private abgeschoben.

5. Der bereits erwähnte Krieg gegen die Armen. Was diese Regierung anstrebt, ist offenbar eine Form der strukturellen Zwangsarbeit beziehungsweise eine neue Klassenstruktur: eine rassistisch-ideologische neue „Elite“ (von der Giorgia Meloni vor den Vertretern der „Gioventù Nazionale“, der Jugendorganisation der Fratelli, schwärmt), eine für ihren Fleiß, ihren Gehorsam und ihre Korruption belohnte Kleinbürgerschicht und das neue Heer der willenlosen Arbeitskräfte, das durch Disziplinierung, Propaganda und Feindbilder zusammengehalten wird. Ein geradezu klassisches Gesellschaftsbild des Faschismus, das sich hier zwanglos mit den neoliberalen Phantasmen und den Idiotien der Unterhaltung verbindet.

Die Stärke dieser faschistischen Transformationsbewegung rührt nicht zuletzt daher, dass sich in ihr die Interessen der Wirtschaft, das Befinden der konservativen Kleinbürger (die ihre politische Heimat bei der längst verblichenen Democrazia Cristiana verloren haben), die Schwurbeleien etlicher „Querfrontler“ oder Vertreter des „Dritten Wegs“, schließlich aber genauso die Impulse der Mussolini-Nostalgie, des Rechtsterrorismus und der „Neuen Rechten“ zusammenfinden. Ganz im Gegensatz zur Linken, die sich immer weiter aufspaltete, deren Fraktionen sich gegenseitig immer heftiger ablehnten, ließ die italienische Rechte ständig Verbindungen zwischen legalen und illegalen, populistischen und sektiererischen, „konservativen“ und neofaschistischen, ja, zwischen offiziellen Parteien und Untergrundorganisationen bestehen.

Spuren in den schwarzen Untergrund

Die Biographie und die verzweigte Familiengeschichte von Giorgia Meloni zeigt im Übrigen, wie mannigfach und scheinbar widersprüchlich die Entstehungsgeschichte des Regimes ist. Seit ihren Anfängen als Anführerin der „Azione Studentesca“ und als „Koordinatorin“ der faschistischen Jugendorganisation der „Azione Nazionale“ im Jahr 2002 – als diese gerade mit öffentlichen Verbrennungen von Büchern, die das Ansehen Italiens „beschmutzen“, Furore machte (unter einer zünftigen Bücherverbrennung machen sie es nun mal nicht) –, kreuzten Giorgia Melonis politischen und familiären Weg eine Reihe von dubiosen Gestalten samt deren unaufgeklärter Taten. Immer wieder tauchen Bilder aus ihrem politischen „Familienalbum“ auf, wie das des neofaschistischen Bandenmitglieds Marcello De Angelis, Bruder eines einstigen „Verlobten“ Melonis und Herausgeber einer ultrarechten Postille, der Spuren im Fascho-Rock wie in der rechten Szene des Terrors hinterlassen hat.

Giorgia Meloni hat immer klargemacht, dass sie sich nicht von Organisationen und Personen des Rechts-
terrorismus distanzieren will. Wie auch? Die Übergänge etwa zwischen „Lotta Studentesca“, „Terza Posizione“ und „Nuclei Armati Rivoluzionari“ (NAR, neofaschistische Terrororganisation 1977 bis 1981) waren immer fließend. Und nach und nach wird bekannt, wie viele Spuren aus Giorgia Melonis direktem Umfeld in den schwarzen Untergrund führen. In diesem Fall kommen sich selbst alternative Fakten gelegentlich in die Quere: Während De Angelis die Kriminalgeschichte der italienischen Rechten zu fälschen versucht – er bezeichnete drei wegen des Anschlags von August 1980 auf den Bahnhof von Bologna mit 85 Toten verurteilte rechte Terroristen der NAR als unschuldig –, muss Giorgia Meloni ihre eigene Vita fälschen. Um ihre Macht zu festigen, muss sie Posten verteilen an ihre Vasallen, die so geltungssüchtig, inkompetent und korrupt sind, dass man es beim besten Willen nicht mehr verschleiern kann. Auf eines allerdings verstehen sich diese Postfaschisten, nämlich auf Propaganda.

Daneben gibt es die fünf nuclei der faschistischen Gesellschaft, das sind Territorien oder Institutionen, die für sich in relativer Geschlossenheit schon „voll“ faschistisch funktionieren, ohne das allgemeine Bild des Alltags- und Tourismusitaliens zu sehr zu beeinflussen: das sind die Sommercamps der faschistischen Jugend; die für rechten Terrorismus offenen „Kultureinrichtungen“ wie das besetzte Haus „Casa Pound“ in Rom; jene Schulen und Universitäten, die bereits vollständig in rechter Hand und mehr noch der der FdI sind; mehrheitlich rechtsgerichtete Medien und schließlich der reale, gewalttätige faschistische Untergrund und seine Social-Media-Wolken, von denen sich das Meloni-Regime nie offen distanziert.

Zudem gibt es fünf Punkte, die den Erfolg der Rechten stabilisieren:

1. Der Organisationsgrad der neofaschistischen „Bewegung“, der sich in Jahrzehnten und viel zu wenig beachtet herausgebildet hat.

2. Die Galionsfigur(en): Meloni, Matteo Salvini („Lega“, ehemaliger Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident) und (bis zu seinem Tod im Juni) Silvio Berlusconi (viermaliger Ministerpräsident) sind und waren nicht nur Vertreter, sondern so präzise Darsteller für die Interessen und Phantasmen der drei Fraktionen des Rechtsextremismus – Faschismus, Populismus, libertärer Neoliberalismus –, dass sie immer ein wenig wie gecastet erscheinen.

3. Die Drift des konservativen Kleinbürgertums nach rechts, wie sie in ganz Europa zu beobachten ist.

4. Die Bereitschaft der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, Justiz, Polizei, Bürokratie et cetera, sich den Rechten zu öffnen und anzudienen.

5. Die Erschöpfung, Lähmung und Selbstbeschränkung der gesellschaftlichen Mehrheit. Nirgendwo scheint die Flucht vor der Politik, der Rückzug ins Familiäre und „Private“ so ausgeprägt wie in Italien. Dazu kommt eine seit Jahren beobachtete Flucht der ästhetischen, wissenschaftlichen und kritischen Intelligenz ins Ausland.

Faschistische Nachwuchsförderung

Der Krieg um die Schulen und Universitäten wird auf drei Ebenen geführt. Zum einen werden die (post-)faschistischen Organisationen von Schülern, Studenten und Lehrpersonal nach Kräften gefördert. Allein unter den älteren Schüler*innen und den Student*innen gibt es sechs rechtsextreme Gruppierungen, die häufig zusammen, selten gegeneinander wirken:

Will die Europäische Union von innen transformieren, anstatt sie von außen zu bekämpfen: 
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am 29. Juni dieses Jahres in Brüssel. (Foto: EPA-EFE/Olivier Matthys)

Das „Centro Casaggì“ (das sich selbst als „spazio identitario“, als identitären Raum, bezeichnet) ist eine 2005 in Florenz entstandene Parallelorganisation zur „Azione Studentesca“ – die es seit 1996 gibt –, der Jugendorganisation des AN („Azione Nazionale“), und mittlerweile, 2016 neu ausgerichtet, das universitäre Instrument der „Fratelli d’Italia“. Der „Blocco Studentesco“ ist der militante Ableger aus der Casa Pound und offen neofaschistisch, ohne sich mit dem „Post“ des Melonismo aufzuhalten. Sie sind bekannt dafür, schon junge Mitglieder an den Mittelschulen für ihre Zwecke zu rekrutieren. „Lealtà Azione“ (Treue Aktion) stammt aus Mailand und ist der studentische Arm der rechtsextremen Terrorszene der „Hammerskins“. Die „Generazione identitaria“ schließlich hat ihre Wurzeln in Frankreich und entspricht in etwa den „identitären“ Rechten hierzulande, sie sieht sich im Gegensatz zur „Lealtà Azione“ eher als „Elite“.

Bleibt am Ende „Lotta Studentesca“, die es schon seit 1976 gibt, die Jugendorganisation der „Forza Nuova“, der größten gewaltbereiten faschistischen Kraft in Italien, die besonders im Milieu der „Querfront“-Propagandisten verwurzelt ist, die wiederum im Habitus wie in den Sprechweisen Aspekte der einstigen linken Studentenbewegung übernehmen – tatsächlich gaben De Angelis und Maurice Bignami, einst führender Kopf der linksradikalen militanten Gruppe „Prima Linea“, in den 1990er-Jahren gemeinsam eine Zeitung heraus: „La spina nel fianco“ (etwa: Der Stachel im Fleisch). Diese studentischen faschistischen Gruppen tun sich, auch wenn sie „kulturell“ nicht ganz zusammenzupassen scheinen, immer wieder zu Protesten und Aktionen zusammen.

Der einzige wirkliche Widerspruch besteht bei der Haltung zu Russland. Es gibt knallharte Putin-Verehrer wie die „Lotta Studentesca“, während die „Azione Studentesca“ mehr oder weniger dem offiziellen Regierungskurs folgt, der sich in dieser Hinsicht an der Außenpolitik der EU orientiert. Alle eint aber der Drang zur Aktion: „Pensiero che diventa azione“ (Gedanke, der zur Tat wird) lautet einer der gemeinsamen Slogans, der die antidemokratische Grundhaltung, die Ablehnung aller „ökologischen“ Bedenken, den fundamentalen Rassismus und vor allem den bedenkenlosen Voluntarismus ausdrückt.

Offensichtlich wirken diese militant rechten studentischen Gruppen auch auf die „Unpolitischen“ attraktiv; die rechtsradikalen Gruppierungen sind aus Querfront-Bewegungen bei Demonstrationen gestärkt hervorgegangen, die „neutrale“ Belange behandelten wie die Pandemiemaßnahmen, und sie übernehmen Ausdrucksweisen und Strategien der linken Studentenbewegung von einst. Die Lieblingsworte sind denn auch hier immer wieder die „libertà“ und der „nonconformismo“.

Im Februar dieses Jahres organisierten die rechten Schüler und Studenten gemeinsam einen medienwirksamen „Marsch“ in Rom, und dieses Bündnis hat mittlerweile in fast allen italienischen Universitätsstädten Fuß gefasst. Die Gruppen sind straff und hierarchisch geführt, finanziell gut ausgestattet, von Politik, Medien und Justiz weitgehend unbehelligt und einig mit der Regierung darin, die italienische Demokratie in einen autokratischen Präsidial- oder Führerstaat umzuwandeln. Über die „Azione Studentesca“ spricht Giorgia Meloni in den höchsten Tönen: Diese repräsentiere, sagt sie, „die Schulungsinstanz für die kommende politische Führungsklasse“. Deutlicher kann man als Postfaschistin wohl nicht werden.

Das rechte Jugendnetzwerk wird im Großen und Ganzen zusammengehalten durch die „Gioventù Nazionale“, die offizielle Jugendorganisation der „Fratelli d’Italia“, die immer mehr Züge faschistischer Erziehungskader annimmt. Die jungen Schülerinnen und Schüler finden bei den „Sommerlagern“ der „Gioventù Nazionale“ sportliche Ertüchtigung, paramilitärische „Kameradschaft“ und politische Unterweisung. Gerade die weniger begüterten Eltern sind froh, ihre Kids während der langen Ferien für wenig Geld versorgt und beschäftigt zu sehen.

So also wird der (nicht gar so) neue italienische Faschismus von unten her aufgebaut. Der Krieg gegen die Armen ist nun ein Teil des faschistischen Kriegs gegen die Arbeiterklasse. Er ist damit nicht nur die Erfüllung eines zumindest impliziten Versprechens an die neoliberalen Geldgeber, er dient auch dazu, die Jugend in den Griff zu bekommen, für die insbesondere im Süden eigentlich keine Hoffnung auf ein bürgerliches Leben besteht. Es gibt nun unter den gegebenen Umständen nur drei Lebensentwürfe für sie: ein Leben als ewiger Hungerleider, Verlierer, Ausgebeuteter, eine Position in der jeweiligen Mafiafamilie – oder eine Karriere in der faschistischen Durchorganisation.

Jede dieser drei Optionen ist in der einen oder anderen Weise nützlich für das (post-)faschistische Regime. Demgegenüber wirken die Kämpfe von Gewerkschaften und Opposition für einen Mindestlohn und eine Grundsicherung chancenlos, selbst dann, wenn sich die Regierung Meloni hier und da zu einem Kompromiss bereit-
erklären will oder mit der symbolischen Abschöpfung der Extraprofite von Banken ihre Art von „Gerechtigkeit“ inszeniert. Der neoliberale Flügel sorgt schon dafür, dass es nicht so schlimm wird.

Dazu wird das öffentliche Fernsehen, vielleicht nicht mehr das zeitgemäßeste aller Medien, aber gerade in den weniger wohlhabenden Familien doch immer noch ein medialer Anker, in Windeseile unter den Einfluss der Regierungsparteien gebracht und von den einstigen Vertretern eines unabhängigen kritischen Journalismus „gesäubert“. Aber damit nicht genug: Auch das schiere Entertainment wird attackiert; unbotmäßige Äußerungen von Schlagerstars in San Remo führen dazu, dass man die Festivalübertragung von nun an zensieren wird. Einstige Größen des Showgeschäfts werden ebenso aus den Sendern gedrängt wie die Redakteure, die nicht auf Linie sind, und die FdI geben unumwunden zu, dass es sich dabei auch um „Rache“ handelt.

Keine Partisanen, nirgends

So ist also die Gegenwart durch die Hegemonie in Medien, Kultur und Öffentlichkeit wie die Zukunft durch die faschistische Organisation der Jugend weitgehend unter der Kontrolle des postfaschistischen Dreierpakts geraten. Fehlt noch die Vergangenheit. In der Sommerpause gilt vor allem die italienische Geschichte in ihren pädagogischen Grundübereinkünften als Angriffsziel (wir erinnern uns: Bücherverbrennung im Namen der faschistischen Geschichtsrevision war bereits Melonis Anliegen in Studententagen). In Giorgia Melonis gehäuften Ansprachen an das Lehrpersonal und die Gremien kommen die Wörter „resistenza“ und „partigiano“ (Partisan) nicht mehr vor; der italienische Faschismus wird als Epoche der Sauberkeit und Ordnung dargestellt, wo man es nur an einigen Punkten übertrieben hat, vor allem aber werden die „Helden“ des Faschismus so sehr rehabilitiert wie die Partisanen zu „Banden“ herabgestuft werden, denen es nur um persönliche Abrechnungen und Interessen gegangen sei.

Wie die Geschichtsrevision im Alltag vollzogen wird, mag ein kleines Beispiel zeigen: In dem Städtchen Nervi, unweit von Genua, befindet sich ein kommunales Schwimmbad, das nicht nur wegen seiner tollen Aussicht aufs Meer berühmt ist, sondern auch, weil hier Nanni Moretti 1989 seinen Film „Palombella rossa“ (deutscher Verleihtitel: „Wasserball und Kommunismus“) gedreht hat. Zunächst stand der Erhalt des Bades auf der Kippe; als sich dann der rechte Bürgermeister doch zum Erhalt durchringen konnte, benannte er das Bad nach dem Faschisten Luigi Ferraro, der noch in der Republik von Salò der berüchtigten faschistischen Elitetruppe „Xª Flottiglia MAS“ angehörte und nach dem Krieg zwar als Taucher berühmt wurde, aber nicht müde wurde, zu erklären, dass er es nie bereute, für den Faschismus gegen eigene Landsleute gekämpft zu haben. Trotz der Proteste der Gewerkschaften und etlicher Bürgerinnen und Bürger von Nervi wurde die Namensgebung durchgesetzt und, nicht genug damit, im Internet mit dem Emblem des Casa Pound, des „Kulturzentrums“ der Neofaschisten in Rom, verbreitet. Wie viele italienische Gemeinden können solche Geschichten erzählen! Neben der Revision der Schulbücher, der gewalttätigen Unterdrückung „falscher Darstellungen“ des Faschismus in Italien an den Universitäten werden solche Rehabilitierungen faschistischer „Helden“ zur Alltagserfahrung. Sie sind das andere Gesicht einer Obstruktionspolitik, die die Vertreter der rechten Parteien in jenen kommunalen und regionalen Einrichtungen betreiben, in denen sie noch nicht das Sagen haben. Jede noch so kleine Verbesserung auf dem Gebiet der lokalen Infrastruktur wird mit einer faschistischen Aneignung teuer bezahlt.

Nach den Worten Melonis in einem Interview mit der Tageszeitung „Corriere della Sera“ ist das wohl einzig Schlechte am historischen Faschismus, dass er die Demokratie abschaffte. Es ist offensichtlich das Ziel des Postfaschismus, eine faschistische Gesellschaft, eine Regierung nach dem Präsidialprinzip (natürlich ohne Amtszeitbegrenzung) zu errichten, bei Beibehaltung gewisser demokratischer, eher: postdemokratischer Rituale wie Wahlen (Putin, Orbán, Erdoğan et cetera lassen grüßen).

Melonis Politik, anders als die einiger ihrer Vasallen, besteht auch darin, die innere Faschisierung nicht allzu sehr als ein international lesbares Bild zu präsentieren. Die Giorgia Meloni, die auftritt, wo man unter sich ist, und die Giorgia Meloni, die vor internationalen Kameras spricht, unterscheiden sich gewaltig. Möglicherweise ist es das Glück der Demokratie in anderen Ländern, dass bei den dortigen Faschisten niemand intelligent genug für ein solches Possenspiel ist.

Faschisierung und Europa

Bleibt am Ende die Frage, wie das alles geschehen kann. Die eine Antwort: Der (post-)faschistische Angriff gilt einer in weiten Teilen „erschöpften“ Gesellschaft. Selbst denjenigen in der Mitte der italienischen Gesellschaft, die sich von diesem Totalangriff fernhalten, fehlt die Kraft, fehlen aber auch die Medien, die Diskurse, die Ideen zum Widerstand. Diese Gesellschaft, die aus einem jeweils in sich widersprüchlichen Lager der Linken und der katholischen Gemeinde, aber auch aus den drei Landesteilen Norden, Mitte und Süden besteht, ist zerbrochen, alle gesellschaftlichen Fortschritte, auch die im Kampf gegen die Mafia, gegen die Steuerflucht, gegen den Zerfall von Bildung und Infrastruktur, werden abgewickelt. Italien heute, das ist vor allem Beute.

Der zweite Grund ist ein Europa, dessen Länder mit ihren eigenen Post- oder Präfaschisten genug zu tun haben und einfach nicht genau hinsehen wollen, solange Giorgia Meloni außenpolitisch und europäisch Zurückhaltung übt. Denn all das, was in Italien passiert, das passiert auch in anderen europäischen Ländern, wenn vielleicht auch nicht mit dieser Deutlichkeit.

Der dritte Grund – auch das ein Phänomen, das in ganz Europa beobachtet werden kann – ist der desolate Zustand der demokratischen Zivilgesellschaft und der linksliberalen Milieus. Elly Schlein, die designierte Vorsitzende des oppositionellen „Partito Democratico“, konnte gewiss einiges wiedergutmachen, was ihre Vorgänger an Zugewandtheit und Engagement vermissen ließen, und doch lässt sich einfach keine wirkliche linke, demokratische Einheit herstellen, die es wahlrechnerisch und öffentlichkeitsrelevant mit der Rechten aufnehmen könnte.

Ist also Italien, anders als Spanien, für die Demokratie verloren? Ganz sicher nicht, wenn sich die oppositionellen Kräfte nur einmal besinnen könnten, wenn es eine europäische Solidarität gäbe, in der es nicht bloß um die Wettbewerbsfreigabe von Badestränden und die Frage nach Flüchtlingsaufnahmen ginge, und wenn sich auch die entmachtete Kultur ihrer ursprünglichen Aufgaben wieder besänne.

Georg Seeßlen arbeitet als freier Autor, Feuilletonist und Filmkritiker; er lebt im Allgäu.

Fünf Gründe für den Erfolg der italienischen Rechten:

1. Gestiegener Organisationsgrad der neofaschistischen Bewegung.
2. Verknüpfung der drei Fraktionen des Rechtsextremismus: Faschismus, Populismus und libertärer Neoliberalismus.
3. Drift des konservativen Kleinbürgertums nach rechts.
4. Bereitschaft der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, sich den Rechten zu öffnen und anzudienen.
5. Lähmung und Selbstbeschränkung der gesellschaftlichen Mehrheit.


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