Kulturtipps: Anleitung zum Ausstieg

Aussteigen, aber wie? Die woxx hat Klassiker und Neuentdeckungen zusammengetragen, die unterschiedliche Antworten liefern.

Raw

(© Petit Film, Rouge International, Frakas Productions, Ezekiel Film Production, Wild Bunch)

FILM (ja) – Als Vegetarierin ist Justine an der veterinärmedizinischen Uni eine klare Außenseiterin. Eigentlich ernährt sich ihre ganze Familie fleischlos, doch sie findet schnell heraus, dass ihre Schwester Alexia diese Tradition aufgegeben hat, um sich besser in das schulische Umfeld einzufügen. Im Zuge der Bizutage, die eine Woche lang andauern, wird Justine dazu gezwungen, rohe Kaninchennieren zu essen. In der – ehemaligen – Vegetarierin löst das eine seltsame Verwandlung aus. So hat sie nicht nur mit einem schier unerträglichen Juckreiz zu kämpfen, sondern auch einen bisher unbekannten Hunger auf Fleisch. Als Alexia bei einem Unfall ihren Finger verliert, isst Justine ihn kurzerhand auf – und schiebt die Schuld auf den gemeinsamen Hund. War es erst ihr selbstgewählter Verzicht, der Justine von ihren Kommiliton*innen unterschied, so ist es nun ihr ungezügelter Appetit auf rohes, am besten menschliches Fleisch, der sie dazu bringt, Abstand zu halten. Besonders, wenn sie ihren Mitschüler*innen sexuell näherkommt, läuft sie Gefahr, diese zu beißen. Julia Ducournaus Debütfilm mischt das Gefühl, in einer neuen Gemeinschaft nicht anzukommen, mit Bodyhorror. Die Kulisse des kühlen Universitätsbaus und den klinischen veterinärmedizinischen Instrumenten kontrastiert hervorragend mit den blutigen Fleischexzessen Justines.

98 Min., auf Amazon Prime, Apple TV und Google Play

Drift Mine Satellite

(© Everest Pipkin)

SPIEL (ja) – Eine Hütte im Wald? Ein Leben in der Wüste? Langweilig! In „Drift Mine Satellite“ können Spieler*innen das Leben unter Tage erleben. Künstler*in Everest Pipkin nennt das ein „maintenance text adventure“ über eine Person, die in einer ehemaligen Kalksteinmine lebt und das lokale Kommunikationsnetzwerk in Schuss hält. Die Idee für das minimalistisch gehaltene Spiel, das nur mit Text und Symbolen arbeitet, kam Pipkin nach dem Besuch einer echten Mine, in der kein Kalkstein mehr abgebaut, sondern ausrangierte Wohnmobile gelagert werden. Eine Meldung des Handys, dass die internationale Raumstation ISS nun über dem eigenen Standort – mehrere Meter unter dem Fels – wäre, regte Pipkins Fantasie weiter an. So verwundert es nicht, dass die Spieler*innen schnell auf einen Astronomen treffen, der sein Teleskop mittels Computer und Satellitenempfang auf die verschiedenen Planeten des Sonnensystems ausrichtet. Das, obwohl er sich unter der Erde befindet und nichts beobachten kann. In der „ewigen Campingwelt“ von „Drift Mine Satellite“ ist das beileibe nicht die merkwürdigste Figur, die den Spieler*innen begegnet. Ziel ist es, den verschiedensten Bewohner*innen dieser seltsamen Höhlenwelt zu helfen. „Drift Mine Satellite“ wurde von Solar Protocol in Auftrag gegeben. Dieses Netzwerk besteht aus mehreren Servern, von denen immer nur jener aktiv ist, der gerade am meisten Solarenergie zur Verfügung hat. In diesem Sinne ist „Drift Mine Satellite“ auch auf Ressourcenschonung ausgelegt: Dadurch, dass es sich nur um Text handelt, verbraucht das Spiel nicht viel Energie oder Bandbreite.

Kostenlos spielbar auf itch.io

Filme von Kelly Reichardt

(© Harald Krichel, CC BY-SA 3.0 Deed)

FILM (tj) – Auch wenn sich ihr Fokus in den letzten Jahren leicht verschoben hat: Zu Beginn ihrer Karriere zeigte die US-amerikanische Regisseurin und Drehbuchautorin Kelly Reichardt ein besonderes Interesse für Aussteiger*innen im weitesten Sinne. Wenn diese am Rande der Gesellschaft lebenden Figuren nicht auf der Suche nach einem besseren Leben sind, dann sind sie doch zumindest auf der Suche nach sich selbst. Und das tun sie meist an Orten, an denen sich selten Menschen für lange Zeit aufhalten. In „Old Joy“ (2007) etwa wollen zwei desillusionierte Großstadtmänner beim Zelten im Wald ihre Freundschaft wiederbeleben. In vielen von Reichardts frühen Filmen haben die Figuren jedoch nicht nur kurzzeitig ihren Alltag, sondern geradezu ihr gesamtes bisheriges Leben zurückgelassen. Statt allerdings die Figuren an ihrem Zielort zu zeigen, thematisiert Reichardt mit dokumentarisch anmutenden Bildern die Reise dorthin: In „Wendy and Lucy“ (2008) strandet eine Frau auf der Durchreise in einer kleinen Ortschaft mit nichts als einem kaputten Auto und einem Hund als ihrem Besitz; in „Meek’s Cutoff“ (2010) geht es um zwei Familien, die im Jahr 1845 auf dem Oregon Trail Richtung Willamette Valley ums Überleben kämpfen. Der Umbruchphase, in der sich die Figuren befinden, liegt stets eine Unzufriedenheit mit dem Status quo zugrunde. Politisch ist zwar jeder von Reichardts Filmen, der realpolitischste ist aber ohne Zweifel „Night Moves“ (2013). Darin geht es um eine Gruppe junger Menschen, die Teil eines landwirtschaftlichen Kollektivs sind und planen, dem Umweltschutz zuliebe einen nahegelegenen Staudamm zu sprengen.

Auf DVD und diversen Streamingplattformen

Der Gesang der Fledermäuse

(© Kampa Verlag)

BUCH (mes) – Ganz abgeschottet von der Welt lebt Janina nicht, doch die ehemalige Bauingenieurin führt ein eher zurückgezogenes Leben in den Bergen Polens, an der tschechischen Grenze. Im Winter hütet sie die Häuser der Sommertourist*innen, tagsüber ist sie als Englischlehrerin in der Dorfschule tätig und am Wochenende übersetzt sie bei einem Teller Suppe mit einem Freund die Gedichte von William Blake. Die sagen die düstere Wende in Olga Tokarczuks Mystery-Roman „Der Gesang der Fledermäuse“, 2019 in deutscher Übersetzung im Kampa Verlag erschienen, schon voraus: Anfangs stößt Janina auf Tierkadaver, dann findet sie plötzlich den ersten Menschen tot auf. Er wird nicht der letzte sein. Bewaffnet mit Geburtshoroskopen, nimmt die Einzelgängerin die Strafverfolgung selbst in die Hand und ist der Polizei, die von ihren unkonventionellen Ermittlungen nichts wissen will, dabei immer einen Schritt voraus. Mag die Astrologie-Liebhaberin einigen Leser*innen zunächst etwas schrullig vorkommen, entpuppt sie sich schnell als humorvolle Erzählerin, der man nur zu gerne in ihren bildreichen Alltag folgt. Gekonnt schenkt sie allem – von den täglichen Routinen in den Bergen bis zu den Änderungen in den Windströmungen und den Gestirnen – eine besondere Aufmerksamkeit. Mit „Der Gesang der Fledermäuse“ sorgte Tokarczuk unter der rechtspolitischen Mitte Polens bei der Ersterscheinung im Jahr 2009 noch dazu für reichlich Wirbel, denn der Literaturnobelpreisträgerin ist sowohl ein fesselnder Tierschutzroman als auch eine sensible Zivilisationskritik gelungen. Ein Buch für alle, die sich je ausgemalt haben, vor lauter Frust über die Ungerechtigkeit der Welt in den Wald auszuwandern.

Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume): Der Gesang der Fledermäuse, Kampa Verlag (ISBN 978-3-311-15003-9). 320 Seiten.

Walden, a game

(© Hnromney, CC BY-SA 4.0/Wikimedia Commons)

SPIEL/BUCH/VIDEO (is) – In dem mehrfach ausgezeichneten Videospiel „Walden, a game“ (2017) können Sie ihren Ausstieg einmal Probe leben: Die Spieldesignerin Tracy Fullerton versetzt die Spieler*innen dort in die Rolle des Naturalisten und Schriftstellers Henry David Thoreau, der 1845 für zwei Jahre am Walden Pond in Massachusetts lebte. Das Spiel basiert auf Thoreaus Memoiren, „Walden; or Life in the Woods“ (1854), die in den USA als Klassiker der Aussteiger*innen-Literatur gelten. Das E-Book ist kostenfrei auf gutenberg.org, einer digitalen Bibliothek für gemeinfreie Werke, zu finden. Im kostenpflichtigen Videospiel bewegen sich die Spieler*innen in der Ego-Perspektive frei durch den Wald, dessen Authentizität überzeugt. Im Mittelpunkt steht die Spielerfahrung statt aufreibender Handlungsstränge. Wer sich einen Eindruck von dem Spiel machen will: In dem Youtube-Video „Letʼs Play Walden a Game“ vom Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) zocken es Laura Schmidt, Co-Kuratorin der Dauerausstellung „zkm_gameplay. The next level“, und Dominik Rinnhofer, Kurator des Ausstellungsbereichs „EcoGames“. Sie liefern dabei spannende Hintergrundinformationen zum Spiel, aber auch zu Thoreaus Leben und der Rezeption seines Buches.

Walden, a game: verfügbar für Xbox, Playstation4 sowie auf itch.io und Steam; „Letʼs Play Walden a Game“: zu sehen auf dem Youtube-Kanal des ZKM Karlsruhe; Henry David Thoreau: Walden; or Life in the Woods, bei unterschiedlichen Verlagshäusern sowie als E-Book frei zugänglich auf gutenberg.org.

Escaping Twin Flames

(© Netflix)

SERIE (is) – Die dreiteilige Doku „Escaping Twin Flames“, kürzlich bei Net- flix erschienen, offenbart, wie schwer der Ausstieg aus einer Sekte ist. Die Regisseurin trifft ehemalige Mitglieder des Internet-Phänomens „Twin Flames Universe“ (TFU): ein Kult, der Selbsterfüllung und Seelenverwandtschaft verspricht. In Wahrheit handelt es sich um ein undurchsichtiges Unternehmensnetzwerk, das seine Mitglieder ausbeutet und schikaniert. Die Gründer*innen Jeff und Shaleia Divine bieten neben Youtube-Videos auch überteuerte Onlinekurse, Ernährungsberatung und psychologische Betreuung an. 2019 erklärten sie ihre Lehre zur Religion, der „Union Church“. Dabei basiert ihr Konzept auf strukturellem Missbrauch, Queerfeindlichkeit und Misogynie: Die Mitglieder werden zu Beziehungen und teilweise zur Transition gezwungen; zu sexualisierter Gewalt und Stalking ermutigt sowie von Bezugspersonen außerhalb des TFU isoliert. In der Doku sprechen Betroffene, aber auch Angehörige aktiver Mitglieder und Janja Lalich, Soziologin und Expertin für Sekten. Handwerklich ist die Serie gut gemacht, auch wenn der Erfolg der Plattform rätselhaft bleibt und ein tieferer Einblick in das Leben der Gründer*innen wünschenswert wären.

Auf Netflix

Tracks East: Aussteiger aus dem System Putin

(© Arte/Screenshot)

REPORTAGE (is) – Manche Menschen sehen sich aus politischen Gründen zum Ausstieg gezwungen, wie etwa die Protagonist*innen der Reportage „Tracks East: Aussteiger aus dem System Putin“ auf arte.tv. Die unabhängige russische Journalistin Masha Borzunova, ebenfalls im Exil, begegnet in der halbstündigen Doku unter anderem den Journalist*innen Andrey Baranov und Marina Owsjannikowa. Owsjannikowa sorgte 2022 im Zuge von Russlands Angriff auf die Ukraine mit einer Widerstandsaktion vor laufenden Kameras für Aufsehen: Sie stürmte mit einem Anti-Krieg-Plakat die Live-Nachrichtensendung auf dem Perwy kanal, einem halbstaatlichen russischen Fernsehprogramm. Die beiden Regimekritiker*innen haben Russland inzwischen verlassen, genauso wie die kritische Künstlerin Laima Vaikule oder auch eine Lehrerin, die wegen regimefeindlicher Äußerungen ihren Job verlor und verurteilt wurde. Einen anderen verfolgten Regimekritiker, Adam Kalinin, verschlug es in die Wälder: Der IT-Spezialist ist aus Angst vor einem Strafprozess zum Selbstversorger geworden. Die Reportage liefert somit alternative Einblicke in die russische Gesellschaft und zeigt den Horror, den Widerstandskämpfer*innen derzeit durchleben. Gleichzeitig bietet sie eine andere Perspektive auf das Thema Ausstieg, denn für die Betroffenen aus der Doku ist das Exil ein Kampf ums Überleben und kein Trip zur Selbstfindung.

Auf arte.tv

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