#MeToo: Die Macht der Dokus

Anfang 2019 hat die MeToo-Bewegung einen neuen Höhepunkt erreicht und zeigt unter anderem mit Doku-Serien wie „Surviving R. Kelly“ eindringlich auf, wie Machtdynamiken und kollektives Augenverschließen physischen, psychischen und sexuellen Missbrauch begünstigen.

Am 5. März wies R. Kelly in einem Interview auf CBS erneut jede Schuld von sich. (© Screenshot YouTube)

Anderthalb Jahre nach Beginn der MeToo-Bewegung ist ihre Wirksamkeit immer noch nicht abgeflacht. Während anfangs journalistische Texte und Tweets dominierten, wurden die Auswirkungen der aufgeflammten Diskussion rund um sexualisierte Gewalt – Problembewusstsein, Solidarität und öffentliche Anprangerungen – immer wieder in künstlerischen Produktionen aufgegriffen. Fernsehserien wie „The Handmaid’s Tale“, Filme wie „The Wife“, Songs wie „Nameless, Faceless“ von Courtney Barnett, Theaterstücke wie „Bitter Wheat“ von David Mamet oder „Saturday Night Live“-Sketche wie der über Brett Kavanaugh wurden wesentlich von MeToo beeinflusst. Bildeten solche Produktionen zuvor eine Ausnahme, so sind sie mittlerweile ein Subgenre für sich. MeToo hat nicht nur die mediale Thematisierung von Sexismus und sexualisierter Gewalt befeuert, sondern auch zu einem verstärkten öffentlichen Interesse an solchen Produktionen geführt.

Die rezenteste Konsequenz der Bewegung ist eine Reihe von Dokumentarfilmen über weltweit bekannte Männer, denen vorgeworfen wird, gegenüber Frauen und/oder Kindern sexuell übergriffig geworden zu sein. Dazu gehört „Surviving R. Kelly“, eine sechsteilige Doku-Serie, die am 3. Januar auf dem US-amerikanischen Sender Lifetime anlief. In den insgesamt sechs Stunden kommen neben Psycholog*innen, Menschen aus der Musikszene und früheren Mitarbeiter R. Kellys vor allem Frauen zu Wort, die vom R’n’B-Sänger physisch, psychisch oder sexuell misshandelt wurden – viele von ihnen, als sie noch minderjährig waren. Auf dem diesjährigen Sundance Film Festival feierte zudem „Leaving Neverland“ Premiere, ein vierstündiger Dokumentarfilm über zwei Männer, die im Kindesalter von Michael Jackson sexuell missbraucht wurden. Berichterstattungen über Sextäter an sich sind nichts Ungewöhnliches. Neu ist jedoch, dass sich diese Filme mit Männern befassen, um welche über die Jahrzehnte ein regelrechter Personenkult entstanden ist.

Von Manipulation und Machtmissbrauch …

Das Wort „Kult“ hat im Zusammenhang mit R. Kelly einen besonders bitteren Beigeschmack, denn die Art und Weise wie er Mädchen und Frauen in seiner Villa um sich scharte, diktierte, wann diese essen, reden oder mit Freund*innen und Familie in Kontakt treten durften, sie schlug und sie zu sexuellen Handlungen zwang, wurde immer wieder als solcher bezeichnet. Auf den Vorwurf reagierte Kelly in seinem 2018 veröffentlichten Lied „I Admit“ mit der Frage „What’s the definition of a cult? What’s the definition of a sex slave?“.

Ein Film wie „Surviving R. Kelly“ zeigt im Detail die Mechanismen auf, die solchen Fällen zugrunde liegen: Die enorme Macht der Täter, die Verletzlichkeit der Opfer, die breite Öffentlichkeit, die zum einen die Augen verschließt, zum anderen ihr Idol bis aufs Blut verteidigt und unterstützt. Die Doku hebt auf vielfältige Weise die Manipulation und Abhängigkeitsdynamiken hervor, die Missbrauchsfällen oft zugrunde liegen. Bei den meisten von Kellys Opfern handelte es sich zunächst um Fans und aufstrebende Künstlerinnen. Die jungen Mädchen, auf die Kelly es abgesehen hatte, wollten Sängerinnen oder Tänzerinnen werden. Wenn ein etablierter Künstler wie Kelly ihnen vorschlug, ihn in sein Tonstudio zu begleiten oder in einem seiner Musikvideos zu tanzen, lag ihnen nichts ferner, als dieses Angebot abzuschlagen.

Die Vorwürfe gegen Kelly gehen bis in die 1990er-Jahre zurück. Nachdem Anfang der 2000er-Jahre eine Videoaufnahme aufgetaucht war, die Kelly beim Sex mit einer 14-Jährigen zeigte, folgten ein Prozess und ein Freispruch. Die zahlreichen Klagen gegen ihn schadeten seiner Karriere nur minimal. Viele weigern sich zu glauben, dass an Missbrauchsvorwürfen etwas dran ist, solange keine strafrechtliche Verurteilung vorliegt. Auch ein Künstler wie Woody Allen hat seine bis heute erfolgreiche Karriere vor allem dem Umstand zu verdanken, dass er nie verurteilt wurde. Dabei sollte bereits der jahrzehntelang anhaltende Vorwurf, seine Tochter Dylan Farrow als Kind sexuell misshandelt zu haben, ausreichen, um ihm jegliche Unterstützung zu verweigern. Vom Umstand, dass er 1997 seine Stieftochter, die er von Kindesbeinen an kannte, heiratete, gar nicht erst zu sprechen. Das Image von Künstler*innen ist maßgebend dafür, was die breite Öffentlichkeit als problematisches Verhalten bewertet und was nicht – und das ist ein Problem.

… bis hin zur Verteidigung von Idolen

Wenn auch frustrierend, so ist das Beharren auf der Unschuld dieser Männer nicht völlig unverständlich. Unserem eigenen Seelenfrieden zuliebe müssen wir daran glauben, dass Menschen gutmütig sind (und zugeben, wenn sie etwas Unrechtmäßiges getan haben) und dass das Rechtssystem fair ist. Bei Künstlern wie Kelly und Jackson kommt noch eine weitere Ebene hinzu. Wenn auf der einen Seite ein vielgeschätzter Künstler steht und auf der anderen ein unbekanntes, gesichtsloses Opfer, fällt es nicht schwer, ersterem Glauben zu schenken und letzteres zu diskreditieren. Wenn nämlich wahnsinnig beliebte Menschen, die noch dazu Songs wie „I Believe I Can Fly“ oder „Heal the World“ geschaffen haben, Sexualstraftäter sind, vor wem können wir uns dann überhaupt noch sicher fühlen? Wenn Menschen wie Kelly und Jackson Monster sind beziehungsweise waren, heißt das dann, dass möglicherweise etwas mit der gesamten Industrie nicht stimmt? Könnte es sogar heißen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Krise befinden?

© Screenshot YouTube/Lifetime

Solchen unschönen Tatsachen ins Auge zu sehen, fällt verständlicherweise schwer. Da ist es einfacher, die Taten, wenn schon nicht völlig zu verleugnen, dann doch zumindest als Einzelfälle zu klassieren, die von den Opfern womöglich sogar mitverschuldet wurden. Der Fokus wird dann, wie „Surviving R. Kelly“ eindringlich zeigt, auf die Frauen und Mädchen gerückt, die sich allem Anschein nach freiwillig auf eine Beziehung mit dem Musiker einließen und auf die Eltern, die sich wohl nicht ausreichend um ihre Kinder gekümmert haben. Es ist leichter sich vorzustellen, dass die Opfer mitschuldig sind, als zu glauben, dass schreckliche Dinge völlig unschuldigen Menschen zustoßen können – denn das würde heißen, dass es potenziell jede*n treffen kann.

Diese Männer konnten so lange mit ihrem Verhalten davonkommen, weil sie schier unantastbar waren – und dies zum Teil auch nach Erscheinen der jeweiligen Filme sogar noch bleiben. Dies trifft auf niemanden mehr zu als auf Michael Jackson: Er wird nie die Konsequenzen seines Handelns tragen müssen. R. Kelly musste seit Erscheinen der besagten Doku-Serie immerhin einige Rückschläge einstecken – sein Label hat ihm gekündigt, zahlreiche Radiosender weigern sich, seine Musik zu spielen, Künstler*innen entschuldigen sich dafür, mit ihm zusammengearbeitet zu haben, am 22. Februar ist er wegen sexuellen Missbrauchs in zehn Fällen angeklagt worden.

Kunst und Künstler*in trennen?

Bleibt die Frage, wie mit der Kunst solcher Menschen umzugehen ist. Ist es möglich, Ästhetik und Moral voneinander zu trennen, beziehungsweise sollte man das? Es besteht natürlich immer die Möglichkeit, Kunstwerk und Künstler*innen streng voneinander zu trennen. Hierbei muss man sich jedoch vor Augen halten, dass der Status und Erfolg dieser Kunstschaffenden, ihre Karriere und teilweise sogar die Kunstwerke selbst, oft gar nicht von ihrem Umgang mit Frauen zu trennen sind. Noch dazu haben es diese Künstler durch ihr Verhalten ihren Opfern teilweise erschwert, sich persönlich und professionell zu entfalten. Es stellt sich also die Frage, ob ein Künstler, der auf Kosten einer oder mehrerer Frauen aufgestiegen ist, rezipiert (und dadurch in den meisten Fällen finanziell unterstützt) werden kann, ohne dass dadurch automatisch Partei ergriffen wird.

Ein Film wie „Surviving R. Kelly“ ist nicht nur relevant, weil er den Opfern eine Stimme gibt und das enorme Ausmaß an Leid und Traumata aufzeigt, das Kelly über Jahrzehnte hinweg verursacht hat. Was den Film so besonders macht, ist, dass er sich darüber hinaus einerseits der Mitschuld widmet, die dem direkten Umfeld Kellys zukommt, andererseits aber auch der Verantwortung, die wir als breite Öffentlichkeit tragen. Sexismus, Belästigung, physische, psychische und sexualisierte Gewalt passieren nie in einem luftleeren Raum. Sie werden durch zahlreiche Faktoren begünstigt, von Machtstrukturen und Menschen, die die Augen verschließen. Die berühmten Männer, die zurzeit im Fokus der MeToo-Debatte stehen, sind nichts anderes als die Spitze des Eisbergs in einer durch und durch patriarchalen Kultur, die Geschlechterdiskriminierung nicht nur toleriert, sondern befördert. Durch MeToo hat sich nicht nur die Thematisierung von Sexismus und sexualisierter Gewalt erhöht, auch der gesellschaftliche Umgang mit Anschuldigungen hat sich verändert. Männer wie Bill Cosby, Louis C.K., Kevin Spacey, Jeffrey Tambor, Harvey Weinstein, Ryan Adams und R. Kelly müssen mittlerweile die Konsequenzen für ihr Verhaltens tragen, in einer Weise, die vor Kurzem noch undenkbar gewesen wäre. Es ist ein Anfang, auch wenn es nicht reicht.


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