Die österreichischen Grünen haben große Teile ihrer Werte aufgegeben, um das Klima zu retten. Wird das ein Muster für weitere grüne Regierungsbeteiligungen?
„Österreich ist ein wunderbares Land. Geprägt von Natur und Landschaft in Vielfalt und Schönheit.“ Was klingt wie ein Text aus der Tourismuswerbung für Urlaub irgendwo zwischen Bodensee und Wien, sind in Wahrheit die ersten Sätze des Koalitionsvertrages zwischen der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und den Grünen. Das Zustandekommen dieser Koalition ist ein ungewöhnlicher Vorgang und ihr Zusammenhalten wird für beide Parteien ein ständiger Kraftakt werden.
Ungewöhnlich nicht nur, weil es die bisher erste Regierungsbeteiligung auf nationaler Ebene für die Grünen in Österreich ist und die ÖVP des Sebastian Kurz wesentlich weiter rechts steht als andere konservative Parteien in Europa, sondern auch in der Art und Weise, wie es überhaupt zu Wahlen gekommen war. Mitte Mai 2019 hatte die Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos die Koalition zwischen der rechtsextremen FPÖ und der ÖVP gesprengt; in Folge waren Neuwahlen ausgerufen und eine Übergangsregierung eingesetzt worden.
Am Abend des 29. September standen zwei große Wahlgewinnerinnen fest: Die ÖVP und die Grünen. Wegen der großen inhaltlichen Differenzen schätzten viele eine Koalition als unwahrscheinlich ein. Kurz, der zwar mit seiner flüchtlingsfeindlichen Rhetorik politisch groß geworden ist, als Integrationsstaatssekretär allerdings wesentlich versöhnlichere Töne angeschlagen hatte, gilt allerdings als politisches Chamäleon.
Wird das politische Chamäleon grün?
Und auch wenn die Grünen politisch gestärkt worden waren, so hatten sie doch einen entscheidenden Nachteil: Neben den Koalitionsverhandlungen mussten sie ihr Parlamentsteam wiederaufbauen – bei den Wahlen zwei Jahre vor der Ibiza-Affäre hatte die Partei sämtliche Sitze im österreichischen Nationalrat verloren.
Die Verhandlungen zwischen Grünen und ÖVP dauerten relativ lange – nur dreimal wurde bisher in Österreich länger an einem Koalitionsvertrag gebastelt. Einen Monat lang sondierte man nur, danach wurde verhandelt, bis am 1. Januar 2020 eine Einigung erzielt wurde. Und dann musste alles ganz schnell gehen: Bereits am nächsten Tag stellten Sebastian Kurz und sein künftiger grüner Vizekanzler Werner Kogler das Programm vor, am 3. Januar stimmten die Vorstände beider Parteien für das Programm, für den 4. Januar sollte der Bundeskongress der Grünen über das Regierungsprogramm abstimmen. Die Zustimmung der grünen Basis war dabei noch nicht so sicher.
Das Regierungsübereinkommen zwischen ÖVP und Grünen erntete gleich nach der Veröffentlichung nämlich heftigste Kritik. Da war die Anmerkung, dass die Präambel aus der österreichischen Nationalhymne („Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome, Land der Hämmer, zukunftsreich!“) abgeschrieben sei, noch harmlos. Bei der Präsentation fasste Sebastian Kurz mit „Es ist möglich Klima und Grenzen zu schützen“ den Kern der Kritik ganz gut zusammen. Die Grünen hatten es nicht geschafft, Kurz zu einer Kehrtwende in seiner Asyl- und Grenzpolitik zu bewegen.
So ist zum Beispiel die Einführung einer präventiven „Sicherungshaft“ vorgesehen. Der Punkt ist im Kapitel Asyl zu finden und Luxemburg wird als positives Beispiel genannt, wie so ein Hafttatbestand verfassungskonform umgesetzt werden kann. Dazu wäre eventuell eine Verfassungsänderung nötig, die die Grünen jedoch eher ablehnen. Eventuell hoffen sie klammheimlich darauf, dass dieses Vorhaben deswegen ohnehin nicht umgesetzt werden kann. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen (der lange Zeit Mitglied der Grünen war) sprach seine Bedenken aus.
Mit dem Geilomobil gegen Machokultur
Die Zugeständnisse an die ÖVP in der Asylpolitik sorgten für große Kritik: Um Klimapolitik umsetzen zu können, hätten die Grünen fast alles aufgegeben und Kurz eine Fortführung jener Politik erlaubt, die der bis Mai 2019 gemeinsam mit der FPÖ gefahren hatte.
Für den Fall einer erneuten großen Fluchtbewegung nach Österreich ist sogar ein „koalitionsfreier Raum“ ausgemacht. Das heißt, die ÖVP könnte im Parlament nach einer Mehrheit für Gesetze, die die Grünen nicht mittragen wollen, suchen. Das soll zwar verhindern, dass die Koalition auseinanderbricht, würde für die Grünen jedoch dennoch eine schwierige Zäsur bedeuten. Allerdings gehen die beiden Parteien davon aus, dass dieser Fall ohnehin nicht eintreten wird. Theoretisch könnten zwar auch die Grünen eine Mehrheit mit anderen Parteien suchen, realistische Optionen dafür fehlen jedoch.
Eine weitere Idee, die eigentlich aus der ÖVP-FPÖ-Regierung stammt, und die nun fortgeführt wird, ist die Verstaatlichung der Rechtsvertretung von Asylwerber*innen. Statt NGOs, die Schutzsuchende bisher juristisch vertreten haben, soll die „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen“ dies nun erledigen. Ein Qualitätsbeirat mit Vertreter*innen von unter anderem dem UNHCR soll die Unabhängigkeit garantieren. Daneben stehen im Regierungsprogramm viele Dinge, die eine österreichische Regierung alleine gar nicht umsetzen kann: Zum Beispiel den massiven Ausbau der EU-Grenzpolizei Frontex.
Auf viel Kritik stieß auch die Idee, ein Kopftuchverbot in Schulen für Schülerinnen bis zum 14. Lebensjahr einzuführen. Das passt dazu, wie die ÖVP unter Billigung der Grünen Gleichstellungspolitik sieht: Ein eigenes Frauenministerium gibt es nicht, dieses Ressort liegt jetzt im Integrationsministerium. Kurz betonte in einem ORF-Interview, österreichische Frauen würden sich in großen Städten ob einer „importierten Machokultur“ nicht mehr sicher fühlen. Kogler, der neben ihm saß, kommentierte dies nicht. Vielleicht dachte auch er an das „Geilomobil“, den gewaltigen schwarzen SUV, mit dem Sebastian Kurz – begleitet von knapp bekleideten jungen Frauen – noch vor wenigen Jahren als Mitglied der Jungen ÖVP in Wien Wahlkampf gemacht hatte.
Kurz beschrieb das Regierungsübereinkommen am Dienstag in einem Interview mit dem ORF als „historisch“ in dem Sinn, als dass man sich nicht gegenseitig „hinunterverhandelt“ habe, sondern jede Partei ihre Themenschwerpunkte besetzen könne. Die Grünen haben eine durchaus ambitionierte Klimapolitik und viele Forderungen zu einem transparenteren Staat einbringen können. Bis 2040 soll Österreich klimaneutral sein, bereits in zehn Jahren soll die Stromversorgung zu 100 Prozent aus Ökostrom bestehen.
Beifall aus Luxemburg
Der luxemburgische Energieminister Claude Turmes freute sich auf Twitter über künftige Unterstützung im Europäischen Rat: „Es freut mich, dass wir jetzt im Energierat mit @lgewessler eine tolle Mitstreiterin haben, um die Energiewende in der EU zu beschleunigen und aus Fossilen und Atom auszusteigen; 100% erneuerbar ist das nahe Ziel“. Hinter dem Userinnennamen @lgewessler versteckt sich Leonore Gewessler, die erst im Sommer 2019 zu den Grünen kam. Zuvor stand sie fünf Jahre lang an der Spitze der Umwelt-NGO Global 2000. Das ist etwa so, als wäre Méco-Präsidentin Blanche Weber in Luxemburg Umweltministerin geworden. Gewessler ist ihrer neuen Rolle gemäß auch gleich mit dem Fahrrad zur Amtsübergabe gefahren.
Vielleicht kann Turmes seiner neuen Kollegin ja einige Tipps geben: Auch in Österreich will man eine ökosoziale Steuerreform umsetzen und den Tanktourismus bekämpfen. Beim Klimagesetz und beim nationalen Klima- und Energieplan will die neue Regierung ebenfalls nachbessern. Der öffentliche Verkehr wird zwar nicht kostenlos, soll aber billiger werden: Für einen Euro pro Tag soll man künftig öffentlich durch ein Bundesland reisen können. Zwei Bundesländer würden zwei Euro am Tag, ganz Österreich drei Euro am Tag kosten. Vorbild ist hier ganz klar Wien, in dem die Öffi-Jahreskarte seit Regierungsbeteiligung der Grünen 365 Euro im Jahr – oder halt einen Euro pro Tag kostet.
Diese ambitionierte Klimapolitik im Regierungsabkommen reichte für einige Grüne jedoch nicht, um eine Koalition mit der Kurzschen ÖVP zu rechtfertigen. „Ich bin mir sicher, dass die Grünen ihr Bestes gegeben haben und viel Schlimmes durch diese Einigung verhindern konnten – nicht nur die Verhinderung von Rechtsextremen in Regierungsfunktionen. Dennoch komme ich nicht umhin, dass sich diese Koalition grundlegend falsch anfühlt. […] Ich persönlich kann nicht für eine Koalition mit einer Partei stimmen, die rassistische Politik umsetzen will und einen autoritären Staat möchte“, schrieb beispielsweise die grüne Gewerkschaftlerin Viktoria Spielmann auf Facebook. Sie war eine von jenen 13 Delegierten auf dem Bundeskongress, die gegen die Koalition stimmten. Auch die Grüne Jugend stellte sich gegen die Regierungsbeteiligung – und das, obwohl die Jugendorganisation neu aufgebaut worden war, nachdem die „Jungen Grünen“ zu widerspenstig geworden und aus der Partei geflogen waren. Die Organisation hat sich mittlerweile in „Junge Linke“ umbenannt und kritisiert die grüne Regierungsbeteiligung wenig überraschend ebenfalls heftig.
Attacken von rechts
Die meisten der Delegierten beeindruckte diese Kritik jedoch nicht, sie machten den Weg für die Regierungsbeteiligung frei. Während die luxemburgischen Grünen in Person ihrer Präsident*innen Christian Kmiotek und Djuna Bernard sogleich gratulierten, sind ihre deutschen Partei- freund*innen zurückhaltender: „So etwas wird es in Deutschland nicht geben“, erklärte die deutsche Grünen-Chefin Annalena Baerbock der taz. Wie glücklich die Grünen mit der Koalition werden, wird sich noch zeigen müssen. Ebenfalls, wie groß der Zusammenhalt der Koalitionär*innen ist.
Die rechtsextreme FPÖ hetzte zum Beispiel gleich gegen die neue Justizministerin Alma Zadić. Die Juristin wurde im ehemaligen Jugoslawien geboren und wechselte vor den Wahlen von Peter Pilz‘ Liste Jetzt zu den Grünen. Die FPÖ warf Zadić vor, kriminell zu sein, da sie in einem medienrechtlichen Verfahren angeklagt worden ist – weil sie das Foto eines Burschenschaftlers, der den Hitlergruß zeigt, veröffentlicht hatte. In den sozialen Medien wurde sie als „kriminelle Muslima, die die Scharia einführen will“ bezeichnet – dabei ist Zadić ohne religiöses Bekenntnis.
Rückendeckung von Kurz oder seiner ÖVP gab es nicht – der hat sich sein rechtspopulistisches Image nicht jahrelang aufgebaut, um es nun plötzlich fallen zu lassen. Die frischgebackene Justizministerin wurde stattdessen unter Polizeischutz gestellt. Die türkis-grüne Koalition wird viele Zerreißproben überstehen müssen und dabei unter genauer Beobachtung stehen. Konservativ-grüne Koalitionen könnten in Europa nämlich demnächst öfters zustande kommen – wie sie sich in Österreich schlägt, hat also durchaus Symbolwirkung.