Personalmangel im Pflegesektor: „Eine sehr belastende Situation“

Mangel an Ausbildungsmöglich
keiten, große Arbeitsbelastung, unethische Regelungen – Gründe für den akuten Mangel an Krankenpfleger*innen in luxemburgischen Krankenhäusern gibt es viele. Wir haben mit der Präsidentin der Association nationale des infirmier(e)s luxembourgeois(es) (Anil) darüber gesprochen.

„Das Feedback, das wir immer wieder vom Pflegepersonal bekommen ist: Wir wissen nicht, wie lange wir das aushalten.“ – Um der kollektiven Erschöpfung im Gesundheitssektor entgegenzuwirken, müssen laut Anil-Präsidentin Anne-Marie Hanff die Anliegen der Pflegenden schnellstmöglich ernst genommen werden. (Foto: Anil)

woxx: Vor gut einer Woche hat die Anil sich mit einem offenen Brief an Premierminister Bettel gerichtet. Sie erläutern darin, bereits vor sechs Monaten eine Unterredung mit ihm beantragt zu haben, jedoch keine Antwort erhalten zu haben.


Anne-Marie Hanff: Wir haben den Premierminister damals angeschrieben, als die erste Welle langsam abflachte, um mit ihm Bilanz zu ziehen. Schon seit Jahren werden in Luxemburg zu wenige Krankenpfleger ausgebildet und wir brauchen dringend eine Lösung. Die Problematik im Bereich der Pflege wurde während der Pandemie besonders deutlich: Viele unterschiedliche Ministerien treffen Entscheidungen, die die Pflege betreffen. Das Familienministerium bezüglich der Alters- und Pflegeheime, das Gesundheitsministerium bezüglich der Erarbeitung sanitärer Regeln und das Bildungs- und Hochschulministerium bezüglich der Ausbildung. Das führt zum Teil dazu, dass keines der Ministerien sich verantwortlich fühlt und am Ende nichts passiert. In Fällen, in denen kein gemeinsamer Nenner gefunden werden kann, ist es eigentlich Aufgabe des Premierministers zu koordinieren. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr überrascht es uns, dass der nicht auf unser Anliegen reagiert. Wir waren davon überzeugt, dass er mittlerweile den Handlungsdrang und die Notwendigkeit, sich mit uns zusammenzusetzen, eingesehen haben müsste. Doch auch beim État de la Nation hat er die Reform, die in der Pflege nötig wäre, mit keinem Wort erwähnt. Der Arbeitskräftemangel besteht ja nicht nur in der Pflege, sondern auch bei den Ärzten. Damit sich schnellstmöglich etwas ändert, muss der Personalmangel zu einer Regierungsangelegenheit werden.

Im Frühjahr fand eine Unterredung zwischen Gesundheitsministerin Lenert und der Anil statt. Wie ist dieses Gespräch verlaufen?


Wir hatten das Gespräch angefragt, um zu besprechen, wie Krankenpfleger im Rahmen der Pandemie bestmöglich eingesetzt werden können. Wir waren sehr zufrieden mit dem Gespräch und fühlten uns ernst genommen. Manche unserer Forderungen können jedoch nicht umgesetzt werden, weil es in Luxemburg keine entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten gibt. Es wäre zum Beispiel sinnvoll, dass Krankenpfleger gemeinsam mit den Hausärzten die Versorgung von erkrankten Menschen zu Hause sicherstellen, und sogar Covid-Tests verschreiben und auf eigene Initiative durchführen könnten. Hierzu müssten die Pflegenden allerdings über erweiterte Kompetenzen verfügen.

Damit sich schnellst-möglich etwas ändert, muss der Personalmangel 
zu einer Regierungsan-
gelegenheit werden.

Eine langjährige Forderung ist das Einführen einer Bachelorausbildung für Pflegekräfte. Wieso wäre dies wichtig?


Im Gegensatz zu einer verbreiteten Annahme, geht es uns dabei nicht um eine Erhöhung der Gehälter, sondern um die Ausbildungsmöglichkeiten. Spezialisierende Weiterbildungen im Ausland laufen größtenteils auf Masterniveau. Krankenpfleger, die in Luxemburg ausgebildet wurden, sind von diesen zurzeit häufig ausgeschlossen. Wir sind überzeugt, dass ein durchgängiges und transparentes Karrieremodell den Pool an potenziellen Studenten vergrößern würde. Zurzeit kann man die Ausbildung zum Krankenpfleger nicht an die zum Aide-Soignant oder die Sekundarschule anschließen. Die Ausbildung zum Krankenpfleger fängt nämlich schon in der 12. Klasse an. Das ideale Angebot würde deshalb sowohl eine Ausbildung zum Aide-Soignant umfassen für diejenigen, die nach der 13e arbeiten gehen wollen, als auch die Möglichkeit eines Bachelorstudiums zum Krankenpflegenden nach dem Sekundarschulabschluss, wo man sich nach Wunsch anschließend im In- oder Ausland auf Masterniveau berufsbegleitend spezialisieren kann.

Gibt es neben den unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten noch weitere Gründe für den Personalmangel?


Ein weiteres Problem ist der frühzeitige Ausstieg aus dem Pflegeberuf. Uns fehlen jedoch Daten zu den Gründen dafür. Im Ausland gibt es entsprechende Studien, in Luxemburg wurden noch keine durchgeführt. Welche Arbeitsbedingungen spielen in Luxemburg eine Rolle? Wie häufig müssen die Pflegenden entgegen ihrer Berufsethik handeln? Inwieweit verlassen Pflegende den Beruf aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit und fehlenden angepassten Stellen? Zurzeit ist es so, dass in einem Altersheim ein Krankenpfleger zusammen mit einem Aide-Soignant nachts hundert Patienten versorgen muss. Da reicht es, dass bei einem Patienten Beschwerden auftreten, damit es schwierig wird. Man kann den Gesundheitsstatus des Patienten nicht angemessen überwachen, ihm nicht seine Angst nehmen. Gerade in palliativen Situationen ist aufgrund der teils hohen Belastung durch Symptome ein enger Kontakt notwendig. Der ist zurzeit aber nicht möglich, Krankenpfleger können nicht das tun, wozu sie eigentlich da sind. Auch das sind Gründe, weshalb manche den Beruf wechseln wollen. Dabei haben wir handfeste Beweise, dass durch mehr qualifiziertes Pflegepersonal unnötige Krankenhauseinweisungen verhindert und hierdurch Kosten gespart werden könnten. Der Personalmangel fällt gerade in der aktuellen Pandemie besonders ins Gewicht.

© pxhere.com

Wie ist die Situation zurzeit in den Krankenhäusern? Ist sie noch zu bewältigen? 


Das ist sehr unterschiedlich, aber viele sind mittlerweile wirklich erschöpft. Das Gleiche ist im ambulanten Sektor der Fall. Durch die Pandemie ist der Arbeitsaufwand ohnehin schon höher und dann fällt zusätzlich dazu auch noch krankheitsbedingt ständig Personal aus. Es ist tatsächlich aber auch so, dass momentan Personal in der Pflege von Menschen mit Covid eingesetzt wird, welches sich in Quarantäne befinden sollte, weil es sonst nicht möglich wäre, sich um alle Patienten zu kümmern. Das Personal setzt die eigene Gesundheit aufs Spiel aus Angst, dass Menschen sterben, die anders hätten gerettet werden können. Das ist eine sehr belastende Situation. Und es ist zurzeit schwer zu sagen, was noch alles auf uns zukommt. Das Feedback, das wir immer wieder vom Pflegepersonal bekommen ist: Wir wissen nicht, wie lange wir das aushalten.

Covid-19-Patient*innen bringen Krankenhäuser schneller ans Limit als andere stationäre Patient*innen. Woran liegt das?


Eine besondere Belastung sind die ganzen Isolierungsmaßnahmen. Vor Betreten eines Zimmers mit einem Covid-Patienten muss das Personal sich einerseits erst vollkommen vermummen, andererseits muss akribisch vorausgeplant werden. Kurz mal rausgehen, um einen Verband zu holen, weil sich die Wunde im Vergleich zum Vortag verändert hat, ist keine Option. Das würde das Ansteckungsrisiko nur unnötig steigern. Dann kommt noch hinzu, dass die Betroffenen Atemprobleme haben, die Notfallbehandlungen sowie Beatmung auf der Intensivstation erfordern. Das Gefühl zu ersticken, löst eine Todesangst bei den Betroffenen aus. Das erfordert eine besonders intensive Betreuung. Der fehlende Kontakt zur Familie, die Angst sich nicht mehr verabschieden zu können, bringt eine zusätzliche Belastung. Der Verlauf einer Covid-19-Erkrankung ist davon abgesehen auch einfach noch nicht so bekannt wie jener einer Herzerkrankung zum Beispiel. Er unterscheidet sich zudem stark je nach Patient. Wir wissen nie, was auf uns zukommen wird.

Sie haben im offenen Brief den Mangel an einheitlichen Regeln für Alters- und Pflegeheime kritisiert. Wie hätte die Regelung im Idealfall aussehen müssen?


Eine Möglichkeit wäre ein Stufenmodell gewesen, das je nach Bedarf in den jeweiligen Häusern hätte angewandt werden können. Im Frühjahr mussten die Altersheime innerhalb kürzester Zeit ein Konzept ausarbeiten, um die Bewohner gesund zu halten. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn dies durch die Regierung, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der nationalen Ethikkommission, geschehen wäre. Stattdessen hat das Familienministerium entschieden, die Altersheime mit dieser äußerst schwierigen Aufgabe alleine zu lassen.

Sind Ihnen Fälle, in denen die Würde der Bewohner*innen eindeutig nicht respektiert wurde, bekannt?


In manchen Häusern wurde das Personal dazu aufgerufen, die Bewohner in ihren Zimmern einzusperren. Ziel war die Verhinderung weiterer Ansteckungen durch Bewohner und Bewohnerinnen, die aufgrund einer Demenzerkrankung nicht in der Lage gewesen wären, sich eigenverantwortlich an die Hygienevorschriften zu halten. Manche Institutionen wussten sich nicht anders zu helfen. Das kann einfach nicht sein, das widerspricht allen deontologischen Prinzipien, nach denen die Krankenpfleger arbeiten. Solche Regelungen sind nicht nur für die Bewohner grauenhaft, sondern veranlassen auch schon mal Mitglieder vom Personal, den Beruf zu wechseln. Ein Phänomen, das vermutlich besonders nach der Pandemie auftreten wird.


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