Muskelbepackte Helden, weise Magier, krächzende Barden – wo bleiben in Rollenspielen Frauen, Queers und andere marginalisierte Menschen? Im zweiten Teil unserer Serie geht es darum, wie Rollenspiele diverser werden.
Lange Zeit war es so, dass in vielen Rollenspiel-Abenteuern Frauen oder nicht-weiße Menschen kaum vorkamen. Das lag einerseits an der Hauptzielgruppe – junge, weiße hetero Männer – und andererseits daran, dass die Repräsentation marginalisierter Menschen entweder sehr stereotyp und oft negativ oder überhaupt nicht vorhanden war. Die Identifikationsangebote orientierten sich strikt an der Norm. Auch heute gibt es noch eingefleischte Rollenspieler*innen, die vorgeben, eine Welt, in der es Magie, Zwerge und Drachen gibt, realistischer zu finden, wenn dort keine Homosexuellen, Behinderte oder schwarzen Menschen vorkommen.
Doch es gibt auch Rollenspiel-Autor*innen, die dafür sorgen wollen, dass dies nicht so bleibt. In den USA werden solche Diskussionen bereits seit längerem geführt. Auch im deutschsprachigen Raum wird versucht, den überkommenen Normen etwas entgegenzusetzen. So haben etwa die Rollenspielentwickler*innen Frank Reiss und Judith Vogt auf einer Fan-Convention für Rollenspiele eine Diskussion zu dem Thema organisiert. Daraus ist die Idee zu dem Buch „Roll Inclusive“ entstanden, das sie gemeinsam mit Aşkın-Hayat Doğan herausgegeben haben. „Rollenspiel-Settings haben oft sehr wenig mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben.“, fasst Reiss gegenüber der woxx das Problem zusammen.
Halbnackte Kriegerinnen
Sieht man sich etwa den Umgang mit Frauen in der Rollenspielszene an, findet man Reiss‘ Aussage schnell untermauert. Zu Anfangszeiten waren sie ohnehin eine absolute Minderheit. An der Wargames-Community, aus der die „role-playing games“ entstanden sind, beteiligten sich in den 1970er-Jahren lediglich 0,5 Prozent Frauen. Es waren verschiedene Faktoren, die dazu beitrugen, dass Rollenspiele lange Zeit ein männerdominiertes Hobby blieben: Frauen wurden oft nicht ernst genommen; man unterstellte ihnen etwa, die komplexen Regeln unmöglich verstehen zu können. Häufig wurde zudem von ihnen erwartet, männliche Charaktere zu spielen. Selbst bei TSR, der Herstellerfirma des Rollenspielklassikers „Dungeons and Dragons“ (DnD) war dies üblich – obwohl man Frauen eingestellt hatte, um Rollenspiel-Abenteuer zu entwickeln.
Die Inhalte der Rollenspiele waren also sehr an einer jungen männlichen Zielgruppe orientiert – und wurden auch so vermarktet: Sexualisierte Illustrationen von Frauen, Bilder von Kriegerinnen, deren Rüstungen mehr dazu dienen, Haut zu zeigen, als sie vor Verletzungen zu schützen – all das war ebenso häufig wie es unrealistisch ist. Das allerdings hinderte Hersteller und Spielecommunity nicht daran, Frauen unter dem für Fantasy-Welten absurden Verweis auf „historische Authentizität“ in bestimmte Rollen zu drängen. In manchen Systemen waren weibliche Charaktere sogar spieltechnisch benachteiligt oder hatten einen „Schönheits-Bonus“.
„Das Schwarze Auge“, (DSA) das deutschsprachige Pendant zu DnD, hat sich hingegen von Beginn an Gleichberechtigung auf die Fahne geschrieben und keinerlei Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Charakteren gemacht. Und so hat sich über die Jahre einiges geändert. Auf dem Cover des Spieler*innen-Handbuchs der neusten DnD-Edition beispielsweise ist eine Frau abgebildet, die gegen einen Riesen kämpft. Sie trägt eine Rüstung, die ihren Zweck auch erfüllen kann und wird in einer aktiven Rolle dargestellt – von den sexualisierten Darstellungen hat man sich hingegen verabschiedet. Das liegt wohl auch daran, dass immer mehr Frauen in der Branche arbeiten: So waren 2016 beispielsweise auf der „Gen Con“, der größten Rollenspielmesse der USA, mehr Frauen als Männer auf den Podien.
Trotzdem ist Sexismus in manchen Rollenspieler-Milieus nach wie vor verbreitet. 2014 begann unter dem Namen „Gamergate“ in der Videospielszene ein regelrechter Kulturkampf, der bis heute anhält und sich auf so gut wie jedes „nerdige“ Hobby ausgeweitet hat. Das hat etwa dazu geführt, dass manche Listen über Firmen führen, die es angeblich zu genau nehmen, politisch korrekt oder „woke“ seien, etwa weil sie Themen wie Sexismus oder Rassismus in ihren Regelbüchern thematisieren.
Queere Orks
Die Vorstellung von einer „Rollenspielpolizei, vor der sich manche fürchten“, bringt Reiss eher zum Lachen. Jede Gruppe könne schließlich untereinander selbst entscheiden, wie sie spielt. Er hofft, die verschiedenen Rollenspielgruppen lassen sich mit einem anderen Argument dazu animieren, sich mit anderen Inhalten auseinanderzusetzen: „Vielleicht lassen sich mit einem inklusiveren Setting ja Geschichten erzählen, die wir so nicht kennen. Diese Offenheit würde ich vielen Gruppen wünschen. Außerdem weiß man ja vielleicht gar nicht, ob eine queere Person in der Gruppe sitzt, die durch homofeindliche Inhalte verletzt wird.“
Was die Repräsentation queerer Menschen angeht, hat sich in den letzten Jahren in der Rollenspielszene einiges getan. Das gilt sowohl für den Mainstream als auch für viele Indie-Veröffentlichungen. So etwa das Indiegame „Monsterhearts“ von Avery Alder, in dem die Spieler*innen in die Rolle von Teenagern schlüpfen, die zwischenmenschliche Dramen und Sexualität erforschen – und den Umstand, dass sie Monster wie Vampire oder Werwölfe sind. Das Spiel wird demnächst auch in deutscher Übersetzung erscheinen – laut Judith Vogt eine Tatsache, die man sich noch vor fünf Jahren nicht hätte vorstellen können.
So ist Rollenspiel längst nicht mehr nur ein Ort, an dem ausgegrenzt wird und überkommene Nomen bestätigt werden: Für viele queere Rollenspieler*innen ist ihr Hobby eine Möglichkeit, sich ausprobieren zu können. Wer wissen will, wie es sich anfühlt, ein anderes Geschlecht zu spielen oder etwa eine gleichgeschlechtliche Romanze zu führen, kann dies hier in der Regel ohne Konsequenzen tun. „Für ein neues DnD-Spiel dachte ich mir, es wäre spannend, mal einen Charakter zu spielen, der ein anderes Geschlecht als ich hatte“, erzählt eine Person, die anonym bleiben will, der woxx. „Im Endeffekt stellte sich heraus, dass ich versehentlich das Gegenteil davon tat. Immer, wenn ich einen weiblichen Charakter spielte, empfand ich das als äußerst angenehm.“
Fantasy-Rassismus
Während queere Menschen sich in Rollenspielen inzwischen wahrgenommen fühlen können, geht das vielen nicht-weißen Menschen anders: Ihre Darstellung bleibt oft sehr stereotyp und negativ. Auch wenn es sich um erfundene Kulturen handelt, die in Fantasiewelten angesiedelt sind, so ist häufig zu erkennen, dass sie Anspielungen auf echte Gesellschaften sind, die sehr stereotyp dargestellt werden. So wurde in DSA den Novadis, die Menschen aus dem Nahen Osten nachempfunden sind, ein hoher „Jähzorn-Wert“ angedichtet, da sie „aufbrausend und stolz“ seien. Mittlerweile wird jedoch versucht, diese Darstellungen zu modernisieren, um solch rassistische Klischees zu vermeiden.
Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit den Werken H. P. Lovecrafts, der den sogenannten Cthulhu-Mythos erfunden hat. Lovecraft war ein glühender Rassist und Antisemit, weshalb sich die Rollenspiel-Community zunehmend von dem Autor distanziert, ohne aber seine Welt zu verlassen. Der Verlag „Evil Hat Productions“ macht in seinem Rollenspielbuch „Fate of Cthulhu“ Lovecrafts Gesinnung zum Thema und verweist auf Werke, die sich kritisch mit Lovecrafts Schaffen auseinandergesetzt haben. Manche Indie-Spiele fordern die Spieler*innen gezielt auf, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, etwa „Harlem Unbound“, das in den 1920er-Jahren in den USA angesiedelt ist. Auch im „Monsterhearts“-Regelwerk finden sich Tipps, wie man im Spiel respektvoll mit Rassismus-Erfahrungen umgehen kann, die einzelne Spieler*innen möglicherweise machen.
Schaut man sich die Darstellungen in modernen Rollenspielbüchern an, so findet man zwar inzwischen mehr Vielfalt der abgebildeten Körper – auch was die Hautfarbe anbelangt –, aber immer noch sehr wenige Menschen mit sichtbaren Behinderungen. Falls das Thema überhaupt behandelt wird, gilt eine Behinderung eher als Nachteil denn als das, was es ist: ein Lebensumstand. Sara Thompson, selbst körperlich behindert, hat im August 2020 ein Regelwerk für einen Kampf-Rollstuhl in DnD veröffentlicht. Mit Erfolg: Mittlerweile wurden die Regeln in mehreren bekannten DnD-Streams verwendet und es gibt 3D-gedruckte Modelle. Trotzdem gab es auch hier Gegenwind: Es sei doch nicht realistisch, dass der Eingang eines Dungeons breit genug für einen Rollstuhl sei, lautete etwa ein Argument. „Es ist bemerkenswert, wie viel Ener- gie manche da reinstecken, denn mehr Inklusion nimmt doch niemanden etwas weg.“, sagt Rollenspiel- autorin Vogt dazu. „Viele Nerds sehen sich selbst als unterdrückte Gruppe, gerade mit Erfahrungen als Außenseiter aus der Jugend und sagen, sie wollten ja niemanden ausschließen.“ Es sei jedoch ein Unterschied, das bloß zu sagen oder aktiv darüber nachzudenken, wie man Dinge ändern kann, damit alle willkommen seien. „Inklusion heißt, allen gleichberechtigt einen Platz am Tisch zu schaffen“, so Vogt.
Neben der Repräsentation behinderter Menschen in den Rollenspielen selbst stellt sich auch die Frage, wie sie am Spieltisch möglichst barrierefrei agieren können. In „Roll Inclusive“ gibt es dazu einen Beitrag, der beschreibt, wie man mit kommunikativen, visuellen und Mobilitätsbarrieren sowie Einschränkungen aufgrund chronischer Krankheiten umgehen kann, um die eigene Runde inklusiver zu gestalten. Dazu gehört jedoch nicht nur, auf körperliche Einschränkungen einzugehen, sondern ein möglichst sicheres Umfeld zum Spielen zu schaffen.
Sicheres Spielen macht mehr Spaß
Auch wenn Rollenspiele meistens in Fantasiewelten angesiedelt sind, können die besprochenen Inhalte unangenehm oder gar gefährlich für die Spieler*innen sein – gerade, weil sich viele stark mit ihren Charakteren identifizieren. Während manche Spieler*innen detaillierte, blutrünstige Beschreibungen eines Kampfes genießen, kann so etwas für andere, die in ihrem Leben traumatische Erlebnisse durchstehen mussten, bedeuten, dass sie diese seelischen Verletzungen erneut sehr real erleben. Damit sich am Spieltisch alle wohl fühlen können, wurden deshalb verschiedene Werkzeuge entwickelt. Ein bekanntes Beispiel ist die X-Card von John Stavropoulos: Eine Karte mit einem X, die angetippt oder hochgehalten werden kann, wenn eine bestimmte Thematik einem zu sehr an die Nieren geht. Das gilt nicht nur für Menschen mit Traumata, sondern das können auch unpassende Inhalte oder „Kleinigkeiten“ wie Zigaretten sein – etwa weil ein*e Spieler*in mit dem Rauchen aufhören will.
Ähnlich funktioniert „Lines and Veils“ von Spieleautor Ron Edwards, wo Spieler*innen vor Spielbeginn angeben, welche Inhalte sie nicht (rote Linie) oder nur angedeutet (Schleier) im Spiel haben wollen. Beau Jágr Sheldon hat „Script Change“ entwickelt: Wie bei einem Videorekorder stehen den Spieler*innen verschiedene „Tasten“ zur Verfügung, mit denen sie das Spielgeschehen rück- oder vorspulen, pausieren oder die Zeitlupe aktivieren können. Ziel all dieser Werkzeuge ist es nicht, die Kreativität einzuschränken, sondern ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem das Spiel stattfinden kann. Mittlerweile finden sich in vielen Rollenspielen Beschreibungen zu diesen Safety Tools, oft auch an den Kontext des Spiels angepasst.
Mehr Inklusion und Safety Tools bedeuten indes nicht, dass Rollenspiele nur noch von einer heilen Welt handeln sollen. Vogt wehrt sich gegen den Vorwurf, durch diskriminierungsärmere Spiele ginge der Spaß verloren: „Wem macht das denn Spaß, wenn Diskriminierungen abgebildet werden?“, so die Spielentwicklerin. Konflikte gebe es ja trotzdem, seien es zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Aspekte betreffend. Eine Spielwelt werde nicht ärmer und einfallsloser, wenn es beispielsweise keinen Rassismus mehr in ihr gibt: „Das öffnet die Rollenspielszene aber für mehr Menschen, und das ist unser Ziel.“