ZDF-Mediathek: Becoming Charlie

Die Miniserie „Becoming Charlie“ ist eine der ersten deutschen Fernsehproduktionen über nicht-binäre Menschen. Trotz Klischees und Klassismus eine gelungene Premiere.

Charlie (Lea Drinda) fühlt sich weder als Mann noch als Frau und ist noch dazu von Geldsorgen geplagt. (© ZDF und Tatiana Vdovenko)

Charlie (Lea Drinda) muss gleich mehrere Brände löschen: Mutter Rowena (Bärbel Schwarz) versinkt im Kaufrausch und in Schulden; eine unglückliche Liebe sorgt für Konflikte im Freund*innenkreis und Charlie hadert mit der eigenen Identität. In der Miniserie „Becoming Charlie“, die seit Mai in der ZDF-Mediathek läuft, sucht die gleichnamige Hauptfigur zwischen Plattenbau und Studi-WG nach Stabilität und Antworten.

Zunächst tut es gut, dass die Serie von Lion H. Lau nicht in einem schicken Vorort spielt, sondern zwischen grauen Hochhaussiedlungen mitten im hessischen Offenbach. Charlie ist zwanzig, hat weder eine Ausbildung noch Zukunftspläne. Die Hauptfigur arbeitet für einen Lieferdienst, der sie ausbeutet, ihr engster Freund Niko (Danilo Kamperidis) ist Mechaniker und ihre Tante Fabia (Katja Bürkle) Hausmeisterin. Der Alltag der Figuren ist von harter, körperlicher Arbeit geprägt. Das nimmt besonders den Menschen den Wind aus den Segeln, die Debatten über Gender und Geschlechtsidentität als Luxusproblem einer Elite abtun. Charlie hat durchaus andere Sorgen, als die Verwendung von Pronomen – und doch ist die eigene Identität, die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung belastend. Ähnlich interessant ist Nikos Figur. Alles an ihm schreit nach Schlägertyp-Klischee: Er trägt Vollbart und meistens Sportkleidung, geht pumpen, schraubt an Autos herum und rauft mit seinen Freunden. Die Serienmacher*innen haben allerdings etwas anderes aus ihm gemacht, als einen harten Macho. Im Laufe der Serie stellt sich heraus, dass Niko und Charlie Gefühle teilen, die sie ihrem vorwiegend heterosexuellen Umfeld nicht anvertrauen können.

Zwischen Klassismus und Familienkonflikten

Bis dahin macht die Serie einiges richtig. Nur ist es dann ausgerechnet die Psychologiestudentin Ronja (Sira-Anna Faal), die Charlie über Gender aufklärt. Ronja, die angehende Akademikerin, die in polyamoren Beziehungen lebt und von einem Familienmitglied erzählt, dem sie regelmäßig die Brüste abbindet. Während Ronja sich herausnimmt, Charlie zu belehren, soll Charlie sich in ihre Beziehungsdramen nicht einmischen – denn das geht Ronja dann doch zu weit. Die Gegenüberstellung beider Figuren riecht nach Klassismus, also nach Diskriminierung oder Vorurteilen aufgrund der sozialen Herkunft.

In der Kritik von Jeja Klein auf queer.de heißt es außerdem: „Szenen und Ereignisse [wirken] unfreiwillig so, als hätte das Team hinter ‚Becoming Charlie‘ unbedingt noch Klischee X an Trope Z eines transgeschlechtlichen, nichtbinären Werdegangs aneinanderreihen müssen.“ Der Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. Vor allem die Reaktionen auf Charlies Aussage, weder Frau noch Mann zu sein, sind größtenteils vorhersehbar: Rowena bangt nach einer Internetrecherche über trans Personen um Charlies Brüste, wohingegen Charlies lesbische Tante Fabia ihre Unterstützung anbietet, auch wenn sie betont, sich nicht mit dem Thema auszukennen. Natürlich kommt es irgendwann auch zu einer Situation, in der Charlie sich für eine Toilettenkabine mit Röckchen oder Hose entscheiden muss und daran scheitert.

Das ist für ein Publikum, das sich bereits mit Nicht-Binarität, trans und anderen nicht heteronormativen Identitäten beschäftigt hat, banal und wirkt forciert erklärend. Zum Einstieg in die Thematik ist „Becoming Charlie“ aber empfehlenswert. Davon abgesehen hat die Serie mehr zu bieten, als ihre queere Komponente. Die schauspielerischen Leistungen sind gut, besonders die Hauptdarstellerin Lea Drinda zieht einen in ihren Bann. Auch die inhaltliche Vielseitigkeit, verteilt auf nur sechs kurze Folgen, ist beeindruckend. Neben Charlies Identitätsfragen stellen sich auch jene nach dem Umgang von erwachsenen Kindern mit Elternteilen, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Wer übernimmt Verantwortung für wen? Und wann gilt es, als Kind klare Grenzen zu ziehen? Gleichzeitig ermöglicht die Serie ein Nachdenken über Gewalt. Die reicht in „Becoming Charlie“ von körperlicher bis hin zu struktureller, gesellschaftlicher Gewalt. In einer Szene fühlt Charlie sich beispielsweise provoziert, als ein bulliger cis-Mann Charlie versichert, er schlage keine Mädchen. Die Situation eskaliert: Charlie greift den Mann an, er schlägt zu. Ein möglicher Gedankengang hierzu wäre: Ist der Gewaltakt gegen Charlie in dem Zusammenhang eine brutale Weise der Affirmation?

„Becoming Charlie“ wird vermutlich keine Fernsehgeschichte schreiben. Dafür fehlt es dem Drehbuch an Feinschliff. Vielleicht sind die einzelnen Patzer dem straffen Zeitprogramm geschuldet, in dem die Serie produziert wurde: Drehstart war im Januar 2022, Erstausstrahlung im Netz im Mai. Verglichen mit anderen Produktionen von öffentlich-rechtlichen Sendern über queeres Leben, wie etwa „All You Need“ der ARD – eine mittelmäßige Serie über eine Gruppe schwuler Freunde in Berlin –, ist der Ansatz von „Becoming Charlie“ jedoch vielversprechend und am Ende hofft man dann doch auf eine zweite Staffel.

ZDF-Mediathek.

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