Die Bücher des jüngst verstorbenen Schriftstellers Paul Auster sind häufig von biografischen Erlebnissen des Autors geprägt, sein Leben und Schaffen waren eng miteinander verwoben. Noch prägnanter ist aber der magische Sog seiner Geschichten, dem sich seine Leser kaum entziehen können. Der Roman „Baumgartner“ liest sich wie ein Vermächtnis.
Am Anfang war der Zufall. Der Schriftsteller Daniel Quinn erhält einen Anruf, wird versehentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gehalten und beauftragt, jemanden zu observieren. Mit dieser (angeblichen) Verwechslung beginnt „Stadt aus Glas“, die erste Geschichte aus Paul Austers „New-York-Trilogie“, 1987 auf Deutsch erschienen, zu der noch „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ gehören. Und auch die Erfolgsstory des Autors selbst nimmt damit ihren Anfang.
Der Zufall spielt in den Romanen des 1947 in Newark im US-Bundesstaat New Jersey geborenen Schriftstellers immer wieder eine Rolle. Einmal erzählt er, wie er als Teenager erlebte, dass ein Freund neben ihm von einem Blitz erschlagen wurde. Damals sei ihm bewusst geworden, so Auster, dass er sein Leben einem Zufall verdanke. Auch die Figuren in seinen Büchern sind oftmals von zufälligen Wendungen des Schicksals betroffen. Das Zufällig-Schicksalhafte und dessen symbolhafte Aufladung zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk.
Ein Roman von Auster heißt auf Deutsch – nicht zufällig – „Die Musik des Zufalls“ („The Music of Chance“; 1990. Er handelt von einem Mann, der unerwartet viel Geld erbt, es aber wieder verspielt und, um seine Schulden abzubezahlen, eine endlos lang erscheinende Mauer bauen muss. In dem rund ein Vierteljahrhundert später entstandenen Monumentalwerk „4321“ (2017) stirbt der Protagonist Archibald Ferguson in einer Version seines in verschiedenen Varianten dargestellten Lebens in Folge eines Blitzschlags, in einer anderen bei einem Verkehrsunfall. In dem autobiografischen „Das rote Notizbuch“ (1995) schreibt Auster über „wahre Geschichten“, die er gesammelt hat und in denen der Zufall Regie führte.
Austers Figuren sind zudem häufig Außenseiter. Oft sind sie einsam. Manche sind Privatdetektive, wie jener, der seinen Namen trägt in „Stadt aus Glas“, oder Schriftsteller, wie Daniel Quinn in derselben Geschichte, oder ein gewisser Fanshawe in „Hinter verschlossenen Türen“. Häufig geht es um den Prozess des Schreibens. Auch in „Baumgartner“, dem im vergangenen Jahr (auch auf Deutsch) erschienenen Buch, das entstand, als Auster bereits an Krebs erkrankt war.
Darin ist Seymour Tecumseh Baumgartner, auch Sy genannt, ein emeritierter Philosophie-Professor der Phänomenologie, gerade dabei, eine Monografie über den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, dem Autor von „Die Krankheit zum Tode“ (1849), zu verfassen. Zu Beginn des Romans schreibt er am dritten Kapitel des Buchs, als ein beißender Geruch aus der Küche kommt. Er hatte vergessen, den Topf mit den kochenden Eiern vom Gasherd zu nehmen und versengt sich die Hand.
Damit setzt die Handlung um den 70-jährigen Witwer ein, der den Tod seiner geliebten Ehefrau mit dem Namen Anna Blume – eine Anspielung auf Kurt Schwitters‘ berühmtes Gedicht – betrauert. Die zehn Jahre zuvor bei einem Badeunfall Verstorbene war sowohl Prosa- als auch Lyrikautorin, Essayistin und Übersetzerin. Seit Anna tot ist, fühlt sich Baumgartner hilflos und unsicher. Er stürzt auf der Kellertreppe, weil er sich mit der verbrannten Hand nicht abstützen kann und den Halt verliert. An diesem Morgen scheint wirklich alles schiefzugehen; auch die kleine Tochter des Gärtners ruft an und sagt, ihr Vater habe sich versehentlich zwei Finger abgesägt.
Darüber hinaus geschieht wenig in der erzählten Zeit. Das Haus des Professors ist leer. Baumgartner hat einiges geändert, aber Annas Arbeitszimmer so belassen, wie es war. Er lernt zwar eine Frau namens Judith Feuer kennen, doch die neue Beziehung scheitert. Zu sehr vermisst er seine geliebte Anna. Er kann ohne sie kaum leben: „Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.“ Er beginnt, ihren literarischen Nachlass zu sichten. Was nach einem traurigen Roman klingt, ist aber durchaus humorvoll kontrastiert.
Zugleich geht Auster in seinem letzten Roman auf Spurensuche in seinem eigenen Werk. Das Buch wirkt, so kurz nach dem Tod des Schriftstellers gelesen, wie ein Abschied – von seiner Frau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, von seinen Lesern, vom Leben selbst. Und wie eine Vorahnung.
Viele Motive, die man seit der „New York Trilogie“ kennt, kehren in „Baumgartner“ wieder. Es gibt auch Parallelen zu Austers eigener Biografie, der die meiste Zeit, außer seiner Kindheit und Jugend sowie jener Jahre, die er in Paris verbrachte, in Brooklyn gelebt hat,. Es ist ein Buch über die Trauer und einmal mehr über die Liebe zum Schreiben. Auster gewährt Einblick in die Bedingungen des künstlerischen Schaffensprozesses, „in diesem unsicheren Gelände zwischen Selbstvertrauen und Selbstverachtung“, bewährt ins Deutsche übertragen von Werner Schmitz, Auster-Übersetzer seit „Im Land der letzten Dinge“ (1987).
Viele von Austers Figuren forschen nach ihrer Herkunft und sind auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens.
Austers Leben war durch einige Schicksalsschläge geprägt. Er erlebte sowohl den Tod seines Sohnes wie auch seiner Enkeltochter. Schicksalsschläge gab es für ihn sogar, ehe er zur Welt kam. Seine Großmutter hatte ihren Ex-Mann, Austers Großvater, in geistiger Umnachtung erschossen. Davon erfuhr Auster erst viel später – durch Zufall, wie hätte es anders sein können, wenn schon das Leben eine Komposition aus zufälligen Ereignissen ist. Dass er überhaupt Schriftsteller wurde, war dagegen weniger der Zufälligkeit der menschlichen Existenz zu verdanken. Das Schreiben war für ihn nicht ein Akt des freien Willens, sondern des Überlebens.
Es gibt aber auch Auster als jenen amerikanischen Linken, Nachkomme polnisch-ukrainischer Juden, der an der Columbia Universität von New York studiert hatte und der später seine Stimme gegen Donald Trump erhob, den er nie namentlich nannte, sondern nur als „Nr. 45“ bezeichnete, weil er der 45. Präsident der Vereinigten Staaten war. Auster war nicht nur Mitbegründer der Initiative „Writers against Trump“, sondern setzte sich in seinem literarischen Werk intensiv mit der amerikanischen Geschichte auseinander, die nach seinen Worten auf zwei Verbrechen fußte: Auf der Sklaverei und dem Völkermord an der indigenen Bevölkerung der USA.
In seinen Büchern geht es auch um die Rassenunruhen und um den Vietnamkrieg. Zwar hielt sich Auster etwa nach 9/11 mit politischen Äußerungen eher zurück, aber seine Bücher sind untrennbar mit der US-Geschichte verbunden. In „Die Brooklyn-Revue“ (2005) kehrt der Protagonist Nathan Glass nach einer überstandenen Lungenkrebserkrankung nach Brooklyn zurück, wo er aufgewachsen ist. Am Ende wird er nach einem Zusammenbruch in ein Krankenhaus gebracht. Die Ärzte stellen eine Entzündung der Speiseröhre fest. Er wird am 11. September 2001 wieder aus der Klinik entlassen – eine Stunde, bevor das erste Flugzeug in einen der Türme des World Trade Centers rast.