DADAISTISCHES ENSEMBLE: „Volle künstlerische Freiheit“

Im September nahm das neu gegründete Atelier Protégé de l’Art Visuel et de la Scène der Ligue HMC „Collectif DADOFONIC“ seine Arbeit auf. Wichtigster Grundsatz des vierzehnköpfigen Künstlerensembles: den Fähigkeiten jedes Einzelnen gerecht zu werden.

Zwischen virtuosem Tanz und Akrobatik. Probe mit bunten Fahnen.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Diesen Zauber zu halten oder zumindest den Anspruch, seinem Job mit Begeisterung nachzugehen und diesen Enthusiasmus aufrechtzuerhalten ist die Kunst ? auch für die DarstellerInnnen des gerade gegründeten „Collectif DADOFONIC“. Ihr Job ist es, Theater zu spielen und magische Momente zu schaffen. Am Beginn stand die Idee von der Gründung einer inklusiven Darsteller-Gruppe. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Dagmar Weitze und der Zirkus- und Theaterpädagoge Claude Englebert werden von der Ligue HMC eigens dafür eingestellt, das Projektkonzept auszuarbeiten und stellen die Theatergruppe nach und nach zusammen. Die beiden haben die Freiheit, das Projekt ganz nach ihren Ideen zu gestalten, vom ersten Moment an werden sie bei ihrer Arbeit von der Ligue HMC unterstützt. Finanziell wird das Atelier Protégé vom Arbeitsministerium getragen.

Anfang September begeben sich die beiden, den Kopf voll mit Einfällen, auf Studienreise nach Hamburg und Berlin. Erklärte Ziele: der Besuch von inklusiven Projekten und der Aufbau eines Netzwerkes. In Hamburg knüpfen sie Kontakte zur Theatergruppe „Meine Damen und Herren“, und besuchen in Berlin die Künstlerwerkstatt „Schlumper“. Daneben sind auch das „Thikwa Theater Kreuzberg“, die Shows von „Rambazamba“ und „Circus Sonnenstich“ in der Kulturbrauerei inspirierende Reise-Stationen, die wieder zu neuen Ideen anregen. Es folgen Besuche von Straßentheaterfestivals in der Region, zum Beispiel denen von Malbrouck und Chassepierre. Dann beginnt die Suche nach den TeilnehmerInnen. „Wir haben die DarstellerInnen schon danach ausgewählt, wer geeignet für die Bühne ist. Die Leute, sollten, wenn sie auf der Bühne stehen, ausstrahlen, dass sie etwas Besonderes machen“, erläutert Dagmar. „Wir haben das die Test-Turn-Aura genannt“, erklärt Claude. Denn eine gewisse Passion fürs Theater hätten die Bewerber schon erkennen lassen müssen, und sei es nur „ein Funkeln in den Augen“.

Zeitgleich mit der Auswahl der Teilnehmer, dem Testturnen, beginnt auch die Suche nach passenden Räumlichkeiten und einem Logo. Das Konzept des Projekts nimmt nach und nach in den Köpfen von Dagmar und Claude Gestalt an und wird von Tag zu Tag konkreter. Pedro ist der erste Gruppenteilnehmer. Er kommt schon Anfang September zum Collectif DADOFONIC und begleitet die beiden Betreuer bei ihren Planungen. Sie fahren zum Herbst-Ausverkauf des Fundus ins Kapuzinertheater und wählen eine Reihe von Kostümen aus dem Bestand aus.

Bei Lélita ist beiden Betreuern nach ihrer Vorstellung klar, dass sie in die Gruppe passen wird. Allerdings dauert es noch etwas, denn der Arbeitgeber des Restaurants, in dem Lélita neun Monate in der Küche gearbeitet hat, muss sie erst freistellen. Sprühend vor Enthusiasmus begibt sich das Mädchen mit dem widerspenstigen Lockenkopf nun in den Proberaum: „Seit ich beim Collectif DADOFONIC bin, spüre ich mich besser“, sagt sie und beginnt langsam damit, sich aufzuwärmen. Kurz davor hat die Gruppe im Kreis gesessen, sich angeregt über Erfahrungen und Erlebnisse am Wochenende ausgetauscht. Eine Teilnehmerin hat begeistert von dem Besuch einer Darbietung erzählt und eine Broschüre über Trapezkünstler herumgereicht.

„Die Leute sollten, wenn sie auf der Bühne stehen, ausstrahlen, dass sie etwas Besonderes machen.“

Als Dagmar und Claude die Immobilie in Helfenterbrück besichtigen, zögern sie nicht lange. Der Ort mit seinen großen Räumen scheint wie geschaffen für das Theaterkollektiv. Mit seinen spitzen Zwiebeltürmen, dem weiten Hof voll Laub und den weitläufigen Räumen gleicht das unmittelbar hinter der Autobahnbrücke gelegene Haus einem verwunschenen Schloss aus Grimms Märchen. 330 Quadratmeter und 13 Räume – jede Menge Platz für ihre Proben hat die Theatergruppe hier im Gebäude des einstigen Studios von Frank Elstner. Es gibt einen großen Raum, in dem man sich intensiv bewegen kann, einen kleinen Mal- und Zeichenraum, in dem jeder sein eigenes kreatives Künstler-Tagebuch aufbewahrt. Nachmittags ermutigt Dagmar die DarstellerInnen, die Eindrücke und Erlebnisse vom Morgen bildnerisch umzusetzen. Das Erkunden der Identität eines jeden steht im Mittelpunkt, Schwächen werden aufgedeckt und Stärken der eigenen Persönlichkeit benannt, um auf dieser Basis ein auf den Einzelnen abgestimmtes Programm zu entwickeln und schließlich eine individuelle Choreographie zu erarbeiten.

Jeden Morgen bringt ein Sammelbus die TeilnehmerInnen von Capellen nach Helfenterbrück. Auch das Mittagessen wird täglich durch die Ligue HMC aus Capellen angeliefert. In der Küche hängt ein Plan, auf dem die wechselnden Zuständigkeiten wie das Auf- und Abräumen der Tische eingetragen sind. Unter Anleitung von Dagmar und Claude beginnen die TeilnehmerInnen den Tag mit lockerem Aufwärmen: Gleichgewichts- und Koordinationsübungen, Klatschen, Simulieren emotionaler Zustände – Trauer, Wut, Heiterkeit. Es wird geübt, durch den Raum zu laufen und abrupt in der Bewegung innezuhalten, förmlich zu erstarren. Oder eine Person mit Blicken durch den Raum zu verfolgen und sie zu bedrängen. Oder auch: tragisch zusammenzubrechen. „Was in den ersten Wochen auffiel, war, dass jeden Tag etwas dazu gelernt wurde. Das waren ganz kleine Dinge, wie die Schulter hochzuziehen und den Kopf zur Seite zu neigen. Das schien bei manchen am Anfang unmöglich, klappte aber bei anderen von heute auf morgen“, erzählt Claude. „Natürlich gibt es auch Dinge, die die Gruppe nie können wird, räumt der Theaterpädagoge ein, Sprechtheater beispielsweise ? daran brauchen wir gar nicht zu denken. Denn in der Gruppe herrscht das totale Sprachen-Chaos.“ Straßentheater hingegen sei im Grunde perfekt, auch weil jeder Zuschauer etwas anderes sieht.

Darsteller Filis läuft plötzlich weg von der Gruppe und vergräbt sein Gesicht in einer an der Wand lehnenden Matte. Nachdem er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen hat, dreht er sich lachend wieder zur Gruppe um – es war nur ein Scherz. Mischt man sich unter die DarstellerInnen und turnt mit, spürt man die Gruppendynamik, das Interesse und das Vertrauen, das die TheaterschülerInnen auf- und ihren Lehrern entgegenbringen.

„Wenn ein kreativer Moment da ist, dann wird das kanalisiert, und daraus entstehen unsere eigenen Regeln.“

Gegen elf Uhr geht es nach einer kurzen Kaffeepause weiter. Tags zuvor war mit bunten Fahnen im Park geprobt worden. Nun breitet Dagmar eine Farb-Palette auf dem Boden aus, und die TeilnehmerInnen wählen ihre Lieblingsfarbe, entscheiden, welche Farben am besten zu ihnen passen: Königsblau, Bordeaux, Karminrot oder Giftgrün. Danach geht es wieder an die Arbeit. Mit scharrenden Geräuschen bewegen die Gruppenmitglieder die bunten Fahnen über den Boden und bemalen die Wände fiktiv, indem sie mit langsamen Bewegungen auf ihnen herumstreichen. Claude schlägt verschiedene Bewegungen vor, verzieht spielerisch das Gesicht, schneidet Grimassen, und klopft den Boden mit der Fahne ab. Zuweilen entsteht aus der Gruppe heraus ein kleiner Stocktanz. Genau dies ist der Sinn, gemäß dem dadaistischen Prinzip wird durch scheinbar unsinniges Spiel der Kreativität und Phantasie eines jeden Gruppendarstellers Raum gelassen. Beim künstlerischen Schaffen des Collectif DADOFONIC gibt es weder feste Regeln noch eine vorgeschriebene Ideologie ? das Spiel wird ganz dem Zufall überlassen. „Wenn ein kreativer Moment da ist, dann wird das kanalisiert, und daraus entstehen unsere eigenen Regeln“, erklärt Claude. Dies entspricht dem Selbstverständnis des Theater-Kollektivs. Durch die der Gruppe eigene Dynamik, entsteht so nach und nach eine Struktur, die Raum für die Unterschiede und Stärken der teilnehmenden Darsteller gibt; es entsteht ein facettenreiches Mosaik. Darstellende Kunst wird damit zur gemeinsamen Sprache, durch die die Verschiedenheit der Gruppenmitglieder ausgedrückt wird.

„Das ist jetzt unser Beruf – wir verschenken schöne Momente.“

So geht es in der Anfangsphase des Collectif DADOFONIC vor allem darum, die Bedürfnisse, Vorlieben und Grenzen der KünstlerInnen auszuloten. Kleine Vorführungen wie Straßentheater oder eine Wanderausstellung werden vorbereitet. Einen ersten Publikumskontakt hat es schon beim Proben im Park gegeben: Ein Kind wurde beim Spielen auf die bunten Fahnen aufmerksam und lief begeistert auf die Gruppe zu. Die DarstellerInnen konnten die Erfahrung machen, dass sie mit den Fahnen und ihrer Darbietung Aufsehen erregen und die Zuschauer begeistern. „Das ist jetzt unser Beruf“, meint Claude gegenüber der Gruppe, „wir verschenken schöne Momente.“ Im Mai 2011 ist ein erster großer Bühnenauftritt im neuen Kulturhaus „Kinneksbond“ in Mamer geplant. Zudem ist vorgesehen, für einzelne Produktionen externe Schauspieler, Musiker, Regisseure und Choreographen zu engagieren. Der erste Auftritt steht bereits vor der Tür: Am kommenden Sonntag, den 31. Oktober 2010 vor dem „Kinneksbond“ hat das Collectif DADOFONIC seine Feuerprobe zu bestehen. Dann werden sich die Darsteller unter das Publikum mischen und magische Momente schaffen. Ein wenig Unruhe und Aufregung hat sich in der Gruppe bereits breit gemacht, schließlich ist es die erste Aufführung des dadaistischen Künstlerkollektivs. Wird es ihnen gelingen, den Zauber zu halten?

 

Das Collectif DADOFONIC ist ein Projekt der Ligue HMC s.c. und wurde im September als Atelier Protégé de l’Art Visuel et de la Scène gegründet. Das Künstlerensemble arbeitet in verschiedenen Ausdrucksbereichen wie Schauspiel, Tanz, Jonglerie, Akrobatik, Clownerie rund um die Bühne. Das Collectif DADOFONIC begreift künstlerisches Schaffen als Mittel, das der individuellen Entwicklung Rechnung trägt. 
Collectif DADOFONIC – Ligue HMC
295, rte de Luxembourg; L-8077 Bertrange;
E-Mail: dadofonic@ligue-hmc.lu


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