GEHÖRLOS: „Raus aus der Isolation“

Zu wenig Verständigung findet nach wie vor zwischen Hörenden und Gehörlosen statt. Die Anerkennung der Gebärdensprache sowie ein Gehörlosenzentrum in Luxemburg-Stadt, wären ein Anfang

woxx: In einer Umfrage von Daaflux gaben 67 Prozent der Gehörgeschädigten an, oft Verständigungsprobleme im öffentlichen Leben zu haben, wo sehr viel französisch gesprochen wird. Denn im „Centre de logopédie“, wo die Gehörlosen in die Vor- und Grundschule gehen, wurde lange keine Gebärdensprache, sondern fast ausschließlich die deutsche Sprache gelehrt – das in einem Land, in dem Französisch die Amtssprache ist. Was fordern die Gehörlosen von Daaflux?

Nicole Sibenaler: Wichtig wäre ein bilinguales Sprachsystem, in dem sowohl die Lautsprache als auch die Gebärdensprache vermittelt werden. Es gibt bereits einige Verbesserungen im Schulsystem – auch aufgrund einer neuen Lehrergeneration, die offener ist und über neue Erkenntnisse verfügt. Die Umstellung braucht natürlich Zeit. So wird im Deutsch- oder Englischunterricht nicht gebärdet, sondern man lernt die deutsche Sprache. Erst wenn jemand etwas nicht versteht, dann werden unterstützend Gebärden benutzt. Es ist also keine reine Gebärdensprache. Gesetzlich ist es so geregelt, dass der Unterricht vor allem in deutscher Sprache stattfindet. Jedoch wäre es sinnvoll, wenn die Kinder künftig auch nach Möglichkeit andere Sprachen, eventuell Englisch, lernen könnten.

Gehörlose scheinen bisher vor allem ins „Lycée technique“ gelenkt worden zu sein. Wo liegen die Schwierigkeiten für Gehörlose, wenn sie Abitur machen und studieren wollen?

Nicole Sibenaler: Ich selbst habe Abitur gemacht. Früher war es viel schwieriger, da mussten die Eltern diesen Ausbildungsweg für ihre Kinder erst erkämpfen. Die Möglichkeiten zu studieren waren viel beschränkter. Man ging davon aus, dass ein Gehörloser sich eine Arbeit suchen sollte, und glaubte nicht daran, dass er das Abitur schaffen könnte. Heute sind Studium und Ausbildung möglich – jedoch muss man dazu nach Deutschland gehen. In Luxemburg gibt es leider nur das Lycée technique für Gehörlose.

Fabio Giusti: Früher wurde im Schulsystem mehr Wert auf die orale Sprecherziehung gelegt, es ging darum, dass die Gehörlosen sprechen lernen sollten, die Bildung blieb dabei auf der Strecke. Damals hatten sie nur geringe berufliche Wahlmöglichkeiten, dementsprechend fehlte auch die dazugehörende Ausbildung. Jetzt wird den Gehörlosen mehr Bildung angeboten, somit können sie auch andere schulische Wege einschlagen und andere Berufe wählen. Zur technischen Berufsausbildung gehen viele in Luxemburg in eine normale Schule für Hörende. Ohne Dolmetscher scheitert die Ausbildung am Kommunikationsproblem! Deshalb ist es teilweise besser, in Deutschland zur Schule zu gehen.

Marc Walerich: Heute gestaltet sich die Berufswahl freier, die Gehörlosen können sich nach ihren Fähigkeiten orientieren. Früher haben oft die Lehrer entschieden, welchen Beruf man ergreifen sollte, auch wenn viele Betroffene eigentlich gerne etwas anderes gemacht hätten.

Nicole Sibenaler: Schwierig ist auch, dass die Schulen nicht genug informieren. Oft werden die Eltern alleine gelassen und müssen selbst herausfinden, welche Ausbildungsangebote es für ihre gehörlosen Kinder gibt. Teilweise haben die Eltern untereinander Kontakt und können sich gegenseitig helfen.

Die Internetseite des „Centre de logopédie“ ist ausschließlich auf Französisch – obwohl fast alle Gehörlosen die deutsche Sprache lernen. Auch ist auf der Seite kein Link zu Daaflux zu finden. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit von Daaflux mit dem Centre?

Nicole Sibenaler: Wir hatten mit dem Direktor der Schule korrespondiert und gefragt, warum die Internetseite auf Französisch verfasst ist. Uns wurde versprochen, dass bald ein neuer Internetauftritt kommen soll. Seit kurzem hat das Centre nun einen neuen Schuldirektor, so dass die Umstellung wohl noch Zeit braucht.

Welchen Schwierigkeiten begegnen Gehörlose bei der Arbeitssuche oder auf dem Arbeitsmarkt?

Fabio Giusti: Allein ist es unmöglich, Arbeit zu suchen. Man ist auf eine Sozialarbeiterin angewiesen, die einen unterstützt, Telefonate erledigt, Bewerbungen versenden hilft. Die Sozialarbeiterin klärt den Arbeitgeber auch darüber auf, was es bedeutet, gehörlos zu sein.

Nicole Sibenaler: Früher gab es kaum Hilfen, es gab nur einen Sozialdienst beim „Centre de logopédie“. Mittlerweile ist der Dachverband „Solidarität mit Hörgeschädigten“, der seit vier Jahren in Düdelingen besteht, eine wichtige Anlauf- und Beratungsstelle bei der Arbeitssuche. Diese externe Anlaufstelle bietet nicht nur soziale Beratung an, sondern stellt auch Dolmetscher. Zum Dachverband gehören Vereinigungen wie die „Lëtzebuerger Associatioun vun de Cochlear Implantéierten“, die „Vereinigung der Gehörlosen und Schwerhörigen“ sowie Daaflux. Zusammen versuchen wir, Lösungsmöglichkeiten für die Probleme von hörgeschädigten Menschen zu finden und ihnen bessere Zukunftsperspektiven zu ermöglichen.

Es gibt nicht nur eine internationale Gebärdensprache, sondern jedes Land hat auch seine eigene Gebärdensprache. In Luxemburg wird die deutsche Gebärdensprache benutzt. Schon vor zwanzig Jahren forderte das europäische Parlament die Anerkennung nationaler Zeichensprachen als zusätzliche Landessprache in den einzelnen EU-Staaten. Luxemburg hat die Gebärdensprache noch immer nicht anerkannt. Welche Möglichkeiten versprechen Sie sich von einer offiziellen Anerkennung der Gebärdensprache?

Nicole Sibenaler: Wir erwarten uns davon, dass im Bereich Bildung und Arbeitsleben die Gebärdensprache mehr respektiert wird und sich in der Öffentlichkeit eine andere Wahrnehmung entwickelt. Wenn die Leute uns sehen und hören, glauben viele, wir kämen aus dem Ausland. Aber wir sind Luxemburger, obwohl wir die deutsche Gebärdensprache benutzen. Es wäre wünschenswert, dass es schon im Schulbereich eine entsprechende Aufklärung gibt, indem etwa, wenn im Biologieunterricht über Nase, Mund und Ohren gesprochen wird, auch Gehörlosigkeit thematisiert wird. Viele glauben, Gehörlose seien behindert. Das sind wir nicht. Wir verstehen uns als Kommunikationsminderheit, und wenn wir in der Öffentlichkeit auftreten und die andern uns nicht verstehen, könnte man genau so gut sagen, die Hörenden haben das Problem: Sie können nicht gebärden und verstehen uns nicht. 

Rund 80 Prozent der Gehörlosen fordern in einer von Daaflux gemachten Umfrage einen Gebärdesprachdolmetscher. Gerade beim Gang zu Behörden, Polizei und Gericht ist dieser unabdingbar. Post von Banken oder Versicherungen ist aufgrund des abstrakten Wortschatzes alleine oft schwer zu verstehen. Wie sieht hier die Situation aus?

Fabio Giusti: Es gibt einen Dolmetscher in Luxemburg, der per Fax bei „Solidarität mit Hörgeschädigten“ bestellt werden kann. Jedoch ist er nur für einige Bereiche kostenlos. Wenn man den Dolmetscher selber bezahlen muss, dann ist es nicht immer so einfach. In den USA gibt es dagegen eine Dolmetscherzentrale und der Staat übernimmt die Kosten.

Nicole Sibenaler: Günstig wäre, wenn die verschiedenen Institutionen jeweils die anfallenden Kosten für den Dolmetscher übernehmen würden. Etwa beim Arzt- oder Krankenhausbesuch die Krankenkasse, in der Schule das Bildungsministerium und bei der Polizei das Justizministerium. Wir haben jeden Tag viele Barrieren zu überwinden. Mit einem Dolmetscher könnte man auch im kulturellen Bereich mehr unternehmen. Etwa, dass man sich gemeinsam mit Hörenden ein Theaterstück anschaut und ein Dolmetscher uns das Stück übersetzt. Wenn wir heute kulturelle Veranstaltungen wahrnehmen wollen, dann müssen wir nach Berlin oder Hamburg fahren.

Fabio Giusti: Die Politiker haben kein klares Verständnis davon, was wir eigentlich benötigen. Vor kurzem wurde in Luxemburg im Testverfahren ein Relais-Dienst über den MSN-Messenger ausprobiert: eine Art Chat-Room. Man formuliert sein Anliegen schriftlich, die angegliederte Zentrale tätigt dann den Anruf. Ich war sehr zufrieden mit diesem Novum. Jedoch kann nicht jeder Gehörlose dieses schriftliche Kommunikationsmittel benutzen. Manchmal ist ein Bildtelefon oder ein richtiger Dolmetscher einfacher.

Daaflux fordert ein Gehörlosenzentrum in Luxemburg-Stadt. Worum geht es dabei?

Marc Walerich: Das Gehörlosenzentrum wäre wichtig, damit alle sich zusammen an einem Ort einfinden könnten, um sich auszutauschen, eventuell Unterstützung und Hilfe durch hier tätige Sozialarbeiter, Logopäden oder Dolmetscher zu erhalten. Bisher sind alle Vereine über das Land verteilt. In einem Gehörlosenzentrum könnten wir darüber hinaus Informationsveranstaltungen oder Kommunikationsforen organisieren. Es sollte sich in Luxemburg-Stadt befinden, damit es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen ist. Denn gerade ältere Gehörlose haben oft keinen Führerschein.

Nicole Sibenaler: Wir waren in München im Gehörlosenzentrum. Da gibt es fest angestellte Dolmetscher, einer für die soziale Beratung, ein anderer für die Öffentlichkeitsarbeit, und wieder einer für die Projektleitung. Die Vorstellung, über ein solches Haus zu verfügen und nicht nur ehrenamtlich aktive, sondern fest angestellte Mitarbeiter zu haben – das könnte uns Gehörlose viel weiterbringen.

Marc Walerich: In München gab es auch eine Art News-Ticker: Gehörlose können Zeitungen oft schwer lesen. In München wurde das so gelöst, dass die ansässigen Dolmetscher eine Kurzinfo der aktuellen Tagesereignisse in Gebärdensprache abgefilmt und öffentlich ins Internet gestellt haben, eine Art Tagesschau in Gebärdensprache. Jedes kleine Land bietet Hilfen für Gehörlose – nur Luxemburg nicht. Ich glaube, in Deutschland gibt es ungefähr 50 Gehörlosenzentren. Sogar in Liechtenstein, wo nur acht Gehörlose leben, gibt es ein Zentrum.

Kürzlich wurde über Radio die Meldung verbreitet, dass wegen einer Panne im Wasserwerk kein Leitungswasser getrunken werden dürfe. Die Gehörlosen haben die Warnmeldungen nicht mitbekommen. Ist eine verbesserte Kommunikation bei Notfällen nötig?

Marc Walerich: Gut wäre schon, wenn man bei einem Krisenfall automatisch von der Feuerwehr oder der Polizei Bescheid bekäme würde. Die Notrufnummern 112 und 113 funktionieren jedoch mittlerweile: Wenn wir ein Problem haben, können wir das per SMS mitteilen.

Fabio Giusti: Diese Probleme mit dem Leitungswasser waren damals in Steinsel. Die Meldung ist eigentlich erst dank der SMS eines Gehörlosen zirkuliert, der das irgendwie mitbekommen hatte und die Info weitergegeben hat.

Nicole Sibenaler: Die Hörenden haben es gut. Sie können Radio hören und bekommen alles mit. Wir laufen uninformiert durch die Gegend und wenn wir dann mal nachfragen, wird uns gesagt: „Moment mal, wir müssen noch zuhören“. Letztlich werden wir dann nur mit Restinfos abgespeist. Wir sind immer abhängig davon, was andere an uns weitergeben.

Fabio Giusti: Unser Ziel ist es, dass unsere Probleme bekannt und Gehörlose stärker miteinbezogen werden. Es gibt ja auch die UN-Konvention zu den Rechten der Behinderten: Wenn Luxemburg diese endlich ratifiziert hat, dann muss das Ministerium unsere Rechte auch stärker beachten.

 

Daaflux
Daaflux a.s.b.l. ist ein Verein für Gehörlose und Schwerhörige in Luxemburg. Er wurde 2003 gegründet und umfasst rund 60 aktive Mitglieder. Zweck des Vereins ist die Förderung der Interessen hörbehinderter Menschen. Dazu zählt eine Verbesserung der Situation der Hörbehinderten im beruflichen und außerberuflichen Bereich. Daaflux engagiert sich auch im Sinne der Verständigung und des Verständnisses für die Lage der Hörbehinderten untereinander und mit Nichtbehinderten. Fabio Giusti ist von Beruf Buchbinder. Er war der erste Präsident von Daaflux. Seit 2004 hat Nicole Sibenaler den Vorsitz übernommen. Sie arbeitet als Chemielaborantin bei Ponts et Chaussées. Marc Walerich ist von Beruf Angestellter beim Institut Viti-Vinicole in Remich. Er ist beisitzendes Mitglied im Vorstand von Daaflux. Das Interview dolmetschte Carla Vogel.
Mehr Infos unter: www.daaflux.lu


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