Die Europäische Union
: In schlechter Verfassung


Für den Berliner Staatsrechtler Dieter Grimm resultiert die mangelnde Akzeptanz der EU aus der Abkoppelung von demokratischen Prozessen. Als Motor dieser Entwicklung sieht Grimm, der kommende Woche in Luxemburg gastiert, nicht zuletzt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

Seine Bedeutung für die mangelnde Akzeptanz der EU in der Bevölkerung wird nach Meinung des Rechtswissenschaftlers Dieter Grimm unterschätzt: der Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg. (Foto: EPA-EFE/Julien Warnand)

Den Entwurf für eine EU-Verfassung aus dem Jahr 2004 mag man rückblickend beurteilen, wie man will. Immerhin hatte er eine vergleichsweise breite öffentliche Debatte darüber ausgelöst, gemäß welchen Prämissen die Zukunft der Union gestaltet werden soll. Das galt insbesondere hierzulande: „Die LuxemburgerInnen erlebten eine der größten und kontroversesten politischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte“, resümierte die woxx im Juli 2005. Eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten von 56,5 Prozent hatte sich damals für die Verfassung ausgesprochen. In Kraft trat sie allerdings trotzdem nicht: In den Niederlanden und in Frankreich, wo es ebenfalls Referenden gab, sprach sich eine Mehrheit gegen das Vertragswerk aus.

Für den deutschen Staats- und Verfassungsrechtler Dieter Grimm ist das rückblickend wenig überraschend, sondern zeigt, „dass großen Teilen der Bevölkerung die Integration zu weit vorangeschritten war“. „Die Verfassung sah nach mehr Europa aus, während schon das bestehende vielen zu weit ging“, schreibt er in seinem Buch „Europa ja – aber welches?“, und resümiert: „Dort, wo die Annahme des Verfassungsvertrages von Referenden abhing, fiel er durch.“

Man wird es Grimm wohl nachsehen, dass er mit dieser Zusammenfassung das luxemburger Resultat (und auch das spanische) unter den Tisch fallen lässt, wenn er am Donnerstagabend kommender Woche auf Einladung von Universität und Parlament in der Chamber auf Englisch einen Vortrag mit dem Titel „Legitimationsdefizite und Legitimationsressourcen der Europäischen Union“ halten wird. Seine Grundthese nämlich dürfte durch den Lapsus kaum ins Wanken geraten: Um die Legitimation der EU ist es heute, nach Finanz-, Griechenland- und sogenannter Flüchtlingskrise, schlechter denn je bestellt.

Kontrakt oder Konstitution?

Skeptischer wird man womöglich beurteilen, worin der emeritierte Professor der Berliner Humboldt-Universität eine Hauptursache der Legitimationskrise erkennt: in der Praxis des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der auf Kirchberg beheimatet ist. Dieser ist laut Grimm maßgeblich dafür verantwortlich, dass staatliche Hoheitsrechte ohne demokratischen Segen auf die EU übertragen worden sind.

Die verschiedenen Verträge, die ausgehend von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl schließlich zur heutigen EU geführt haben, sind völkerrechtliche Konstrukte. Für deren Interpretation ist „der Wille der vertragschließenden Staaten maßgeblich“, so Grimm. Der EuGH jedoch habe mit diesem Prinzip gebrochen und die Verträge wie eine staatliche Verfassung ausgelegt. Sie wurden, um einmal den gängigen Fachbegriff zu verwenden, „konstitutionalisiert“.

Verfassungen legen üblicherweise allein die politischen Prämissen einer staatlich konstituierten Gesellschaft fest; die Politik selbst wird in Parlamenten gemacht. Sie sind es, die rechtliche Vorschriften und Gesetze formulieren und verabschieden. Die „konstitutionalisierten“ europäischen Verträge jedoch seien „voll von Regelungen, die im Staat auf der Ebene des einfachen Rechts geregelt wären“, so Grimm. Während Gesetze, die sich als problematisch erweisen, jedoch reformiert werden können, müssen EU-Vertragsänderungen von allen Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen und per Volks- oder Parlamentsentscheiden ratifiziert werden, was die Schwelle für deren Überarbeitung enorm hoch setzt.

Die politischen Instanzen der EU wiederum sind von jeder Einwirkung auf die Vertragsauslegung ausgeschlossen – diese unternimmt laut Grimm letztlich allein der EuGH. Dadurch komme dem Gericht eine eminent politische Bedeutung zu, jedoch „in einem unpolitischen Modus und daher außerhalb der demokratischen Prozesse“ und letztlich auch außerhalb der demokratischen Kontrolle.

Auswege und Irrwege

Daraus leitet der Verfassungsrechtler mehr oder weniger alle weiteren von ihm angesprochenen Demokratie- und Legitimationsdefizite ab. Die Konsequenzen sind teils wohl bekannt. So betont Grimm, der EuGH habe die Texte nicht nur als verpflichtend für die Mitgliedstaaten, sondern auch als subjektive Rechte für private Wirtschaftsakteure interpretiert. Letztere konnten daher beispielweise die Privatisierung öffentlicher Leistungen erzwingen, ohne dass das Gericht Rücksicht darauf genommen hätte, „ob der Markt gleichwertige Leistungen erbringen kann“. Mittelbar wirke sich diese liberalisierende Rechtsprechung wie in einer Kettenreaktion nachteilig auf die gesamten „verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Sozialstaatlichkeit aus“, so Grimm, mit dem Argument, dass „ein hohes Sozialstaatsniveau zum Wettbewerbsnachteil für die eigene Wirtschaft zu werden droht“.

Mit seiner Sicht ist Grimm keineswegs allein. „Stoppt den Europäischen Gerichtshof!“, hatte bereits 2008 der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog gefordert. Heute beziehen sich Konservative und Rechte nicht nur hinsichtlich der EU-Flüchtlingspolitik mit begeisterter Zustimmung darauf. Herzog fantasiere den „Untergang des Abendlandes“ herbei, hatte hingegen vor zehn Jahren der Jurist Thomas Groh gegen den „Kreuzzug“ des Politikers polemisiert.

Doch auch Wissenschaftler, die ihre Arbeit nicht weniger als Grimm mit einem Plädoyer für ein geeintes Europa verbinden, teilen dessen Sorge. So hat etwa der Rechtsphilosoph Johan van der Walt, Direktor des „Research Unit Law“ an der Uni Luxemburg, einige der problematischen Resultate der EuGH-Praxis in seinem Buch „The Horizontal Effect Revolution and the Question of Sovereignty“ materialreich und an konkreten Fällen belegt.

Mit Gegenwind wird Grimm bei seinem Besuch in Luxemburg dennoch rechnen müssen, nicht zuletzt, weil an der hiesigen Universität Experten für Europarecht zahlreich vertreten sind. Ihrer Zunft unterstellt der Staatsrechtler, diese habe sich zumindest in der Vergangenheit zu sehr mit dem eigenen Gegenstand identifiziert und Kritik vermieden, um das europäische Projekt nicht zu gefährden. Am Tag nach Grimms Vortrag werden dessen Thesen auf einem Seminar diskutiert. Der Luxemburger Europarecht-Professor Jörg Gerkrath kündigt bereits im Titel seines annoncierten Vortrags Widerspruch an: Er spricht von einem „Trugbild“, das der Gast aus Berlin vom EuGH und dessen angeblicher „hidden agenda“ zeichne.

Auch die möglichen Wege aus dem Dilemma, die Grimm skizziert, dürften nicht unumstritten sein. In seinem Buch plädiert er konsequenterweise für die „Repolitisierung“ jener Entscheidungen, die „beträchtliche politische Implikationen“ haben. Damit will er nicht etwa den Prozess der „Konstitutionalisierung“ rückgängig machen, sondern diesen vielmehr bewusst gestalten. Dadurch, so hofft er, würde der EuGH „seine durch die Konstitutionalisierung selbst herbeigeführte Unangreifbarkeit verlieren“, indem die politischen Institutionen der Europäischen Union Gesetze gegebenenfalls ändern können, während sich bislang die Auslegungspraxis des Gerichts unkontrolliert verselbständigt hat.

Ein weiterer Vorschlag Grimms, die „Europäisierung der Europawahlen und der politischen Parteien“, die bei den Wahlen zum Europaparlament antreten, wurde vergangene Woche vom Parlament selbst schon im Ansatz abgelehnt. Eine deutliche Mehrheit sprach sich gegen die Einführung länderübergreifender Wahllisten aus.

Gemeinschaft oder Gesellschaft?

Aller Befürwortung europäischer Integration zum Trotz argumentiert Grimm zugleich, es müsse klare „Grenzen der Vergemeinschaftung“ geben, auch weil die Bedingungen für eine „lebendige Demokratie“ in den Mitgliedstaaten erheblich günstiger seien als in der EU. Dies macht er unter anderem daran fest, dass jene auch auf „vorrechtliche Bindungskräfte“ zurückgreifen könnten, die der Union als föderalem Gebilde nicht zur Verfügung stehen.

Über die Natur dieser Bindungskräfte schweigt Grimm sich aus, und das führt zu einer problematischen Seite seiner lesenswerten Argumentation. Diese folgt einer an sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Vermittlung orientierten Souveränitätstheorie. Die gesellschaftliche Dynamik, die etwa mit Wirtschaftskrisen einhergeht, hat bei ihm hingegen keinen Platz. Deshalb muss er auch nicht darüber sprechen, dass die Bindungskräfte, von denen er schreibt, nicht zuletzt die Reaktion der Bevölkerung auf diese Dynamik repräsentieren.

Es handelt sich um Bindungskräfte, die aus der Hoffnung resultieren, der starke Staat böte Schutz, wo die ökonomischen Vorgänge sich in zerstörerischer Weise verselbständigt zu haben scheinen. Die Kehrseite dessen ist die Ablehnung von allem, was die sich so herausbildende Gemeinschaft vermeintlich zu gefährden droht, vom Flüchtling über den griechischen Rentner bis zum regulierungswütigen Funktionär der EU.

Wer sich aber wie Grimm über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der EU zugrunde liegen, ausschweigt und nur die unreflektierte Machtfülle des Europäischen Gerichtshofs thematisiert, dem droht womöglich nicht ganz zu Unrecht das Verdikt, er formuliere eine Verschwörungstheorie.

Dieter Grimm: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. Verlag C.H. Beck, 288 Seiten.

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