Nachtzug nach Lissabon (4)

Musik, Migration und Melancholie – Sodade schwingt im letzten Teil der Mini-Serie über Lissabon mit.

Die Spuren des Tourismus zeigen sich in Lissabon nicht nur im alten Geschäftszentrum rund um den großen Platz „Dom Pedro IV“, sondern mittlerweile auch in populären Wohnvierteln wie der Alfama am Flussufer oder den Straßen an der „Bica“, der alten Seilbahn, die östlich von der Oberstadtzu den Hafendocks absteigt. Aber auch am Hang westlich des Platzes, um den sich die Gassen des Viertels „Mouraria“ winden, ist die Veränderung spürbar. Jahrzehntelang stark von afrikanischer und capverdianischer Immigration geprägt und als sozialer Brennpunkt deklassiert, entwickelt sich das Viertel langsam aber sicher zur Ausgehmeile. Noch wird versucht, mit Kreativität dagegenzuhalten: So gibt es etwa in einem der Lokale der Rua das Olarias eine Volksküche, in der Einheimische und Reisende sich begegnen und für wenig Geld gut essen können. In den kleinen Straßen finden sich auch noch Lokale einheimischer Sportvereine oder traditionelle Tascas.

So etwa die kleine capverdianische Gaststätte Sao Christóvão, die fest in Frauenhand ist. Das Dekor ist denkbar schlicht: Im WC sucht man zunächst vergebens nach einem Waschbecken zum Händewaschen, und findet den schönen alten Spülstein schließlich … mitten im Restaurant. Der Empfang ist freundlich, aber ohne aufdringlichen Überschwang. Neben typisch capverdianischem Essen, wie etwa vorzüglichem gekochten Huhn mit Erdnuss- oder Kokossauce, wird auch typische Musik kredenzt: An einem der Tische packt ein älterer Mann seine Gitarre aus und beginnt, zu ihren melancholischen, aber zugleich rhythmischen Klängen zu singen. Morna heißt der kapverdische Stil, der sofort an die Lieder von Cesária Évora denken lässt. Bald gesellt sich auch die Wirtin hinzu und begleitet den Musiker mit ihrer Stimme.

Die Lieder handeln von Abschied und Sodade – Sehnsucht –, die mit dem Los so vieler kapverdischer Migrant*innen verbunden sind. Einer Bevölkerung von einer halben Million auf den kapverdischen Inseln stehen mehr als ebenso viele in der Diaspora lebende gegenüber, davon mehrere Tausend in Luxemburg, um 100.000 in Portugal, dem Land des ehemaligen Kolonisators. Ein offener Rassismus zeigt sich hier eher selten, neuerdings jedoch wird verstärkt auf subtilere Formen dieses Phänomens hingewiesen, der sich oft auf dem Arbeitsmarkt zeigt, ebenso auf einen weiterbestehenden, vom Kolonialismus geprägten Paternalismus.[1]

Am Spätnachmittag vor meiner Abreise gerate ich noch einmal in Kontakt mit der musikalischen Präsenz einer ehemaligen Kolonie. Beim Vertrödeln der letzten Stunden bis zur Abfahrt des Nachtzuges komme ich im belebten, ebenfalls stark touristisch geprägten Viertel um den Fährhafen Cais do Sodré in eine kleine Seitenstraße. Vor einer Kneipe, aus der afrikanische Klänge erschallen, sammelt sich eine Menschentraube, alle scheinen beschwingt. Im Innern der Kneipe wird angolanische Musik geboten: Zahlreiche Frauen und einige wenige Paare aller Altersklassen tanzen zu den mitreißenden Rhythmen der Musikgruppe um den Sänger und Komponisten Chalo Correia. Neben der Gitarre und dem Gesang kommen Congas sowie die Dikanza zum Einsatz, eine lange Bambusstange mit Einkerbungen, über die mit einem Holzstab gestrichen wird.

Als ich mich loseise und den Weg zum Bahnhof Apolonia einschlage, zeigt mir ein Blick auf das Smartphone, dass es in Frankreich zu Komplikationen im Zugverkehr wegen des Ausfalls einer elektrischen Transformatorzentrale in Paris gekommen ist. Ich lasse mich zunächst nicht beeindrucken und sehe auch, am Bahnhof angekommen, den Nachtzug nach Hendaye bereitstehen. Wir verlassen Lissabon in der Abenddämmerung. Beim obligaten Besuch des Bordrestaurants fröne ich mit einer Tresenbekanntschaft Portugals schlechtestem Rosé-Wein. Der Mann, der selbst in der Schweiz arbeitet, findet, dass man die Immigration nach Europa eindämmen solle. Ich widerspreche freundlich und ziehe mich früh in meine Kabine zurück. Während uns der Nachtzug zurück in den Norden schaukelt, verbringe ich die Nacht mit Kopfschmerzen.

In Hendaye dann die schlechte Nachricht, dass unser Anschluss nach Paris ausgefallen ist. Mit meinen Abteil-Genossinnen warte ich drei Stunden, bis der nächste Zug abfährt, der nun allerdings völlig überbelegt ist und in dem wir nur noch im Speisewagen Sitzplätze ergattern. Die Wagen füllen sich auf den nächsten Stationen immer mehr, bald sitzen die Reisenden auf dem Boden und in den Treppen. Die Klimaanlage schafft es nicht mehr, für Kühlung zu sorgen. Wasser in Plastikflaschen wird von freundlichen Bediensteten gratis verteilt, alle bemühen sich, das Ungemach mit Gelassenheit zu überstehen.

Endlich in Paris angekommen, verpasse ich haarscharf die letzte Verbindung nach Luxemburg und muss in einem Hotel übernachten. Immerhin erledigt die Bahngesellschaft recht reibungslos die notwendigen Umbuchungen. Auch solche Überraschungen gehören zum Zugreisen dazu. Um es mit den Worten Pascal Merciers in „Nachtzug nach Lissabon“ zu sagen: Auch sie sind „Lebensstoff“, von dem manche nicht genug bekommen können, und eine mögliche Antwort auf die Neugierde, die uns antreibt, zu reisen. „Wir sind träge Wesen, des Vertrauten bedürftig. Neugierde als seltener Luxus auf gewohntem Grund.“

[1] Marques João Filipe, „Les logiques” du racisme dans la société portugaise contemporaine, in: Migrations Société, 2008/1 (N° 115), p. 11-36. URL : https://www-cairn-info.proxy.bnl.lu/revue-migrations-societe-2008-1-page-11.htm.

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