STRAFVOLLZUG: „Jedem Fisch sein Becken“

Seit vielen Jahren steht der Luxemburger Strafvollzug in der Kritik: Überbelegung des Gefängnisses, gemeinsame Verwahrung, unzureichende Resozialisierung. Justizminister Biltgen möchte den Strafvollzug umfassend reformieren. Dies ist angesichts der misslichen Situation dringend geboten.

„Wenn man einen Fisch in einem Aquarium kauft, kann man ihn nicht einfach in ein anderes Becken setzen, denn da wird er eingehen.“ Vielmehr müsse man ihn an das neue Becken gewöhnen, um den letalen Schock zu vermeiden. Vergangene Woche illustrierte Justizminister Biltgen (CSV) die Problematik des Luxemburger Strafvollzugs am Beispiel von Fischen.

Die chronische Überbelegung des Gefängnisses in Schrassig ist in Luxemburg immer wieder Gesprächsthema, denn der Missstand besteht schon seit Jahren, und auch die NGOs beanstanden ihn seit langem. Vergangenen Dienstag zählte das Gefängnis 650 Inhaftierte, darunter 26 Frauen. Konzipiert war die Anstalt ursprünglich für maximal 550 Häftlinge. Laut Vincent Theis, Direktor der Haftanstalt Schrassig, sollten in einem Gefängnis generell nicht mehr als 200 Gefangene untergebracht sein. Auch das Tempo, in dem die Überbelegung sich entwickelt, ist beängstigend: in nur fünf Jahren, zwischen 2002 bis 2007, hat sich die Zahl der Inhaftierten verdoppelt. Aber: Etwa die Hälfte der Insassen in Schrassig ist gar nicht rechtskräftig verurteilt, sondern befindet sich lediglich in Untersuchungshaft.

Um dieses Problem zu beheben, ist nun der Bau eines Gefängnisses für Untersuchungshäftlinge geplant, einer modernen Haftanstalt, die bis 2016/2017 in Sassenheim entstehen soll. Angestrebt wird mit der neuen Anlage eine strukturelle Verbesserung der Situation der Gefangenen, durch eine Trennung der Inhaftierten nach verschiedenen Delikten wie durch eine intensivere Betreuung, die besonderes Augenmerk auf die spätere Resozialisierung legt. Der Justizminister versprach auf einem letzte Woche vom Kriminologenverband ALC und dem Justizministerium organisierten Symposium ein „dynamisches und individualisiertes Konzept“.

Im Jahre 1976 hatte der sozialistische Justizminister Robert Krieps die Pläne für den Neubau von Schrassig in der Abgeordnetenkammer eingebracht. Zwei Jahre später war mit den Bauarbeiten begonnen worden, im Mai 1984 konnte die Anstalt ihren Betrieb aufnehmen. Der Umzug hatte seinerzeit Hoffnungen geweckt. Die Betreuung der Inhaftierten sollte besser werden, die Chance der Reintegration – schon damals ein plakatives Leitmotiv – steigen. Schließlich war es die Masse an Kleindelikten, vor allem im Drogenbereich, die rückblickend für die rapide Überbelegung von Schrassig verantwortlich gemacht wurde ? nicht ganz grundlos, da tatsächlich rund ein Drittel der dort Einsitzenden eine Strafe wegen Drogendelikten verbüßte. Hinzu kam, dass die Haftanstalt in Schrassig als Sammelbecken für Straftäter jeglicher Art fungierte: Untersuchungshäftlinge wurden mit minderjährigen Straftätern, Kleinkriminellen, Drogendelinquenten, Primär- und Wiederholungstätern unterschiedslos zusammengesteckt. Also kleine Fische zusammen mit großen in ein Becken gesetzt, um in Biltgens plastischem Bild zu bleiben.

Eine im Auftrag des Europäischen Parlaments erstellte Studie aus dem Jahr 2006 konstatierte ebenfalls eine Überbelegung der Schrassiger Anstalt und allgemein unhaltbare Zustände. Die zentrale Kritik der Studie zielte auf die Zusammenlegung von Schwerverbrechern mit Bagatelldelinquenten, Minderjährigen und sogar Abschiebehäftlingen. Hervorgehoben wurde hierbei auch, dass der Anteil der ausländischen Gefangenen besonders hoch war, ein Detail, das gegenwärtig von den Luxemburger Medien gerne hervorgehoben wird. Angesichts der geografischen Lage Luxemburgs und seiner Bevölkerungsstruktur, die einen Ausländeranteil von 43,7% aufweist, kann aber die Tatsache, dass die Mehrzahl der Inhaftierten keine Luxemburger sind, wohl kaum überraschen.

Die strukturellen Probleme sollen durch den Bau einer neuen Haftanstalt für Untersuchungshäftlinge behoben werden.

Eine strikte räumliche Trennung gemäß der Art der Delikte soll fortan Abhilfe schaffen. So ist der Neubau in Sassenheim ausschließlich für Untersuchungshäftlinge bestimmt. In Dreiborn wurde bereits im Dezember vergangen Jahres mit dem Bau einer geschlossenen Jugendverwahranstalt begonnen (woxx Nr. 1035), und auf Findel entsteht derzeit, in Anlehnung an das Brüsseler Vorbild, direkt am Flughafen ein „Centre de rétention“ für Abschiebehäftlinge. Durch diese Umstrukturierung wird ein neues Gesamtsystem der Gefangenenbetreuung entstehen. Auch „Luxemburg wird dann endlich die auf europäischer Ebene geltenden strafrechtlichen Standards erfüllen“, so Stefan Braum, Professor für Europäisches Strafrecht.

Jüngst hat die „Liga der Menschenrechte, Luxemburg“ (LDH) dem Ministerium und der Presse ein Dokument mit Forderungen zur Einhaltung der Menschenrechte in den Gefängnissen zugeleitet. Der aktuelle Bericht der LDH sieht im gegenwärtigen Luxemburger Strafvollzug grundlegende Menschenrechte verletzt. Vor allem die Menschenwürde, den physischen und psychischen Schutz des Individuums, den Schutz des Privatlebens und der Familie, das Recht auf Bildung sowie das Recht auf Arbeit. Darüber hinaus auch kollektive Rechte, wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. An konkreten Regelungen, wie z.B. den enorm restriktiven Besuchszeiten in der Luxemburger Haftanstalt – lediglich fünf Stunden pro Monat – zeigt der Bericht systematisch Rechtsbeschränkungen auf.

Konstruktives wurde auf der Tagung leider nur wenig vorgestellt. Philippe Combessie, Soziologe und Universitätsprofessor an der Pariser Universität Ouest-Nanterre-La Défense, erwähnte immerhin die „Stigmatisierung“, die die Gefängnishaft für den Inhaftierten durch die öffentliche Zurschaustellung bedeutet, und wies auf einige in dem Komplex wichtige soziokulturelle Faktoren hin. So hob er hervor, dass es sich bei 96% der Gefangenen um junge Männer aus zumeist sozial schwachen Strukturen, und damit um fragile Individuen, handelt. Dieser Umstand müsse bei der Reintegration berücksichtigt werden.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Staat wie Gesellschaft nicht genau auf diese Jugendlichen, junge Migranten, gucken. Trägt nicht auch die Gesellschaft durch ihr Ausgrenzungsverhalten dazu bei, jene Straftäter überhaupt erst zu produzieren?

Einzig Sonja Snacken, Professorin für Kriminologie und Strafvollzug an der Universität Brüssel, stellte das System der gängigen Strafpraxis grundsätzlich in Frage. Anhand von Statistiken demonstriert sie, dass in bestimmten Staaten, wie den USA oder Russland, bis zu zehnmal mehr Gefängnisstrafen verfügt werden als in einigen westeuropäischen Ländern. Ihre These mutete im Kontext der Tagung progressiv an: Nicht die Straftaten sind ausschlaggebend, sondern die Strafpolitik, und damit die Strafpraxis.

„Dass Gefängnisstrafe eine angemessene Reaktion auf Straftaten darstellt, ist einfach zu stark in den Köpfen verankert“ meinte Snacken und forderte ein grundlegendes Überdenken des Strafvollzugs und die Hinwendung zu einer Strafpolitik, in der die Haft wirklich nur die Stellung der „ultima ratio“ hat. Zu selten werde über Alternativen nachgedacht. Die Gefängnisstrafe stehe oft in keinem Verhältnis zu den Straftaten. Es sei ja auch einfacher, Straftäter ins Gefängnis zu stecken, als langwierige Verfahren mit Sozialarbeitern, psychologischer Betreuung etc. zu organisieren. Das Wegsperren sei eben noch immer die komfortabelste Art, sich unbequemer Personen zu entledigen.

Grundsätzlich – wie auch ganz konkret für Luxemburg – stellt sich die Frage, was Modernisierung des Strafvollzugs eigentlich bedeutet. Hält man sich an Äußerungen aus Politikerkreisen, so ist sie gleichbedeutend mit technischen und verfahrensmäßigen Verbesserungen. Zum Teil ist das begründet: Die Aufteilung der Straftäter nach Delikten ermöglicht eine stärkere Sozialkontrolle und ist herrschaftstechnisch zudem praktikabler. Allerdings bedeutet sie auch eine Intensivierung der Herrschaft.

Konstruktive politische Ansätze müssen her. Neue Gefängnisse mögen zwar kurzfristig Abhilfe schaffen, sind aber keine Lösung auf Dauer.

Wäre es also nicht angemessener zu fragen, wie sich eine bessere Betreuung von Drogenabhängigen erreichen ließe, welche Alternativen zur Inhaftierung – Bewährungsauflagen, Sozialstunden und ähnliches – eingeführt werden könnten, und nicht zuletzt, wie das Ausländerrecht so zu reformieren sei, dass nicht schon der Status als Illegaler einen Ausländer zum Kriminellen macht?

Wünschenswert wäre auch eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit, eine stärkere Politisierung des Strafvollzugs, sowie eine grundsätzliche Einbeziehung der NGOs. Deren Erfahrung und Sachkenntnis sollte sich eine jede Reformierung des Strafvollzugs zunutze mache. Schließlich ist eine gute Sozial- und Integrationspolitik auch die Basis für eine bessere Präventionspolitik. Man kann dem Justizminister also nur dringend empfehlen, im Sinne von Frau Snacken über alternative Konzepte nachzudenken, also darüber, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der auf Delinquenz mit etwas Adäquaterem als staatlicher Repression und Einsperren geantwortet wird.


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