Sie ist noch nicht vollständig, doch auch so bestätigt die Broschüre über Schlüsselzahlen des Unterrichtswesens bekannte Schwachstellen des luxemburgischen Schulsystems.
Es sei ein Arbeitsinstrument, um besser planen zu können, erklärte Unterrichtsministerin Anne Brasseur, als sie auf einer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag die neue Broschüre zu den Schlüsselzahlen im Bildungswesen präsentierte. Auf über 130 Seiten werden erstmalig verschiedene Daten über das Schulsystem, SchülerInnen, LehrerInnen, Infrastrukturen, Abschlüsse, Weiterbildungsangebote, Sprachunterricht etc. gebündelt präsentiert. Und siehe da, ein erster Blick auf die Zahlen offenbart diverse gravierende Schwachstellen im luxemburgischen Schulsystem.
„Bei vielen Indikatoren müssten die roten Warnlampen aufleuchten“, räumt denn auch Anne Brasseur ein. Besonders alarmierend findet sie die nun empirisch belegte Tatsache, dass hierzulande zwei Drittel aller SchülerInnen (62,2 Prozent) im technischen Sekundarunterricht über dem Regelalter („l’âge théorique“) lagen, das heißt, mindestens eine Klasse wiederholt hatten. Dass beim Sitzenbleiben und bei Lernschwierigkeiten auch kulturelle Hintergründe eine wichtige Rolle spielen, zeigen andere Zahlen: In der Primärschule, in der insgesamt 1.508 SchülerInnen eine Klasse wiederholen mussten, waren kapverdische (11,9 Prozent), portugiesische (8,7 Prozent) sowie Kinder aus Ex-Jugoslawien (ebenfalls 8,7 Prozent) besonders stark betroffen – gegenüber 3,6 Prozent bei den luxemburgischen und sogar nur 2,2 Prozent der belgischen SchülerInnen. Das beweist: Immigrantenkinder haben in punkto Schulbildung hierzulande das Nachsehen.
Nach Nationalität aufgeschlüsselte Schülerzahlen in den verschiedenen Schultypen zeigen zudem, dass von 35,6 Prozent ausländischer Kinder in Primärschulunterricht nur 13,7 Prozent den Sprung in den klassischen Sekundarunterricht schafften, ihr Anteil am „régime préparatoire“ im Jahr 2000/ 2001 hingegen überproportional hoch war.
Inwieweit die von der Ministerin am Dienstag ebenfalls angekündigten Maßnahmen im Sprachunterricht dem diskriminierenden Ausleseprozess Einhalt gebieten können, wird vorerst unklar bleiben. Ein Blick auf internationale Studien über Immigration und Bildungschancen zeigt aber, dass sprachliche Defizite oftmals mit sozialen Barrieren zusammenhängen, eine Größe übrigens, welche die vorliegenden Statistiken noch nicht berücksichtigen.
Wie sollen ein Vater oder eine Mutter, die selbst kaum des Lesens und Schreibens mächtig sind und nicht über entsprechendes Geld für den notwendigen Nachhilfeunterricht verfügen, ihrem Kind bei dessen schwachen Schulleistungen zur Seite stehen? Informierende Gespräche zwischen Schule und ausländischen Eltern allein bleiben ein Tropfen auf den heißen Stein, solange nicht ausreichend Lernhilfen und Auffangstrukturen – auch ganztags – für lernbenachteiligte Kinder zur Verfügung stehen
Doch die starke Immigration im Großherzogtum allein für die Bildungsmisere verantwortlich zu machen – wie im Zusammenhang mit Luxemburgs schlechtem Abschneiden bei der PISA-Studie geschehen – gilt nicht: Das klassische Einwanderungsland Großbritannien hat es unter die ersten Sechs geschafft.
Vielmehr gehört das Schulsystem insgesamt auf den Prüfstand. Der schulische Misserfolg, die enorm hohe Zahl von SchulabbrecherInnen (in der Broschüre noch nicht erfasst) und von SchülerInnen, denen der Wechsel in den „cycle inférieur“ nur über die rechnerische Kompensation von Zensuren gelingt, machen überdeutlich: Die aktuelle Struktur der verschiedenen Schulstufen und die frühe Orientierung daraufhin funktionieren nicht – einer der vielen Missstände, die LehrerInnen seit Jahren kritisieren. Jetzt, da dies schwarz auf weiß dokumentiert ist und die Eckdaten fortgeschrieben werden sollen, gibt es kein Zurück. Und man wird künftig auch empirisch nachvollziehen können, wie ernst es diese Ministerin mit der Bildungsmisere und gleichen Bildungschancen meint.
Ein Kommentar von Ines Kurschat