Zum ersten Mal hat die Opposition in Paraguay gute Chancen, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Aber von einem grundlegenden Wandel ist das Land weit entfernt.
Vergeblich haben die spanischen Eroberer in Südamerika nach jenem verheißungsvollen Ort des Goldes gesucht, den sie El Dorado nannten. Um das Dorado der Gegenwart zu finden, genügt eine Reise nach Ciudad del Este. Wilma María Rodriguez fährt alle zwei Wochen von ihrem Wohnort Porto Alegre im Süden Brasiliens in die paraguayische Stadt am Dreiländereck. Die letzten Meter legt sie zu Fuß zurück. Sie überquert den Grenzfluss Paraná über den „Puente de Amistad“, die Brücke der Freundschaft. Wilma schleppt drei mit T-Shirts, Shorts und Badelatschen vollgestopfte Sporttaschen zu dem Bus, der sie nach Hause bringt. „Das verkauft sich zurzeit am besten“, sagt die schwarzhaarige Mittvierzigerin, deren auffallendstes Merkmal zwei fehlende Schneidezähne sind. In Porto Alegre will die mit einem Brasilianer verheiratete Paraguayerin die eingekaufte Ware feilbieten. „In Ciudad del Este decke ich mich mit dem Nötigsten ein, was ich brauche“, sagt sie und zückt ihr Handy. Auch das hat sie in dem Schnäppchenparadies erstanden.
Das Straßenbild zwischen den hässlichen Zweckbauten gleicht einem riesigen Bazar. Seit die ursprünglich nach dem früheren Diktator Alfredo Stroessner benannte Grenzstadt vor einem halben Jahrhundert aus dem Boden gestampft wurde, wuchs sie auf mehr als 200.000 Einwohner an und ist mittlerweile Paraguays zweitgrößte Stadt. Ciudad del Este ist das Zentrum des südamerikanischen Schwarzmarktes. Dieser macht einen beträchtlichen Teil der paraguayischen Wirtschaft aus. Ob elektronische Haushaltsgeräte oder Flachbildfernseher, Damenslips oder Herrensakkos, Kokain oder Alligatorenleder, Luxuslimousinen oder Maschinenpistolen, Fälscherware oder geklaute Markenartikel – in dem Schmugglermekka ist alles zu haben. Die Strippen im Hintergrund ziehen arabische und asiatische Geschäftsleute. Geheimdienste halten Ciudad del Este für einen Hort des Terrorismus. Kämpfer der libanesischen Hisbollah sollen sich hierher zurückziehen – geduldet von den paraguayischen Behörden.
Knapp vier Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Paraguay gehören zwei Prozent der Bevölkerung.
Während Ciudad del Este selbst in den Nachtstunden kaum zur Ruhe kommt, ist zwölf Busstunden nordwestlich nur das Zirpen der Grillen zu hören. In den Mittagsstunden bringt die Hitze im Gran Chaco alles Leben zum Erliegen, die Zeit scheint still zu stehen. Wie jeden Sommer klettert das Quecksilber des Thermometers auf fast 50 Grad. Regen ist in der von Kakteen, vertrockneten Bäumen und dornigen Sträuchern bewachsenen Savanne, die sich über zwei Drittel des paraguayischen Staatsgebiets erstreckt, äußerst selten. Westlich des Río Paraguay ist das Land fast menschenleer. Im Gran Chaco leben höchstens fünf Prozent der 6,5 Millionen Paraguayer. Dennoch war die heißeste Gegend Südamerikas einst Zankapfel eines blutigen Konflikts: Zwischen 1932 und 1935 fochten Paraguay und Bolivien den Chaco-Krieg um vermeintliche Erdölvorkommen aus, stellvertretend für die Ölgesellschaften Standard Oil und Shell. Mehr als hunderttausend Menschen starben. Nennenswerte Ölmengen wurden übrigens nie gefunden.
David Scherer reibt sich den Schweiß von der Stirn. „Ich liebe den Chaco. Hier fanden wir Zuflucht“, sagt der Landwirt aus der Kleinstadt Filadelfia in akzentfreiem Hochdeutsch. Der 35-Jährige gehört zur Minderheit der deutschsprachigen Mennoniten, deren Vorfahren im vergangenen Jahrhundert aus dem stalinistischen Russland nach Paraguay flohen und sich im Chaco niederließen. Während seine strenggläubige Familie von der Vieh- und Milchwirtschaft lebt, sind vor allem im Osten des Landes viele Betriebe auf die monokulturelle Nutzung des Bodens umgestiegen. Eine Gefahr für die paraguayische Landwirtschaft, fürchtet der Agrarökonom, der in Bayern studiert hat. „Alle setzen auf Soja, das Exportgeschäft blüht“, sagt David. „Aber was wird sein, wenn der Soja-Boom einmal vorüber ist?“ Riesige Flächen wurden gerodet und damit die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung zerstört. Flüsse und Bäche sind vielerorts biologisch tot. Die Soja-Barone planen trotzdem, die Anbaufläche auf vier Millionen Hektar auszudehnen.
Von dem Boom profitieren nur wenige: Knapp vier Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche gehören zwei Prozent der Bevölkerung. Die größten Soja-Farmen sind in den Händen von Brasilianern, die nach Paraguay immigrierten. Viele brachten sogar ihre eigenen Arbeiter mit. Die Mehrheit der Einheimischen ging leer aus. Nach einer jahrelangen Krise hat sich die Wirtschaft zwar erholt, doch neue Jobs wurden kaum geschaffen. Soziale Ungleichheit und Arbeitslosigkeit sind die Themen, die im Vorfeld der Präsidentschaftswahl am 20. April eine herausragende Rolle spielen. Mehr als ein Drittel der Paraguayer lebt unter der Armutsgrenze, etwa ein Viertel der Erwerbsfähigen ist ohne Job, viele arbeiten im informellen Sektor als Straßenhändler. Das Land weist zudem eine der höchsten Korruptionsraten weltweit auf. Dem amtierenden Präsidenten Nicanor Duarte Frutos gelang es immerhin, das Steuersystem zu reformieren und den Export anzukurbeln. Mit dem letztendlich gescheiterten Versuch, durch eine Verfassungsänderung seine Wiederwahl zu ermöglichen, verspielte er jedoch seine Glaubwürdigkeit. Nun rechnet sich die Opposition erstmals Chancen aus, die seit 61 Jahren bestehende Herrschaft der konservativen „Nationale Republikanische Vereinigung“ (ANR), besser bekannt als Colorado-Partei, zu beenden.
Lugo ist ins Kreuzfeuer seiner Gegner geraten. Diese unterstellen ihm enge Kontakte zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Der Wahlkampf des linken Ex-Bischofs soll angeblich aus dem Ausland finanziert worden sein.
„Sechs Jahrzehnte Colorados, das sind sechs Jahrzehnte Unterdrückung, Korruption und Wahlbetrug“, ruft Fernando Lugo Méndez seinen Anhängern auf Guaraní zu, neben Spanisch zweite offizielle Landessprache und von den meisten Paraguayern gesprochen. Der graubärtige Brillenträger ist der Hoffnungsträger der Campesinos und der Bewohner der Elendsviertel. Die Chancen des ehemaligen Bischofs, die Wahl zu gewinnen, stehen gut. In Umfragen liegt er vorn. „Lugo, sí, sí“ steht an vielen Häuserwänden der Hauptstadt Asunción. Der Befreiungstheologe, selbst aus einfachen Verhältnissen, kandidiert für die kleine christdemokratische Partei. Diese gehört dem Wahlbündnis „Patriotische Allianz für den Wandel“ (APC) an. Unterstützt wird er von der Sammelbewegung „Tekojoja“, in der landlose Kleinbauern ebenso vertreten sind wie linke Intellektuelle. Der knapp 57-jährige Lugo, der in Rom studierte und in Ecuador missionierte, legte 2006 sein Priesteramt nieder, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Sein politisches Programm ist unkonkret, doch sein Charisma ist groß. Lugo tritt für eine Landreform und eine Umverteilung des Reichtums ein. „Ich will Großgrundbesitzer und Kleinbauern an einen Tisch bringen“, kündigte er an. Als Vermittler in regionalen Landkonflikten hat sich der Befreiungstheologe bereits bewährt. Außerdem will er mit Brasilien den Vertrag über den Itaipú-Staudamm neu aushandeln. Letzteres ist ein Gemeinschaftsprojekt beider Staaten und ist als größter Stromerzeuger auch eine der wichtigsten Geldquellen Paraguays.
Bis zum Einzug in den Präsidentenpalast ist es noch weit, auch wenn bereits eine relative Mehrheit der Stimmen für den Sieg reicht. Einen zweiten Wahlgang gibt es nicht. Lugo ist ins Kreuzfeuer seiner Gegner geraten. Diese unterstellen ihm enge Kontakte zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Der Wahlkampf des linken Ex-Bischofs soll angeblich aus dem Ausland finanziert worden sein. Mittlerweile kursieren sogar Gerüchte um einen geplanten Mordanschlag auf Lugo. Doch auch im Falle seines Wahlsieges dürfte sich ein grundlegender Wandel in Paraguay als schwierig erweisen. Beobachter rechnen damit, dass die Colorados ihren Einfluss nutzen werden, um das Land zu destabilisieren. Ihre Herrschaft beruht auf einem weit verzweigten Klientelsystem und auf Repression, die auch nach der Stroessner-Diktatur (1954-1989) nicht endete, während der mindestens 3.000 Oppositionelle „verschwanden“. Die vermeintliche Rückkehr zur Demokratie war eine Farce, ausgelöst durch einen Putsch von General Andrés Rodríguez, dem damals zweitmächtigsten Mann im Staat. Die demokratische Kultur ist nach wie vor nur gering ausgeprägt, der Staat dient als Selbstbedienungsladen der Mächtigen. Die Menschenrechtsorganisation Codehupy hat letztes Jahr einen Bericht veröffentlicht, in dem 75 Morde an Kleinbauern sowie zwei Entführungen zwischen 1990 und 2005 dokumentiert sind. In rund einem Drittel der Fälle waren die Täter Polizisten, in den übrigen von Großgrundbesitzern angeheuerte paramilitärische Kräfte. Von den 77 untersuchten kam es nur in zwei Fällen zu Verurteilungen.
Lugos härtester Kontrahent ist Lino Oviedo. Der Ex-General, aufgrund seiner kleinen Statur „Bonsai-Reiter“ genannt, wurde letzten August aus dem Gefängnis entlassen. Seine Partei „Nationale Union ethischer Bürger“ (Unace) verfügt besonders im ländlichen Raum über eine starke Massenbasis. Vielen gilt der Populist als eine Art Messias. Dank seines Vermögens, das auf 1,3 Milliarden US-Dollar geschätzt wird und das er mit illegalen Geschäften wie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie mit Giftmüllimporten anhäufte, erlahmte seine politische Bewegung auch dann nicht, als er im Gefängnis saß. Oviedo kommt selbst ursprünglich aus der Colorado-Partei. Obwohl er die Präsidentschaftswahl 1998 gewann, durfte er sein Amt nicht antreten, weil ihm ein Putschversuch vorgeworfen wurde. Die treibende Kraft hinter der Kampagne gegen ihn war der feindliche Colorado-Flügel um Luis María Argana. Dieser wurde 1999 ermordet. Der Verdacht, den Mord angezettelt zu haben, fiel auf Oviedo. Er setzte sich zuerst nach Argentinien und später nach Brasilien ab, von wo er ausgeliefert wurde. Wegen Anstiftung zum Mord verurteilt, kam Oviedo in Haft. Seine Freilassung war ein politisches Manöver der Colorados, um eine dritte politische Kraft zu schaffen, die Wählerstimmen von Lugo abjagt.
Dritte im engen Favoritenkreis ist Blanca Ovelar. Die ehemalige Erziehungsministerin tritt für die Colorados an und dient diesen als sozialdemokratisches Feigenblatt. Laut Umfragen hat die 50-Jährige im Rennen um die Präsidentschaft aufgeholt. Sie distanziert sich von der Vorgeschichte ihrer Partei, besonders von der Stroessner-Diktatur, und betont ihre Nähe zu den Präsidentinnen Argentiniens und Chiles, Cristina Fernández de Kirchner und Michelle Bachelet. Ovelar wäre das erste weibliche Staatsoberhaupt Paraguays. „In Wirklichkeit interessiert sie sich nicht für die Belange der Frauen“, wirft ihr die Politologin Lilian Soto vor, „sondern dient dem Machterhalt ihrer Partei.“ Letztere setzt auf die Kontinuität der Geschichte. Und die ist in Paraguay besonders leidvoll. Fernando Lugo, der „rote Bischof“, wie sie ihn nennen, verspricht dies zu ändern. Der Politikwissenschaftler Marcelo Lacchi erwartet eine historische Wahl: „Zum ersten Mal stehen die Colorados vor einer Niederlage und werden nervös.“ Die Lage ist angespannt. Vergangene Woche wurde der Radiokommentator Alfredo Avalos, einer der Anführer der Tekojoja-Bewegung, von einem Autos aus angeschossen, seine Lebensgefährtin wurde dabei getötet. Es war nicht der erste und wohl auch nicht der letzte politisch motivierte Mord in Paraguay.
Bustos Domecq arbeitet als freier Journalist mit dem Schwerpunkt Südamerika.
Insel ohne Meer
Eine „kleine, von Land umgebene Insel“ nannte der große paraguayische Schriftsteller Augusto Roa Bastos (1917-2005) seine Heimat. Damit umschrieb er die lange Isolation des Binnenlandes, die in der Kolonialzeit begann und sich unter der Herrschaft von José Gaspar Rodríguez de Francia fortsetzte. Der Vater der Unabhängigkeit Paraguays regierte ab 1814 mit unerbittlicher Härte, entmachtete die spanische Oligarchie und brach fast alle Beziehungen zum Ausland ab. Der „El Supremo“ genannte Diktator schuf sich in 26 Jahren sein Utopia und führte eine an den Grundbedürfnissen der Bürger orientierte Planwirtschaft ein. Nach Francias Tod 1840 übernahm sein Neffe Carlos Antonio López die Macht. Dieser öffnete Paraguay dem Weltmarkt und holte ausländisches Know-how und Technologie ins Land. Mitte des 19. Jahrhunderts war Paraguay sogar eines der am weitesten entwickelten Länder Südamerikas. Zu Lopez’ Nachfolger wurde dessen Sohn Francisco Solano bestimmt. Dieser baute die Armee aus und führte sie gegen Argentinien, Brasilien und Uruguay in den Dreibund-Krieg (1864-1870). Paraguay verlor die Hälfte seines Territoriums, nur ein Sechstel der Paraguayer überlebte. Das Land war verwüstet und in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen. Eine lange Periode der politischen Instabilität setzte ein. Bis 1954 gab es 40 Regierungswechsel. Die Agrar-Oligarchie organisierte sich in den Parteien der Konservativen (Colorados) oder Liberalen (Azules). Das von Militarismus und Vetternwirtschaft geprägte Land blieb im Zweiten Weltkrieg zunächst neutral, sympathisierte jedoch mit den Nazis. Erst auf Druck der USA brach die Militärregierung ihre diplomatischen Beziehungen zum Dritten Reich ab. 1947 formierte sich eine Oppositionsbewegung, wurde aber brutal niedergeschlagen. Im Mai 1954 putschte General Alfredo Stroessner vom faschistischen Parteiflügel. Fast 35 Jahre lang herrschte „El Excelentísimo“ über sein Schattenreich. Im Chaco wurden Konzentrationslager errichtet. Viele Paraguayer flohen ins Exil. Ihr Land wurde eine Drehscheibe für den Waffen- und Drogenhandel sowie Zufluchtsort von Kriegsverbrechern. Alle Beamten, Soldaten und Polizisten mussten der Colorado-Partei beitreten. Den Liberalen bot Stroessner ein Drittel der Parlamentssitze an, um sich deren Zustimmung zur Verfassungsänderung zu sichern, die ihm die Wiederwahl ermöglichte. Seine Wahlergebnisse schwankten zwischen 80 und 90 Prozent. Stroessner verlor die Macht, wie er sie gewonnen hatte, per Militärputsch. Nach seinem Sturz 1989 ging er nach Brasilien ins Exil, wo er im August 2006 im Alter von 93 Jahren starb. Für seine Verbrechen wurde er nie gerichtlich belangt.