Auf Netflix: American Murder: The Family Next Door

Die Doku „American Murder: The Family Next Door“ zeichnet mittels Textnachrichten, Fotos und Videos detailliert einen Fall häuslicher Gewalt nach, der im Jahr 2018 für viel Aufmerksamkeit sorgte. Wer sich eine Kontextualisierung erhoffte, wird enttäuscht.

„American Murder“ will vermitteln, dass häusliche Gewalt auch in der „Familie von nebenan“ vorkommt – geht jedoch nicht darüber hinaus. (© Netflix)

Unter Dokumentarfilmen und -serien genießt das sogenannte „True Crime“ Subgenre nicht unbedingt den besten Ruf: Pauschal werden solche Produktionen oft als effekthascherisch, voyeuristisch und oberflächlich abgestempelt. Ihnen wird vorgeworfen, persönliche Schicksale zu Unterhaltungszwecken auszuschlachten. Auch wenn dies auf manche zutreffen mag, so liegen diese Eigenschaften nicht unbedingt in der Natur der Sache. Je nach Herangehensweise vermögen es solche Serien, strukturelle Problematiken zu thematisieren, die weit über den abgebildeten Fall hinausgehen.

So regen etwa die „Paradise Lost“-Trilogie oder Serien wie „Making a Murderer“ dazu an, das US-amerikanische Rechtssystem zu hinterfragen. Andere legen den Fokus auf häusliche und/oder sexualisierte Gewalt. Während solche wie „Leaving Neverland“ (2019) und „Surviving R. Kelly“ (2019) von in der Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeiten handeln, gibt es auch solche wie „Tell Me Who I Am“, in denen die Aufmerksamkeit der sprichwörtlichen Familie von nebenan gilt. Im Falle des neuen Netflix-Films „American Murder: The Family Next Door“ wird dieser Fokus bereits durch den Titel nahegelegt. Er greift einen Fall auf, in dem am 13. August 2018 im Bundesstaat Colorado der Familienvater Chris Watts seine Ehefrau Shanann und die beiden gemeinsamen Kinder, Bella und Celeste, tötete.

Der Film kann grob in drei thematische Schwerpunkte eingeteilt werden. Der erste zeigt den Alltag der Familie Watts beziehungsweise das, was Shanann in den sozialen Netzwerken davon dokumentierte und kommentierte. Der zweite besteht aus der Zeit kurz vor der 13. August 2018: Textnachrichten, in denen Shanann ihren Freundinnen von der zunehmenden Distanzierung ihres Ehemannes berichtete, sowie eine Nachzeichnung, wo sich die einzelnen Familienmitglieder in den Wochen, Tagen und Stunden vor der Tatnacht befanden. Der dritte handelt vom 13. August und den darauffolgenden Tagen: Dem Verschwinden Shannans und der beiden Kinder, den Investigationen und, abschließend, dem Geständnis von Chris, alle drei ermordet zu haben.

Der Film rückt eine immer noch missverstandene Problematik in den Vordergrund: Häusliche Gewalt ist überall in der Gesellschaft anzutreffen, unabhängig von sozio-ökonomischem Hintergrund, Nationalität oder Religion der Betroffenen. Diese Thematisierung findet implizit statt, indem die Doku von einem weißen, heterosexuellen, finanziell gut gestellten Paar mit zwei Kleinkindern handelt.

Da der Film aber nicht auf den allgemeineren Kontext häuslicher Gewalt eingeht, riskiert er, Chris als monströse Ausnahme erscheinen zu lassen. „This is perhaps the most inhumane and vicious crime that I have handled out of the thousand cases that I have seen“, sagt der Richter Marcelo Kopcow kurz vor Verkündung der lebenslangen Haftstrafte für Chris – eine Aussage, die die Einordnung dieses Falls als außerordentlich zu bekräftigen scheint.

In Anbetracht dessen, dass „American Murder“ keine Informationen vermittelt, die nicht ohnehin schon längst bekannt waren, wäre eine etwas andere Schwerpunktsetzung interessanter gewesen. Ohne Zweifel ist es wichtig zu zeigen: Auch ein scheinbar idealtypischer Familienvater kann ein potenzieller Gewalttäter sein. Der Grund, weshalb Chris seine Familie ermordete, wird jedoch als großes Mysterium dargestellt, der Fall als etwas, das wir nie ganz verstehen werden.

Dabei ist Gewalt gegen Frauen alles andere als ein unerforschtes Phänomen. Durch das Einbringen psychologischer und soziologischer Perspektiven hätte der Film einen wichtigen Sozialkommentar liefern können. Das am Ende des Films lapidar eingeblendete „In America three women are killed by their current or ex partner every day“ kratzt leider nur an der Oberfläche.

Auf Netflix.

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