Auf Netflix: Everything Now


In der Netflix-Serie „Everything Now“ kämpft die Teenagerin Mia mit Essstörungen, durchlebt Jugend
dramen und queere Liebe. Wie passt das zusammen?

Der erste Kuss, der erste Rausch, der erste Sex: Für die sechzehnjährige Mia (Sophie Wilde, unter anderem „Talk to Me“) rücken diese Meilensteine in den Hintergrund, als sie aufgrund ihrer Anorexie und Bulimie für sieben Monate in eine geschlossene Klinik eingewiesen wird. Die Netflix-Serie „Everything Now“, seit Anfang Oktober auf der Streamingplattform verfügbar, beginnt mit Mias Entlassung. Während sie sich auf ihre Heilung konzentriert, hat sich das Leben ihrer Freund*innen und ihrer Familie verändert. Mia versucht in acht Folgen alles, um ihren vermeintlichen Rückstand aufzuholen und ihren Essstörungen weiter zu trotzen.

Geschrieben hat die Serie Ripley Parker. Es ist die erste Produktion der 22-Jährigen, die übrigens die Tochter der Schauspielerin Melanie Thandiwe Newton (unter anderem „Beloved“, „Crash“) und des Regisseurs Ol Parker (unter anderem „Mamma Mia! Here We Go Again“, „Ticket to Paradise“) ist. Die Glamour UK befragte die Produzentin Anfang Oktober zu den Hintergründen der Serie. In diesem Interview offenbart Parker, als Jugendliche selbst mit Essstörungen gekämpft zu haben. „It was an area that I felt I could speak on with some authority, and that I might have something useful to impart to people“, sagt sie dort.

Während des Schreibprozesses tauschten Parker und ihr Team sich mit Expert*innen zu mentalen Krankheiten und Essstörungen in Großbritannien aus. „The statistics are staggering, which made us double down on our dedication to telling this story in as truthful and heartfelt a way as we were able to – and hopefully educate people and shed some light on a subject that isn’t talked about nearly often enough“, erinnert Parker sich an die Gespräche und die Folgen für ihre Arbeit. Medienberichten zufolge, sollen 2023 eine Million Menschen in Großbritannien an einer Essstörung leiden, Tendenz steigend.

Und die Angehörigen?

Parker interessiert sich in der Serie jedoch nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Angehörigen. Kommentiert Mia die Ereignisse die meiste Zeit aus dem Off, übernimmt das in einer der Folgen ihr Bruder Alex (Sam Reuben). Alex ist wenige Jahre jünger als Mia, nach außen hin ein Vorzeigesohn, der für das Wohlergehen seiner Schwester freiwillig zurücksteckt. Die Folge an Alex Seite zeigt die innere Zerrissenheit, mit der der Jugendliche kämpft: Einerseits liebt und verteidigt er seine Schwester, andererseits empfindet er ihr gegenüber einen großen Groll. Ähnlich ambivalent ist die Haltung von Mias Freund*innen ihr gegenüber: Zwar bemühen sie sich um Verständnis für Mias Situation und wollen sie bei ihrem Heilungsprozess unterstützen, doch regelmäßig geraten sie heftig mit der Jugendlichen aneinander, wünschen sich sogar, sie wäre nie aus der Klinik entlassen worden.

Das mag hart wirken, dafür scheint es aber authentischer als eine Gruppe Jugendliche, die stets verständnisvoll und reif auf Konfliktsituationen reagiert. Mia bildet da keine Ausnahme: Sie ist kein liebenswürdiger Charakter. Sie ist oft launisch, verletzend, egoistisch, manchmal auch hinterhältig. Mia mischt nach ihrer Wiederkehr ihren Freund*innenkreis und das Familienleben auf, indem sie ihre Umgebung mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert. Als es Mia nicht gelingen will, ihre „Bucket List“ abzuarbeiten, steigen ihr Frust und ihre Selbstzweifel. Das lässt sie an ihren Freund*innen und ihrer Familie aus. Doch auch Becca (Lauryn Ajufo), Cam (Harry Cadby) und Will (Noah Thomas) sowie Mias Eltern und ihr Bruder befinden sich in harten Lebensphasen. Die Serie schneidet Themen an wie Schwangerschaftsabbruch, Suchterkrankungen eines Elternteils, zerrütte Familienverhältnisse, Fremdgehen, Sexting oder Depression. Dramen sind also vorprogrammiert, denn richtig gut geht es niemandem in der Serie.

Immerhin hat dieses Unwohlsein nichts mit der Queerness der Hauptcharaktere zu tun. Anders als in Jugendserien wie „Heartstopper“ spielt diese hier nur eine Nebenrolle: Niemand muss sich outen, gleichgeschlechtlicher Sex wird selbstverständlich als Option angesehen und keine der Figuren wird aufgrund ihres Geschlechtsausdrucks oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert. „It was very important to me, and all of us going into the show, that no one’s sexuality would ever become a plot“, so Parker im Gespräch mit Glamour UK. Sie nennt ihre Serie eine idealisierte Welt, mit der sie jungen Menschen Mut machen will. „I thought it would be really powerful for today’s queer and straight youth to see. And to feel that maybe that world is possible, where sexuality is just a part of who you are.“ Während Parker hier eine rosarote Brille aufsetzt, nimmt sie diese an anderer Stelle ab: Die Liebesbeziehungen zwischen den Teenies sind alle andere als romantisiert. Für das erste Mal braucht es weder ein Rosenbett noch Kerzenschein; die erste Beziehung muss nicht gleich die große Liebe sein.

Die Serie eignet sich aber durchaus auch für andere Altersgruppen. Hauptthema bleiben Mias Essstörungen: Die Zuschauer*innen erfahren in Rückblicken, wie es zu Mias Klinik-
aufenthalt kam, wie ihre Eltern, ihre Freund*innen und ihr Bruder mit der Situation umgegangen sind. Mias Essstörungen werden dabei nie effekthascherisch eingesetzt. Vieles bleibt angedeutet, ihre Verhaltensmuster werden subtil dargestellt. Das Publikum verfolgt demnach nicht nur Mias Weg zurück ins Leben außerhalb der Klinikmauern, sondern sieht auch, was die Jugendliche schon alles durchgestanden hat.

In dem Rahmen kommt das problematische Verhältnis zwischen Mia und ihrer Mutter zur Sprache, das bis in ihre Kindheit zurückreicht. Es geht um Therapieansätze und um die Zwänge, die Menschen mit Essstörungen empfinden können. In manchen Szenen sitzen die Zuschauer*innen mit Mia in der Psychotherapie mit Doktor Nell (Stephen Fry, unter anderem „Blackadder“, „Wilde“) oder nachts mit Mias Zimmernachbarin in der Klinik unter der Bettdecke, wo sich die Jugendlichen ein Leben nach der Entlassung ausmalen.

Die Serie macht vieles richtig, wie auch die Kritiken von vereinzelten Betroffenen von Essstörungen bestätigen. So schreibt die Journalistin Hannah Madlener in der Glamour Deutschland, dass sich „Everything Now“ maßgeblich von dem Netflix-Film „To the Bone“ unterscheide: Dort werde Anorexie als Mittel verwendet, um das Publikum zu schockieren; in Parkers Serie habe sich das Team um eine sensible und respektvolle Darstellung der Krankheit bemüht, ohne sie schönzureden. Sie hebt außerdem die Trigger-Warnungen zu Beginn und das Einblenden von Hilfestellen im Abspann der Folgen hervor.

Was Ripley Parker jedoch nicht tut, ist Mias Essstörungen in einen größeren Kontext zu setzen oder den Einfluss sozialer Medien, die im Leben vieler Menschen eine Rolle in Sachen Selbstwahrnehmung einnehmen dürften, zu thematisieren. Für die einen mag das eine vertretbare Entscheidung sein, die anderen stören sich vermutlich an dieser Lücke. „Everything Now“ gibt keine Antwort darauf, warum Jugendliche wie Mia Essstörungen entwickeln, denn einen pauschalen Grund gibt es nicht.

Auf Netflix.

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