Autismus: Heilung in Sicht?

Eine Therapie aus Amerika, verspricht „den Autismus zu überwinden“. Ernstzunehmende Aussicht oder irreführende Marketingstrategie? Wir haben luxemburgische Organisationen für Menschen mit Behinderung nach ihrer Meinung gefragt.

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung nehmen ihre Umwelt anders wahr als neurotypische Personen. (© Nick Youngson)

Ein heller Raum mit buntem Teppich auf dem Boden und Kinderbasteleien an den Wänden. Etwa zehn Erwachsene sitzen auf grauen Klappstühlen in einem Kreis, Eltern, deren Kinder sich auf dem Autismus-Spektrum befinden. Einer davon ist Doug. Er nimmt heute zum ersten Mal an der Selbsthilfegruppe teil. „In letzter Zeit sind wir gut miteinander zurechtgekommen. Sam geht jetzt zu einer Therapeutin und ich hatte das Gefühl, dass er auf dem Weg der Besserung sei …“ Weiter kommt Doug nicht, bevor die Gruppen-Moderatorin einhakt: „Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber es gibt keine Besserung bei Autismus. Es handelt sich um eine neurologische Störung, keine heilbare Krankheit. Das ist ein Unterschied.“ Dougs Frau, Elsa, eilt ihrem Mann sogleich zu Hilfe: „Was er damit sagen wollte, ist, dass Sam jetzt seine Kompensationsstrategien als Reaktion auf Umweltreize einsetzen kann.“ Ob er noch etwas sagen wolle, will die Moderatorin wissen. Doug schüttelt resigniert den Kopf. Obwohl es sich bei dem eben Beschriebenen um eine Szene aus der Netflix-Serie „Atypical“ (2017- )handelt, kann man sich leicht vorstellen, dass sich Ähnliches auch in der Realität oft abspielt: Uneinigkeiten über den richtigen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Autismus und Eltern, die sich Hoffnungen machen, dass ihr Kind mit Autismus vielleicht doch irgendwann geheilt werden könnte.

„Den Autismus überwinden mit dem Son-Rise-Programm“. Beim Lesen des Titels einer für den 27. Februar angekündigten Konferenz, kommt man nicht umhin, an ebenjenen Diskurs erinnert zu werden. Was genau gedenkt man zu überwinden? Und wie? Zwar handelt es sich bloß um den Titel einer Veranstaltung, es ist jedoch anzunehmen, dass dieser auf die generelle Herangehensweise des besagten Programms hindeutet. Über diese erfährt man in der Einladung recht wenig, dafür aber über die Organisator*innen der Konferenz: Optim’Autisme, ASEBS asbl, Zesumme fir Inklusioun asbl (Zefi) in Zusammenarbeit mit der Bil und Femmes Magazine und mit Unterstützung der Stadt Luxemburg. Die Bil ist insofern involviert, als dass die Veranstaltung in einem von ihr zur Verfügung gestellten Raum stattfindet.

Die bessere Alternative?

Eine Internet-Recherche ergibt, dass das Son-Rise-Programm (SRP) vom 1983 gegründeten US-amerikanischen Autism Treatment Center angeboten wird. „The Son-Rise Program was the first to suggest that children with these diagnoses had the potential for extraordinary healing and growth“ ist auf der Homepage des Zentrums zu lesen. Laut Beschreibung nehmen bei diesem Programm die Eltern der Betroffenen eine zentrale Rolle ein. Durch interaktives Spiel, enthusiastisches Miteinander sowie Beteiligung an repetitiven oder ritualisierten Verhaltensweisen des Kindes wird versucht, Einblicke in die Welt des Menschen mit Autismus zu gewinnen. Familien und Pflegepersonen sollen so die nötigen Kompetenzen erwerben, um ihr Kind bei der Entfaltung ihres ganzes Lern- und Entwicklungspotenzials zu unterstützen. Dass es sich um keine wissenschaftliche Methode handelt, lässt sich aus Formulierungen wie „time-tested educational strategies“ ableiten. Andere Therapiemethoden finden auf der Homepage keine Erwähnung. Dadurch, dass das SRP aber als „alternativ“, „innovativ“ und „anders“ bezeichnet wird, wird die Überlegenheit gegenüber anderen Programmen zumindest suggeriert.

Im Gespräch mit Martine Kirsch, der Präsidentin von Zefi, einer der Organisationen, die besagte Konferenz initiiert haben, wird die Abgrenzung schon expliziter: „Die Therapie ABA [Applied behavioral analysis; Anm.d.Red.] ist eine sehr strikte und strukturierte Methode, die oft mit Hundedressur verglichen wird. Das Son-Rise-Programm dagegen zielt darauf ab, auf spielerische Weise, Interesse und Verständnis dem Kind gegenüber zu fördern. Mir selbst ist keine humanere Methode bekannt.“ Christophe Wantz von der Fondation Autisme Luxembourg (FAL) sieht das etwas anders: „Indem das Son-Rise-Programm sich selbst als humane Methode darstellt, kategorisiert es damit implizit alle anderen als weniger human. Damit spielt es mit den Vorurteilen und dem Nicht-Wissen der Menschen.“ Frühere Methoden seien in der Tat gewaltvoll gewesen: Menschen mit Autismus seien in die Psychiatrie eingeliefert und mit Medikamenten ruhiggestellt worden. Heutzutage angewandte Methoden wie Teacch sowie andere wissenschaftlich überprüfte Methoden seien allerdings keineswegs weniger human als das SRP: Sie verzichten gänzlich auf Gewalt, setzen ebenfalls auf eine starke Beteiligung der Familie und sind von Wissenschaftler*innen entwickelt worden. An und für sich, so Wantz, spreche nichts gegen eine Methode wie das SRP und man wolle es auf keinen Fall diskreditieren. Es sei sogar förderlich, wenn Betroffene aus einer Vielzahl an Methoden diejenige wählen könnten, die am ehesten ihren Bedürfnissen entspreche.

Die Behauptung, Autismus könne geheilt werden, steht seiner Meinung nach in einem problematischen Zusammenhang, resultiere sie doch aus der Auffassung, Autismus werde durch bestimmte Faktoren, wie etwa Fleischkonsum, ungesunde Lebensweisen oder Impfungen, ausgelöst. „Von solchen Argumentationen distanziert sich die FAL und vertritt stattdessen die Ansicht: Eine Krankheit kann geheilt werden, eine Behinderung dagegen nicht. Man kann nur das Ausmaß verringern.“

Die Macht des 
schlechten Gewissens

Auch Samira Messina von Autisme Luxembourg asbl teilt die Ansicht, dass Autismus nicht geheilt werden kann. „Es ist möglich, die Symptome zu reduzieren und Betroffenen zu helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen“, erklärt die Psychologin im Gespräch mit der woxx. Therapien könnten dabei helfen, sich nicht mehr „anders“ zu fühlen. Es könne vorkommen, dass Menschen mit Autismus, insbesondere solche ohne intellektuelle Einschränkungen, im Erwachsenenalter keine größeren Schwierigkeiten mehr aufweisen. „An der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung dieser Menschen ändert sich allerdings nichts. Autismus ist eine Störung, die nicht geheilt werden kann. Das ist medizinisch einfach nicht machbar.“

Am SRP erkennt Messina sowohl Positives als auch Negatives: „Das Programm basiert darauf, dass Eltern viel Zeit mit ihrem Kind verbringen und sich auf dessen Welt einlassen. Dieser Ansatz ist an und für sich begrüßenswert.“ Viele hätten aber nicht ausreichend Zeit und Geld für ein solches Programm und könnten sich in der Folge schuldig fühlen. „Es wird versprochen, unter ganz bestimmten Voraussetzungen geheilt werden zu können. Das ist gefährlich, denn Heilung ist einfach nicht möglich“, äußert Messina ihre Bedenken. Auch Martine Kirsch empfindet den Kostenaufwand des SRP als hoch, zurzeit gebe es allerdings keine einzige Therapie, die völlig gratis sei. Anders als bei vielen anderen Methoden, stelle sich beim SRP allerdings das Problem, dass es nicht wissenschaftlich anerkannt und deshalb nicht von der Krankenkasse rückerstattet werde. „Das entscheidende Kriterium sollte aber nicht die Wissenschaftlichkeit der Methode, sondern ihre Zweckdienlichkeit sein.“ Diesbezüglich sei Zefi zurzeit im Gespräch mit dem Gesundheitsministerium. Momentan würden einzig Organisationen wie etwas die französische Optim’Autisme, die besagte Konferenz ebenfalls mitveranstaltet, bedürftigen Familien finanziell unter die Arme greifen. Dass Optim’Autisme das SRP als unterstützenswert empfindet, wundert nicht, lautet ihr Slogan doch „l’optimisme pour dépasser l’autisme“.

Auf die Frage, ob im Zusammenhang mit Autismus das Wort „Heilung“ angebracht ist, antwortet Kirsch mit einem klaren „Ja“: „Betroffene, die an dem Programm teilgenommen haben, konnten dank ihm Schulabschlüsse absolvieren, ihren Führerschein machen – ich denke schon, dass man da von einer Heilung sprechen kann.“ In allen ihr bekannten Fällen sei die Therapie erfolgreich gewesen. Zu diesen zähle auch Raun K. Kaufman.

Hinter dem Namen versteckt sich niemand anderes als der Konferenz-Vortragende und „Director of global education“ von oben erwähntem Autism Treatment Center. Auf der Homepage des Zentrums ist zu lesen, dass bei Kaufman als Kind eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde und seine Eltern in Reaktion darauf das SRP gründeten. Nach einer dreijährigen Behandlung sei Kaufman völlig geheilt gewesen, heißt es im Beschreibungstext. Nachdem er ein Studium in biomedizinischer Ethik absolviert hat, lehrt er nun sowohl an Universitäten als auch am Autism Treatment Center.

Mit welcher Form von Autismus Kaufman diagnostiziert wurde, erfahren die Homepage-Besucher*innen nicht. Detaillierte Hintergrundinformationen sind auch nicht Sinn und Zweck dieses Abschnitts – im Vordergrund steht die Erfolgsgeschichte: Kaufman hatte Autismus und konnte nicht sprechen, nun hält er Konferenzen und hat einen „near genius“ IQ. Als emotionalisierendes Marketing bezeichnet Christophe Wantz die Kommunikationsstrategie des Zentrums: „Es vermittelt simple Botschaften in leicht verständlicher Sprache, das kommt gut an“. Für Martine Kirsch ist die starke Resonanz des Programms vor allem auf den Mangel an entsprechenden Angeboten in Luxemburg zurückzuführen. „Es besteht ein großer Bedarf an solchen Therapiemöglichkeiten. Viele Eltern fühlen sich alleine gelassen“, beschreibt Kirsch ihren Eindruck.

Worin sich alle einig sind, ist, dass jede Herangehensweise, die das Wohl von Menschen mit Autismus in den Fokus stellt, ihnen zu größerer Autonomie verhelfen will und auf Gewalt verzichtet, als positiv zu bewerten ist. Jede Aufmerksamkeit, die der Person mit Autismus zukomme und jede Methode, die Eltern zu einer positiven Einstellung verhelfe, sei potenziell gewinnbringend. Dass das SRP bei Betroffenen Schaden anrichten könne, wird ausgeschlossen.

Von der spezifischen Methode einmal abgesehen, gibt die Wortwahl des anfangs erwähnten Titels dennoch zu denken. Wie in der Serie „Atypical“ immer wieder veranschaulicht wird, deutet unser Sprachgebrauch auf bestimmte Haltungen bezüglich Menschen mit Behinderung hin. Das Wort „überwinden“ erweckt die Assoziation von Behinderung als Hindernis, das es zu bezwingen gilt. Damit steht dieser Ansatz in direktem Widerspruch zum Ziel einer vielfältigen, inklusiven Gesellschaft, in welcher allen Menschen, unabhängig von ihren psychischen und physischen Fähigkeiten, soziale Teilhabe gewährleistet ist. Ein auf Inklusion abzielender Ansatz fordert jedoch, dass nicht der einzelne Mensch, sondern die Gesellschaft sich ändern muss.


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