Blanquita: Chilenischer Frühling

Der Regisseur Fernando Guzzoni wirft in der luxemburgischen Koproduktion „Blanquita“ Licht auf einen wahren Fall von organisiertem Kindesmissbrauch in Chile und liefert mit dem Film ein weiteres Beispiel für die vielversprechenden Talente, die sich im dortigen Kino nach Jahrzehnten der Militärdiktatur hervortun.

„Blanquita“ von Fernando Guzzoni wurde bei den Filmfestspielen in Venedig 2022 als bestes Drehbuch ausgezeichnet – dieses basiert auf wahren Begebenheiten aus den frühen 2000ern. (Copyright: Tarantula Luxembourg, Rampante Films, Bonne Pioche, Madants, Abrolhos Filmes)

Blanca (Laura López) wirkt ruhig. Die 18-jährige Mutter, auch Blanquita genannt, hält ihr Kind in den Armen. Als einer der Bewohner des katholischen Heims für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, in dem sie selbst einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, zu toben beginnt, um sich schlägt und mit Gegenständen wirft, erscheint dies, als würde die Stille in der Dunkelheit zu Beginn des Films zerreißen, der so heißt wie die Hauptperson: „Blanquita“. Carlos, so der Name des Jugendlichen, wurde jahrelang sexuell missbraucht. So wie Blanquita, die mit der Unterstützung des Priesters und Heimleiters Manuel (Alejandro Goic) mit ihren Anschuldigungen, dass hinter dem Missbrauch das Netzwerk von Prostitution und Pädophilie eines bekannten Geschäftsmanns stehe, an die Öffentlichkeit geht.

Zuerst wird ihren Anschuldigungen kaum Glauben geschenkt. Ihre Aussagen werden kontinuierlich in Zweifel gezogen und der Hauptbeschuldigte sowie die ebenso als Täter mitwirkenden Politiker in Schutz genommen. Die Zeugin und Pater Manuel werden bedroht und entgehen bei einer nächtlichen Fahrt mit dem Auto nur knapp einem Anschlag, der vermutlich eine Warnung war. Gegen den noch aus der Zeit der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) bestehenden Machtzirkel, zu dem auch die katholische Kirche gehört, ist kaum anzukommen. Nicht zuletzt spielen die Medien eine zwiespältige Rolle: Auf reine Sensation aus, interviewt ein Fernsehsender die junge Frau. Als immer mehr Widersprüche in Blanquitas Vorwürfen zutage treten und zudem ein Sexvideo von ihr und dem mutmaßlichen Vater ihres Kindes, der mittlerweile vom Kleinkriminellen zum bigotten Anhänger einer evangelikalen Sekte geworden ist, auftaucht, wendet sich das Blatt immer mehr zuungunsten der jungen Frau. Sie wirkt zunehmend schutzlos und Pater Manuel bekommt von seinem Vorgesetzten Konsequenzen angedroht, wenn er nicht die Finger von der Affäre lasse.

Die Stimmung des Ungefähren und Ungewissen wird durch die Kameraführung von Benjamín Echazarreta verstärkt oder gar erzeugt. Echazarreta, der bereits unter anderem für Sebastián Lelio bei „Una mujer fantástica“ (Eine fantastische Frau, 2017) und „Gloria“ (2013) hinter der Kamera stand, taucht das Geschehen in ein diffuses, künstliches Licht. So wenig Hoffnung es in dem Film gibt, so sehr spiegelt sich dies auch in der überwiegend düsteren Atmosphäre wider. Grautöne dominieren den von Fernando Guzzoni gelungen inszenierten Film. Der Gebrauch von Weitwinkel unterstreicht die Einsamkeit und Ohnmacht der Figuren. Die Personen werden oft in Nahaufnahmen gezeigt, der Hintergrund wirkt dagegen nicht selten verzerrt und ist unklar zu identifizieren.

Caso Claudio Spiniak

Der Film basiert dabei auf dem „Caso Claudio Spiniak“, der sich vor zwanzig Jahren in Chile zutrug und über den Regisseur und Drehbuchautor Guzzoni lange recherchiert hat. Der Unternehmer Claudio Jaime Spiniak Vilensky und weitere Personen aus seinem Umfeld waren im September 2003 festgenommen worden, weil sie nachweislich mehrfach Kinder missbraucht hatten. Der damals 55-jährige Spiniak erwies sich als Kopf eines Netzwerks, das Minderjährige zur Prostitution zwang. Bei den Opfern des Netzwerks handelte es sich um Straßenkinder, die mit Geld und Essen in ein Haus gelockt worden waren. Dort wurden sie mit Alkohol und Drogen vollgepumpt und zu Orgien gezwungen, bei denen sie grausam missbraucht, fotografiert und gefilmt wurden. Einige von den Kindern sollen spurlos verschwunden sein. Im Februar 2002 war ein Mädchen aus dem sogenannten Spiniak-Haus in Las Condes, einem reichen Vorort von Santiago de Chile, geflohen und hatte ein Mitglied der Bande wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt. Doch es geschah nichts. Spiniak wurde 2002 erst festgenommen, nachdem die Polizei Drogen und Waffen sowie eine große Sammlung pädopornographischen Materials bei ihm gefunden hatte. Der Geschäftsmann kam allerdings zunächst gegen eine Kaution wieder frei.

Zum Politikum wurde der Fall, als die Politikerin der liberalkonservativen Partei der Renovación Nacional (RN), Pia Guzmán, drei Abgeordnete – zwei von der rechtskonservativen Unión Demócrata Independiente (UDI) und einen Christdemokraten – beschuldigte, in den Fall verwickelt zu sein. Die UDI sah sich als Opfer einer Verschwörung ihres politischen Bündnispartners und linker Medien, um ihren Kandidaten der Rechten bei den Präsidentschaftswahlen 2005/2006, Joaquín Lavín, zu diskreditieren. Mit dem Fall wurde der Richter Daniel Calvo beauftragt. Derweil versuchte die UDI, die minderjährigen Zeug*innen mit Hilfe der rechtsgerichteten Medien, unter anderem der größten Tageszeitung „El Mercurio“ und dem Medienkonzern Copesa, zu verunglimpfen. Der fünffache Familienvater Calvo erklärte seinen Rücktritt und wurde ersetzt, als er erpresst wurde: Er war in einer Schwulensauna gesehen worden, der Saunabesitzer hatte ihn mit versteckter Kamera gefilmt. Ein anderer Richter verurteilte Spiniak wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zuerst zu fünf Jahren und später, nach der Berufung, zu zwölf Jahren Gefängnis. Seine Haftstrafe wurde schließlich auf zehn Jahre reduziert, sodass er im Dezember 2013 freikam.

Als Kronzeugin in dem Prozess war die Minderjährige Gema Bueno aufgetreten, damals als „G.B.“ bekannt. Bueno, die von dem Priester José Luis Artiagoitía alias „Jolo“ unterstützt wurde, beschrieb in ihrer Aussage vor Gericht unter anderem genauestens den nackten Körper eines Parlamentariers, des UDI-Abgeordneten Jovino Novoa, und nannte ihn einen Teilnehmer der Orgien. Ihre Version wurde jedoch von einer Psychiaterin angezweifelt, die Bueno als „Mythomanin“ bezeichnete. In einem Interview mit der Zeitung „La Tercera“ gestand Bueno schließlich, bei ihren Anschuldigungen gegen Novoa und den anderen UDI-Abgeordneten Carlos Bombal gelogen zu haben und von Artiagoitía angestiftet worden zu sein. Beide, Bueno und Artiagoitía, wurden wegen Falschaussagen zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Guzzoni hat diesen Fall also aufgegriffen und daraus einen Film gemacht, der zwischen Doku-Drama und Thriller pendelt. Es ist der vierte Film des chilenischen Regisseurs nach der mehrfach ausgezeichneten Doku „La Colorina“ (Die Rothaarige, 2008) über die Dichterin Stella Diaz Varin (1926-2006): Die Chilenin wird von manchen als „Punk-Poetin“ bezeichnet. Sein erster Spielfilm „Carne de Perro“ (Hundefleisch, 2012) handelt von einem ehemaligen Folterer der Militärdiktatur, der mit seiner dunklen Vergangenheit belastet und auf der Suche nach einer neuen Identität ist. Er wird brillant gespielt von Alejandro Goic, der für seine Rolle den Darstellerpreis beim Filmfestival in Punta del Este erhielt und auch als Pater Manuel, ein Pragmatiker mit großem Herzen, in „Blanquita“ überzeugt.

Chilenischer Film wiedererwacht

In Guzzonis zweitem Spielfilm „Jesús“ (2016) geht es um einen Jungen namens Jesús, der zusammen mit seinem alleinerziehenden Vater, wieder dargestellt von Alejandro Goic, lebt. Während Letzterer die meiste Zeit vor dem Fernseher verbringt, kommt Jesús auf kriminelle Abwege. Auf der Flucht vor der Polizei, sucht er Hilfe bei seinem Vater. Wie in den zuletzt genannten Filmen geht es Guzzoni auch in „Blanquita“ um Menschen am Rande der Gesellschaft. Ihm gelingt dabei, die Balance zwischen ernster Thematik und Spannungskino zu halten, ohne das eine dem anderen zu opfern. Auch fällt der Film nicht in ein simples Täter*innen-Opfer-Schema, sondern zeigt die Grauzone, in der sich die Geschichte abspielt. Blanquita bleibt eine ambivalente Figur. Laura López gestaltet die Rolle der Person, deren Glaubwürdigkeit bezweifelt wird, mehr als überzeugend. Mit ihrem viele Interpretationen zulassenden Gesichtsausdruck, den sparsamen Gesten und ihren zwischen wenigen Worten und rohen Kraftausdrücken changierenden Äußerungen trägt sie den Film.

„Blanquita“ ist insgesamt ein weiteres Beispiel für den jüngeren chilenischen Film, der sich nach dem Ende der Militärdiktatur erst allmählich vom Erbe der bleiernen Zeit unter dem Regime von General Augusto Pinochet befreien konnte, als die Filmproduktion wegen der Flucht vieler Filmschaffenden ins Exil quasi zum Erliegen gekommen war. Kritisches Kino war so gut wie nicht mehr möglich. Nur dem Regisseur Miguel Littín gelang es in den 1980er-Jahren, als uruguayischer Staatsbürger getarnt, in dem von Pinochets Geheimpolizei kontrollierten Land einen Dokumentarfilm zu drehen, der später unter dem Titel „Acta General de Chile“ (1986) bekannt wurde.

In den Jahren der Transition galt das Augenmerk vieler Filmschaffender vor allem der Aufarbeitung der Vergangenheit, die juristisch hingegen kaum stattfand. Wer die 1990er-Jahre in Chile erlebte, der empfand zwar eine gewisse politische und gesellschaftliche Öffnung, doch genauso waren die Folgen der Pinochet-Ära noch spürbar. In den durchaus zahlreichen Kinos waren vor allem ausländische Produktionen zu sehen. Indes war das Angebot davon groß, wie der Autor dieser Zeilen bestätigen kann: Unter anderem fand er Gelegenheit, in einer Wüstenstadt wie Calama anspruchsvolle europäische Filme zu sehen.

Nennenswerte chilenische Filme waren zu jener Zeit „La Frontera“ (Am Ende der Welt, 1991) von Ricardo Larraín und „Amnesia“ (1994) von Gonzalo Justiniano, in dem sich ein Soldat und sein früherer Vorgesetzter daran erinnern, wie sie in einem Gefangenenlager in der Wüste Dienst leisteten und für die Exekution von Häftlingen verantwortlich waren. Neben den beiden Regisseuren fiel vor allem auch noch Andrés Woods mit seinem Film „Machuca“ (Machuca, mein Freund, 2004) über die Freundschaft zweier Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, der sich auch verstärkt mit der chilenischen Vergangenheit auseinandersetzte, auf. Als Dokumentarfilmer*innen taten sich vor allem Carmen Castillo und Patricio Guzmán hervor.

Castillo arbeitete gegen die Militärdiktatur von Pinochet an. Nach dem Putsch von 1973 lebte sie gemeinsam mit ihrem Partner, Miguel Enríquez, dem Kopf des Movimento de Izquierda Revolucionaria MIR (Bewegung der revolutionären Linken), in einem Versteck, das nur ein Jahr später von der Geheimpolizei des Diktators gestürmt wurde. Enríquez wurde getötet, Castillo verwundet. 1994 und 2010 wurde sie beim Internationalen Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Kuba für mehrere Werke ausgezeichnet. Die Filmemacherin pendelt seit den 1980er-Jahren zwischen Frankreich und Chile. Patricio Guzmán hatte derweil bereits in den 1970er-Jahren mit „La Batalla de Chile“ (Die Schlacht um Chile, 1975-1979), später mit „El Caso Pinochet“ (Der Fall Pinochet, 2001), „Salvador Allende“ (2004), „Nostalgia de la Luz“ (Heimweh nach den Sternen, 2010) und „El botón de nácar“ (Der Perlmuttknopf, 2015) großes Aufsehen erregt und internationale Filmpreise eingeheimst.

In anderen lateinamerikanischen Ländern, vor allem in Argentinien, geriet die filmische Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit während der Zeit der Diktatoren in den letzten Jahren allmählich in den Hintergrund, ohne ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Mehr und mehr rückten gesellschaftliche Fragen der Gegenwart und die ökonomische Krise ins Zentrum, allerdings auch Genre-Filme, die zwar eher unpolitisch sind, jedoch zeithistorische Bedeutung haben. In Argentinien waren dies Filme wie „El secreto de sus ojos“ (In ihren Augen, 2009) von Juan José Campanella oder „El Clan“ (2015) von Pablo Trapero, in Chile Filme wie der kammerspielartige „En la cama“ (Im Bett, 2005) von Matías Bize und „Gloria“ von Sebastián Lelio.

Mit der politischen Zeitgeschichte seines Landes beschäftigte sich jedoch weiterhin Pablo Larraín: Der 1976 geborene Regisseur thematisierte jenes für die chilenische Geschichte besonders wichtige Referendum von 1988 über die Fortsetzung der Diktatur oder den Übergang zur Demokratie, das Pinochet verlor. Der Streifen mit dem Titel „No!“ (2012) war der erste chilenische Film, der für den Oscar nominiert wurde. In dem Referendum ging es genauer um die Abstimmung, ob Pinochets Amtszeit um weitere acht Jahre verlängert werden sollte. Am Ende sprach sich eine Mehrheit von 56 Prozent dagegen aus. Ein weiterer Film von Larraín, „El Club“ (2015) handelt von einer Gruppe von Priestern in einem chilenischen Küstendorf, die dort zusammen mit einer Schwester in einer Wohngemeinschaft leben. Wegen schwerer Vergehen, unter anderem sexueller Missbrauch, politische Unbotmäßigkeit und Kindesraub, fristen sie eine Art Gefängnisdasein.

Die erste Generation, die nach der Diktatur aufgewachsen ist, und dazu ist auch der 1983 geborene Guzzoni zu zählen, hat die noch in den 1990er-Jahren lähmende Angst vor der Polizei und dem Militär inzwischen abgelegt. Die Schülerrebellion von 2006, wegen ihrer Schuluniformen auch Bewegung der Pinguine genannt, die Studierendenproteste von 2011 und 2012 sowie von 2015 und 2016 gegen das Bildungssystem – teure Privatschulen und -universitäten gegenüber herunter gesparten öffentlichen Einrichtungen – stellten das neoliberale Gesellschaftsmodell als solches in Frage. Dasselbe galt für die Protestbewegung von 2019/2020, als aufgrund der Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Transport zu massenhaftem Schwarzfahren aufgerufen wurde. Allgemein wollten die Aktivist*innen weder die damalige rechts-konservative Regierung noch die christdemokratische-sozialistische „Concertación“ (Koalition der Parteien für die Demokratie), die während der Transition lange regiert hatte.

Die Schere zwischen Marginalisierten und Privilegierten ist in den vergangenen Jahren weiter auseinandergegangen. Im Zuge dieser Bewegungen kam es auch vor etwa einem Jahr zu einem Wechsel an der Spitze des Staates: Gabriel Boric von der linken Partei Convergencia Social, 1986 in Punta Arenas in Feuerland geboren, ist seit März 2022 Staatsoberhaupt. Zwar wurde die neue Verfassung, welche die alte aus der Pinochet-Zeit ablösen sollte, nicht zuletzt aufgrund einer digitalen Schmutzkampagne seitens der Rechten abgelehnt. Die chilenische Politik und Gesellschaft befinden sich jedoch in einem seit dem Ende der Diktatur nicht dagewesenen Umbruch. Das chilenische Kino und andere Kulturformen des Landes, die lange Zeit unter einer radikalen Privatisierung zu leiden hatten, werden diesen Prozess begleiten und ihm Ausdruck verleihen. Man darf gespannt sein, wie sich das auf den Film auswirkt. Fernando Guzzonis „Blanquita“ wird auf jeden Fall nicht der letzte chilenische Kinostreifen sein, der für Furore sorgt.

Blanquita, im Utopia und am 5. März um 20 Uhr 
im Le Paris in Bettembourg.

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