In „Women Talking“ greift die kanadische Regisseurin Sarah Polley auf eine feministische Filmsprache zurück, um Figuren zu zeigen, die männliche Gewalt nicht mehr tatenlos hinnehmen wollen.
„Bleiben und kämpfen? Bleiben und nichts tun? Oder fliehen?“ In jeder von Gewalt geprägten Konstellation stellen sich den Opfern diese Optionen. Welche davon leichter umsetzbar beziehungsweise mit dem größeren Risiko verbunden ist, hängt von der jeweiligen Situation ab. Oder von der Perspektive. In „Women Talking“ stecken die Figuren in der gleichen Zwickmühle. Die Meinungen, wie damit umzugehen ist, gehen jedoch weit auseinander.
Der Plot des Films ist in einer abgeschiedenen religiösen Gemeinschaft angesiedelt. Über Jahre hinweg wurden die dort lebenden Frauen, Kinder und ein trans Mann immer wieder Opfer sexualisierter Gewalt. Die Verletzungen an den Oberschenkeln und das Blut auf den Laken, das sie regelmäßig beim Aufwachen bemerkten, seien imaginiert oder stammten von Dämonen, hatten ihnen die cis Männer der Gemeinschaft stets nahegelegt. Nachdem eine Frau ihren Aggressor jedoch erhaschen konnte, fliegt der Schwindel auf. Die Männer stellen die Opfer vor die Wahl: Entweder sie vergeben den Tätern, oder sie werden exkommuniziert und ihnen wird nach ihrem Tod der Zugang zum Himmel verwehrt. Der Film handelt von den zwei Tagen, in welchen es unweigerlich zu einer Entscheidung kommen muss.
Was folgt, ist im Leben der Protagonist*innen beispiellos. Es ist nicht nur das erste Mal, dass sie über das sprechen, was ihnen widerfahren ist, oder ihre Lebenssituation grundlegend in Frage stellen: Es ist auch das erste Mal, dass sie an einem demokratischen Abstimmungsprozess teilnehmen. Dessen Ergebnis: Alle zur Wahl stehenden Optionen erhalten gleich viele Stimmen. Eine kleine Gruppe – darunter Ona (Rooney Mara), Salome (Claire Foy) und Janz (Frances McDormand) – soll stellvertretend für den Rest eine endgültige Entscheidung treffen.
Für ihren ersten Film seit zehn Jahren bezieht sich Regisseurin und Drehbuchautorin Sarah Polley auf den gleichnamigen, 2018 erschienenen Roman der kanadischen Autorin Miriam Toews. Diese wiederum inspirierte sich an einer wahren Begebenheit: 2009 wurden acht Männer einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien wegen Betäubung und Vergewaltigung von mehr als 100 Frauen angeklagt. „Women Talking“ imaginiert eine Realität, in welcher diese Frauen sich zur Wehr setzten.
Gezeigt werden die Gewaltakte im Film nicht, ebenso wenig die Folgen der getroffenen Entscheidung. Stattdessen liegt der Fokus – der Titel deutet es bereits an – einzig auf der mal mehr, mal weniger hitzig geführten Debatte. Neben der Frage „gehen oder bleiben“ geht es um noch um viele weitere: Wie Worte dafür finden, was man bis eben nie auszusprechen wagte? Wie damit umgehen, dass Menschen Missbrauch sehr unterschiedlich verarbeiten? Bis zu welchem Alter sind männliche Kinder Opfer, ehe auch sie der Gruppe „cis Mann“ zugeordnet werden müssen? Der einzigen männlichen Figur im Film, August (Ben Whishaw), kommt eine wichtige, wenn auch hintergründige Funktion zu: Da die Frauen weder lesen noch schreiben können, soll er den Gesprächsverlauf schriftlich festhalten.
Realistisch?
Der Vorwurf mancher Kritiker*innen, der Film ähnele zu sehr einem Theaterstück, oder – noch schlimmer – einer dialektischer Erörterung, ist durchaus nachvollziehbar. Zwar werden die Dialogszenen immer wieder durch visuelle Elemente aufgelockert, diese fühlen sich zum Teil jedoch forciert an und tragen nicht dazu bei, uns andere Facetten der Figuren näherzubringen. Statt wirklich zum Leben zu erwachen, repräsentieren diese vielmehr unterschiedliche Positionen innerhalb feministischer Diskurse.
Mit einer Erörterung ist das Endergebnis dennoch nicht zu vergleichen, dazu geht es viel zu oft unsachlich zu: Manche Argumente wirken wenig durchdacht oder widersprüchlich, das Gespräch dreht sich immer wieder im Kreis, und trotz – oder gerade wegen – der Ernsthaftigkeit der Sachlage können sich die Figuren punktuell das Grinsen nicht verkneifen oder brechen gar in herzhaftes Lachen aus. Auch wenn es zunächst nicht so scheint: Polley erzählt aus einer optimistischen Haltung heraus.
Wie realistisch oder unrealistisch diese Situation letztlich ist, tut dabei nichts zur Sache. Polley greift sehr bewusst auf Aspekte des Theaters, feministischer Theorie und Philosophie zurück. Dieser Herangehensweise ist es zu verdanken, dass die Prämisse des Films zugleich sehr spezifisch und sehr allgemeingültig ist. Am Beispiel dieser Figuren geht es um das Privileg, frei denken, sich auszutauschen und eine gemeinsame Entscheidung treffen zu können. Und es geht um das kollektive Aufbegehren gegen strukturelle Unterdrückung.
„Women Talking“ ist nicht der erste Kinofilm, der diese Problematik thematisiert und dabei auf Figurentypen zurückgreift. Auch ein Film wie George Millers „Mad Max: Fury Road“ tat das, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Bei mehr als der Hälfte der Laufzeit handelt es sich um Actionszenen. In anderen Worten: Er greift auf eine männlich konnotierte Filmsprache zurück. Mit ihrem Film imaginiert Polley nicht nur eine Diskussionsrunde, die es so nie gab: Sie imaginiert auch eine Filmsprache, die ohne männlich geprägte Konventionen auskommt. In diesem Sinne ist ihr Film eine Antwort auf die Frage: Kann ein Film von patriarchaler Gewalt handeln, ohne dass entweder diese Gewalt, oder aber deren spektakuläre Vernichtung gezeigt wird? „Women Talking“ ist der Beweis: Ja, einen solchen Film kann es geben.
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