Cancel Culture: Eine Debatte, die keine ist

Luxemburgische Presseorgane sprechen sich für die Kunstfreiheit aus und verzichten dabei auf Faktenchecks und Kontextualisierungen. Das lässt tief blicken.

CC BY 2.0/Jon S – flickr.com

Der Mythos einer die Kunstfreiheit akut bedrohenden Verbotskultur macht auch vor Luxemburg nicht halt. Es geht die Angst um, dass auch hierzulande Künstler*innen und Kunstwerke der sogenannten Cancel Culture zum Opfer fallen könnten. In dieser Woche wurde auf gleich zwei Radiosendern vor einer solchen Bedrohung gewarnt. „Ass dat déi nei Weltoppenheet? Ass dat déi Toleranz, mat där mir aner Kulturen an eisen Alldag wëllen integréieren?“, fragt Journalist Guy Seyler auf RTL sarkastisch und wettert damit gegen Vorwürfe kultureller Aneignung, die immer wieder an Künstler*innen herangetragen würden.

In einem „Fräie Mikro“ auf 100komma7 wiederum ruft der Direktor des Escher Resistenzmuseums, Frank Schroeder, dazu auf, künstlerische Ausdrucksweisen zu schützen, auch extreme Standpunkte. „Wa Konscht a Kultur awer net méi däerfe kritesch sinn a provozéieren, da sinn déi eenzeg, déi sech bestätegt fillen a profitéieren, Extremisten, Nationalisten an Diktatoren“, so seine Einschätzung.

Vor einigen Wochen hatte zudem Marco Goetz im Tageblatt Kritik an der Cancel Culture geäußert. Gegen einzelne Kunstwerke und Künstler*innen gerichtete „Empörungswellen“ entstammten, so der Journalist, nicht nur dem rechten, sondern auch dem „linken politischen Sumpf“. „Wenn Bücher und Künstler aus dem Verkehr gezogen, Menschen kritisiert werden, weil sie nicht in das limitierte Weltbild einiger weniger passen, dann muss man Stopp sagen und ein Zeichen setzen für die Freiheit.“

Zentraler Anlass der jeweiligen Kommentare scheint die in Deutschland längst abgeflaute Winnetou-Debatte zu sein. Dass es bei dieser weder um Bücher von Karl May ging noch ein Verbot dieser gefordert wurde, interessiert dabei herzlich wenig.

Doch woher rührt das von den Kommentatoren geäußerte Unbehagen? Zum Teil wirkt es wie ein selbstgebautes Problem: Faschistisch motivierte Bücherverbote werden mit in den sozialen Netzwerken geäußerter Kritik an diskriminierender Sprache gleichgesetzt. Das wirkt zwar dramatisch, hat mit der Realität jedoch wenig zu tun.

Gleichzeitig wird eine „Empörungswelle“ heraufbeschworen, die der Kunstfreiheit schade, von „Erpressern“ und „empört Intoleranten“, die Verbote forderten, ist die Rede. Zitiert werden diese Erpresser*innen und Intoleranten – in ähnlichen Artikeln gerne auch als „Social-Media-Mob“ bezeichnet – in der Regel nicht, denn das würde ja heißen, dass man sich mit den einzelnen Meinungsäußerungen auseinandersetzen müsste. Dann würde man wahrscheinlich feststellen, dass da auch Kunstwissenschaftler*innen und Historiker*innen mitdiskutieren, und die Begriffe „Erpresser“ oder „Mob“ eigentlich unpassend sind. Dafür sind die einzelnen Meinungen viel zu divers und unkoordiniert. Bei denjenigen, die auf eine aggressive, beleidigende Ausdrucksweise zurückgreifen, dürfte es sich zudem um eine schwindende Minderheit handeln.

Der ausbleibende Faktencheck erschwert die Debatte, die die Autor*innen mit ihren polemischen Beiträgen eigentlich anstoßen könnten.

Manchmal bleibt die Identität derer, die besagte Verbote fordern, sogar noch diffuser. Es werde versucht, der Kunst einen Maulkorb anzulegen, heißt es in der Intro des 100komma7-Beitrags. Ein Totschlagargument, denn gegen die Passivform lässt sich tatsächlich noch weniger argumentieren als gegen die anonym gehaltenen „Erpresser“ und „Intoleranten“. Was genau ist hier mit „Maulkorb“ gemeint? Wer ist in dessen Besitz? Und mit welchen konkreten Konsequenzen? Frank Schroeder vermag diese Fragen in seinem Kommentar nicht einmal im Ansatz zu beantworten. Das wundert kaum: Nur durch diese mangelnde Nuancierung lässt sich das bedrohlich wirkende Konzept einer Cancel Culture heraufbeschwören.

Der „Likes“ sind sich die Autor*innen solcher Texte sicher. Kein Wunder: Einem Plädoyer für Kunst- und Meinungsfreiheit kann man eigentlich nur beipflichten. Dass diesem Plädoyer zuliebe Ressentiments geschürt und Komplexitäten glattgebügelt werden, wird da schon mal gerne ignoriert.

Eigentlich ist es ironisch: Das Thema Kunstfreiheit wird ernst genug genommen, um immer wieder darüber zu berichten, aber nicht ernst genug, um es gebührend zu recherchieren. Der Faktencheck, der bei jedem anderen Thema betrieben worden wäre, bleibt aus. Diese mangelnde Sorgfalt der Presseorgane ist nur so zu erklären, dass sie davon ausgehen, auch die Zuhörer*innen, Leser*innen und Kontrollinstanzen nähmen es mit der Kunst nicht so genau, um sich um Fakten zu scheren. Die schwammige Art und Weise wie dieses Thema in der Presse behandelt wird, illustriert also sehr gut den Stellenwert von Kunst in unserer Gesellschaft: Wichtig, aber soooo wichtig nun wieder auch nicht.

Der ausbleibende Faktencheck und der völlige Verzicht auf Zitate erschweren die Debatte, die die Autor*innen mit ihren polemischen Beiträgen eigentlich anstoßen könnten. Wo nämlich ansetzen mit der Reaktion auf Artikel, die in einem Abschnitt die Winnetou-Debatte, Sanna Marin, Rings of Power und Musiker*innen mit Rastafrisuren erwähnen? Genau: Mit Richtigstellungen und Kontextualisierung. Der Faktencheck fällt also auf diejenigen zurück, die an einer sachlichen Debatte zum Thema interessiert sind. Das Problem ist, dass die Debatte oft nicht über diese Ebene der Richtigstellungen hinausgeht. Wenn der eigentliche Kern der Problematik – die Demokratisierung der Rezensionskultur und gesellschaftliche Machtverschiebungen – zur Sprache kommt, hört oft schon niemand mehr zu.

Es steht jedem zu, sich in ein erfundenes Problem hineinzusteigern. Sobald man jedoch versucht, die Öffentlichkeit von der Existenz dieses Problems zu überzeugen – noch dazu durch Steuergelder finanziert – wird aus einer privaten Schwurbelei ein gesellschaftliches Problem. Von Personen in einer Autoritätsposition, wie etwa Journalist*innen und Museumsdirektor*innen, muss man erwarten, dass sie gegen solche Phänomene ankämpfen, statt sie zu fördern.


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