Die Gründe für das Scheitern des Verfassungstexts sind komplex (siehe Teil 1), doch die Politik blickt nach vorn. Die Vorbereitungen um einen zweiten, „besseren“ Text zu erarbeiten, laufen auf Hochtouren – und werfen viele Fragen auf.
Die linke Regierung hatte bereits vor dem Votum ihre „Verbesserungsvorschläge“ vorgestellt (Top- oder Flop-Referendum in Chile, woxx 1699) und das Gespräch mit der rechten Opposition gesucht. Es geht darum, unter Einbindung der Zivilgesellschaft einen neuen, breiten Kompromiss zu finden, wie man das im November 2019 geschafft hatte. Gabriel Boric war damals als Vertreter der größtenteils radikal linken Unabhängigen maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt. In einer Art politischer Aufbruchstimmung wurde er vergangenes Jahr mit den Stimmen dieser „neuen Linken“ und – in der zweiten Runde – denen der Sozialdemokratie zum Präsidenten gewählt.
In der gegenwärtigen Situation versucht Boric, sich der Mitte des politischen Spektrums anzunähern: Als Reaktion auf das Referendum wurde Anfang vergangener Woche das Kabinett umgebildet. ADie zentristischen Teile des Regierungsbündnisses wurden dabei auf Kosten der Unabhängigen gestärkt. Das lässt sich als Rechtsruck interpretieren – oder als Teil des Plans, durch Kompromissbereitschaft breite Mehrheiten für eine neue Verfassung und anstehende Reformen zu finden.
Vom Konsens zum Kompromiss?
Derzeit finden intensive politische Verhandlungen statt, an denen sich auch die gemäßigte Rechte beteiligt. Für sie ist es eine Gratwanderung, denn sie will nicht mehr, wie 2019, als Gegenkraft zu den Anliegen der Bevölkerung erscheinen. Doch ist sie auch dem Druck der rechten Ultras ausgesetzt, deren Kandidat sich bei den Wahlen 2021 vor dem gemäßigten Bewerber platzierte (Abkehr vom Erbe Pinochets, woxx 1664). Diese Gruppe will an der – eventuell reformierten – Verfassung Pinochets festhalten. Je nachdem, wie die Diskussionen weitergehen, verfestigt sich die jetzt vorherrschende Isolation der Ultras – oder wird von einer erneuten Rechts-Links-Polarisierung abgelöst. Denn auch auf der linken Seite gibt es Stimmen, die für Maximalforderungen eintreten und den Verhandlungsprozess als faulen Kompromiss kritisieren.
Ganz auf eine gewählte verfassungsgebende Versammlung oder ein Referendum zu verzichten, wird von den wenigsten Akteur*innen ins Auge gefasst – Chile geht hier einen ganz anderen Weg als Luxemburg oder auch die EU. Der Input von Expert*innen soll gleichwohl dabei helfen, einen neuen Verfassungstext zu formulieren – in welcher Form, darüber wird noch verhandelt. Ein weiteres Diskussionsthema ist die Zusammensetzung der zweiten verfassungsgebende Versammlung: Statt 154 „Convencionales“ sollen es diesmal nur 100 oder noch weniger sein und der Anteil der für Vertreter*innen der „Indígenas“ reservierten Sitze steht ebenfalls zur Disposition.
Weniger Demokratie wagen?
An der Wahl zur ersten Versammlung im Mai 2021 hatten viele „unabhängige“, oft fortschrittliche Kandidat*innen teilgenommen und ein Drittel der „Convencionales“ gestellt – was von vielen Analyst*innen im Nachhinein als problematisch für die Professionalität und Legitimität des Gremiums angesehen wird. Bei den Wahlen für die kommende Versammlung könnten die Unabhängigen gebeten werden, sich in das elitäre Parteiensystem einzuordnen, das seit jeher die Politik in Chile dominiert – und dem die Bevölkerung eigentlich misstraut.
Andererseits offeriert das Bündnis „Frente Amplio“, für das Boric kandidiert hatte, eine neue parteipolitische Heimat etwas abseits der etablierten Strukturen. Außerdem kann das Scheitern des Referendums als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Parteien, die innerhalb der verfassungsgebenden Versammlung eine marginale Rolle spielten, bei der politischen Entscheidungsfindung nicht einfach außen vor gelassen werden können. Beim nächsten Anlauf für eine neue Verfassung die Parteien stärker einzubeziehen dürfte dementsprechend Teil der Lösung sein. Aber nur, wenn diese nicht vergessen, dass sie auch und immer noch Teil des Problems sind.